eJournals Internationales Verkehrswesen 64/4

Internationales Verkehrswesen
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0020-9511
expert verlag Tübingen
10.24053/IV-2012-0093
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2012
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Mobilitätskosten 2030: Preisauftrieb setzt sich fort

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2012
Frank Hunsicker
Carsten Sommer
InnoZ und WVI hatten 2009 erstmals anhand eigens erstellter Modelle die relevanten Einlussfaktoren auf die Mobilitätskosten bis 2030 untersucht und ihre Entwicklung szenarisch abgeschätzt. Hier werden die Ergebnisse der aktualisierten Berechnung sowie die zugrunde liegenden wichtigsten Szenarioprämissen kurz vorgestellt. Basisjahr ist jeweils 2010.
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MOBILITÄT Wissenschaft Internationales Verkehrswesen (64) 4 | 2012 54 D ie in immer kürzeren Abständen auflammende Debatte um steigende Benzin- und Energiepreise lässt in Teilen der Öfentlichkeit allmählich die Erkenntnis reifen, dass es sich dabei nicht nur um ein vorübergehendes Phänomen handeln könnte. Aktuelle Ölpreisszenarien, unterlassene Investitionen in die Verkehrsinfrastruktur, die Diskussion um nutzerinanzierte Straßen oder die zusehends eingeengten Spielräume bei den öffentlichen Haushalten deuten auf ein langfristiges Ansteigen der Kosten für die Nutzer aller motorisierten Verkehrsmittel hin. Einer aktuellen Befragung zufolge schränkte 2011 knapp ein Viertel der Deutschen ihre Mobilität aus Kostengründen mehr oder weniger ein. 2 Damit bekommt die Thematik allmählich eine soziale Komponente, denn langfristig werden die durchschnittlichen Mobilitätsbudgets der privaten Haushalte bei nur moderaten Steigerungen der verfügbaren Einkommen und stetig steigenden Ausgaben für Gesundheits- und Altersvorsorge im besten Fall stagnieren. Motorisierter Individualverkehr (MIV) 3 Bei den MIV-Nutzerkosten werden zum einen die Vollkosten und zum anderen die sog. Out-ofpocket-Kosten von Pkw mit Verbrennungsmotor betrachtet. Während erstere alle mit Anschaffung, Unterhalt und Betrieb eines Pkw in Verbindung stehenden Kosten subsummieren - also auch den jährlichen Wertverlust -, beziehen sich letztere ausschließlich auf die vom Autofahrer wahrgenommenen Kosten, v. a. Kraftstof sowie Park- und Straßenbenutzungsgebühren. Beispielhaft werden Fahrzeugmodelle aus verschiedenen Kategorien sowie teils für unterschiedliche Antriebsaggregate betrachtet. 4 Zunächst werden Annahmen zur weiteren Entwicklung grundlegender Kostenkomponenten wie Steuern, Versicherungen, Plegeaufwand und Durchschnittsverbrauch getrofen. Diese Größen lassen sich mit vergleichsweise geringer Unsicherheit unter logischen Annahmen in die Zukunft projizieren. Die insbesondere bei Betrachtung der Out-of-pocket-Kosten sehr wichtige Komponente der Kraftstokosten wird anhand eines Modells über die mögliche Entwicklung der Rohölpreise bis 2030 abgeschätzt. Neben einem für am wahrscheinlichsten gehaltenen Basisszenario wurden zwei weitere Szenarien entworfen, die jeweils den unteren und oberen Rand eines Korridors bilden. Diesen Szenarien wurden jeweils schlüssige Ausprägungen bei der Entwicklung von durchschnittlicher Jahresfahrleistung und Pkw-Besetzungsgrad zugeordnet (vgl. Tabelle 1). Dazu kommt für alle Szenarien die Annahme, dass ab dem Jahr 2015 auf Bundesautobahnen und fünf Jahre später auch auf Bundesstraßen Benutzungsgebühren erhoben werden. Diese orientieren sich am Prinzip der Vollkostenrechnung und betragen im Modell etwa 4 ct/ km auf den Autobahnen im Jahr 2030. Öfentlicher Personennahverkehr (ÖPnV) Für die Unternehmen des ÖPNV wird zunächst die voraussichtliche Entwicklung der Betriebskosten abgeschätzt. Dabei unterscheidet man Mobilitätskosten 2030: Preisauftrieb setzt sich fort InnoZ und WVI hatten 2009 erstmals anhand eigens erstellter Modelle die relevanten Einlussfaktoren auf die Mobilitätskosten bis 2030 untersucht und ihre Entwicklung szenarisch abgeschätzt. Hier werden die Ergebnisse der aktualisierten Berechnung sowie die zugrunde liegenden wichtigsten Szenarioprämissen kurz vorgestellt. 1 Basisjahr ist jeweils 2010. Die Autoren: frank Hunsicker, Carsten sommer Preise Lebenshaltung kraftstofpreis (real) speziische fahrleistung Pkw speziischer Verbrauch Pkw- Maut Besetzungsgrad % p.a. % p.a. % p.a. Liter/ 100km ct/ km P/ Pkw Basis 2011 - 16: 2,1% p.a. 1,5 Diesel - 0,5 Otto - 0,3 Diesel: 6,8 (2010) 5,2 (2030) 2030: 4,2 (BAB) 1,50 (2010) 1,50 (2030) Low 0,9 Diesel - 0,4 Otto - 0,2 1,50 (2010) 1,45 (2030) High 2016 - 30: 1,5% p.a. 2,1 Diesel - 0,8 Otto - 0,5 Otto: 7,9 (2010) 5,4 (2030) 6,9 (Bundesstraßen) 1,50 (2010) 1,60 (2030) Tab. 1: Gegenüberstellung der Hauptannahmen für die MIV-Szenarien 2010 - 2030 Internationales Verkehrswesen (64) 4 | 2012 55 MOBILITÄT Wissenschaft und aus dem demograisch bedingten Rückgang der Verkehrsleistung lässt sich ein mittlerer speziischer Erlös berechnen, der analog zum SPNV als Maß für die Mobilitätskosten gilt. Ergebnisse und Vergleich nach Verkehrsträgern Den hier vorgestellten Berechnungen liegt eine Reihe von Annahmen zugrunde, die in diesem Rahmen nicht ausführlich dargelegt werden können. Es ist jedoch trotz der Vielzahl von Setzungen als sehr wahrscheinlich anzusehen, dass Autofahrer und Nutzer des ÖPNV in Zukunft mit weiter stark steigenden Mobilitätskosten konfrontiert sein werden. In Abbildung-2 sind die Bandbreiten möglicher Nutzerkostensteigerungen im Vergleich visualisiert; sie korrespondieren an ihren Enden mit den Extremwerten der skizzierten Szenarien. Hierbei sind die methodisch bedingten, grundsätzlich verschiedenen Herangehensweisen bei der Ermittlung der Mobilitätskosten von MIV und ÖPNV zu berücksichtigen. Energiekosten, Materialkosten und Fremdleistungen, Personalkosten, Kapitalkosten (Abschreibungen und Zinsen) sowie sonstige Kosten. Auf Basis veröfentlichter Indexreihen lässt sich die Preisentwicklung einzelner Komponenten fortschreiben, sofern Plausibilitätsprüfungen für die einzelnen Kostenarten keine Anpassung erforderlich machen. Je nach Unternehmensgruppe sind dabei unterschiedliche Indexreihen mit unterschiedlichen Gewichten berücksichtigt. Bei den Energiekosten wird darüber hinaus auf speziische Preisprognosen zurückgegrifen. Im ÖPNV lassen sich die Betriebskosten in aller Regel nicht durch die Fahrgeldeinnahmen allein decken; daher sind zusätzlich öfentliche Zuschüsse notwendig. Als Mobilitätskosten werden die Fahrpreise deiniert. Sie steigen, wenn höhere Betriebskosten bei gegebenem Fahrgastaufkommen nicht durch erhöhte Produktivität oder zusätzliche öfentliche Zuschüsse kompensiert werden können. schienenpersonennahverkehr (sPnV) Neben den zukünftig entstehenden Betriebskosten werden, ebenfalls szenarisch, mögliche Entwicklungslinien der Ertrags- und Finanzierungsbestandteile des SPNV - v. a. der Bestellerentgelte - untersucht. Deren Grundlage, die Regionalisierungsmittel, sind nur bis 2014 ixiert. Auch hier werden neben einer Basisvariante zwei weitere Szenarien zur langfristigen Entwicklung dieses Finanzierungsinstruments entworfen. Aus den daraus abgeleiteten, zur Kostendeckung notwendigen Fahrgeldeinnahmen wird unter Berücksichtigung einer angenommenen Verkehrsleistung ein mittlerer speziischer Erlös (Erlös/ Pkm) berechnet, der als Maß für die Entwicklung der Mobilitätskosten bis 2030 herangezogen wird. In Abbildung- 1 werden die zugrunde liegenden Varianten verglichen. Vor dem Hintergrund der beschränkten öfentlichen Haushaltsmittel ist ab 2015 im besten Fall mit einem Inlationsausgleich zu rechnen; im Worst Case sind starke inanzielle Einschnitte unterstellt. Öfentlicher straßenpersonenverkehr (ÖsPV) Analog zu den Mobilitätskosten für die SPNV- Nutzung werden zunächst die zukünftigen Betriebskosten für unterschiedliche Unternehmensgruppen abgeschätzt (ländlicher Busverkehr, städtischer Busverkehr, großstädtischer Straßenbahn- und Busverkehr). Unter Berücksichtigung eines angenommenen Kostendeckungsgrades lassen sich daraus die Fahrgeldeinnahmen ermitteln, die zur Deckung der Unternehmenskosten notwendig sind. Aufgrund der inanziellen Zwänge der meist kommunalen Eigentümer der Verkehrsunternehmen ist auch zukünftig von einem steigenden Kostendeckungsgrad im ÖSPV auszugehen - die Höhe der Steigerung wurde dabei in zwei Szenarien variiert. Aus den notwendigen Fahrgeldeinnahmen Abb. 1: Gegenüberstellung der Varianten zur Entwicklung der Regionalisierungsmittel 2010 - 2030 MOBILITÄT Wissenschaft Internationales Verkehrswesen (64) 4 | 2012 56 schwinden droht und das Image des Automobils durch neue Antriebsformen seinen „Umweltmalus“ allmählich verlieren könnte. ■ 1 vgl. Hunsicker/ Sommer (2009). Eine ausführliche Darstellung der aktuellen Ergebnisse wird vsl. im Sommer 2012 in der Reihe „InnoZ-Bausteine“ veröfentlicht. Diese wird um den Schienenpersonenfernverkehr ergänzt sein. 2 Forsa (2012) 3 Die Angaben zu den Kostenveränderungen werden in der Folge grundsätzlich nominal ausgewiesen. 4 Kleinwagen: VW Polo 1.2 Super Trendline; Kompaktklasse: VW Golf Super/ TDI 1.6 Trendline; Obere Mittelklasse: BMW 525d 5 Die Autoren beziehen sich auf diverse Quellen für Ist- und Prognosedaten, u. a. diverse indizes des stat. Bundesamtes oder VdVstatistiken bzw. eigene Quellen; diese werden in einer gesonderten Publikation (s. Fußnote 1) ausführlich dargestellt. Inlationsbereinigt würden gemäß unseren Berechnungen und den gesetzten Prämissen die Out-of-pocket-Kosten pro Pkm im MIV bis 2030 je nach Szenario um bis zu 54 % steigen, abhängig v. a. vom Umfang der Preissteigerungen beim Rohöl. Für den ÖPNV sind zum einen die den Verkehrsunternehmen entstehenden Kosten abgebildet (sie steigen real um 6 bzw. 14 %), zum anderen das Spektrum möglicher Mobilitätskostensteigerungen. Es spiegelt die jeweilige Höhe jener eingeschränkten öfentlichen Zahlungen wider, die durch Fahrpreiserhöhungen bei Bus und Bahn im Nahverkehr kompensiert werden müssten und erreicht einen Extremwert von real 88 % beim Worst-Case-Szenario des SPNV. Die Wettbewerbsfähigkeit des klassischen ÖPNV ist jedoch nicht nur eng an die Bereitschaft und den Handlungsspielraum der öfentlichen Hand gekoppelt, hinreichende inanzielle Mittel zur Verfügung zu stellen, sondern auch an die Fähigkeit der Branche, weitere Kostensenkungspotenziale zu verorten und durch Innovationen, z. B. mittels intermodaler Konzepte, neue Fahrgastpotenziale zu erschließen. Dies scheint mehr denn je notwendig zu sein in Zeiten, in denen die Auslastung jenseits der urbanen Zentren zu Abb. 2: Mögliche Entwicklung Mobilitätskosten in Bandbreiten 2010 - 2030 LITEraTur 5 FoRsa (2012): Wo sparen die deutschen beim Verkehr? http: / / www.allianzpro-schiene.de/ presse/ pressemitteilungen/ 2012/ 008-bezahlbare-mobilitaet/ umfrage-forsa-bezahlbare-mobilitaet-2012.pdf; Zugrif: 19.04.2012 HUNSICKER, F., SOMMER, C. (2009): Mobilitätskosten 2030: Autofahren und ÖPNV-Nutzung werden teurer. In: Internationales Verkehrswesen (61), Heft 10/ 2009. Hamburg Carsten sommer, Prof. Dr.-Ing. Universität Kassel Fachgebiet Verkehrsplanung und Verkehrssysteme c.sommer@uni-kassel.de frank Hunsicker, Dipl.-Geogr. Fachgebietsleiter „Mobilität im Wandel“ Innovationszentrum für Mobilität und gesellschaftlichen Wandel (InnoZ) GmbH Berlin frank.hunsicker@innoz.de