eJournals Internationales Verkehrswesen 64/5

Internationales Verkehrswesen
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0020-9511
expert verlag Tübingen
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Je mehr Fahrzeuge ausgerüstet sind, desto sicherer

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Kerstin Zapp
Gerhard Steiger
Laut UNO-Angaben kommen jedes Jahr weltweit rund 1,3 Mio. Menschen bei Verkehrsunfällen ums Leben, etwa 50 Mio. werden verletzt. 90 % aller Unfälle entstehen durch vorangegangene Fahrfehler. Die Daten der internationalen Unfallforschung sind auch Basis für die Entwicklung wirksamer Fahrerassistenzsysteme. Welches System wie ausgereift ist und wo die Zukunft liegt, hat Kerstin Zapp mit Gerhard Steiger, dem Vorsitzenden des Bosch-Geschäftsbereichs Chassis Systems Control, besprochen.
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TecHNOLOGIe Interview Gerhard Steiger Internationales Verkehrswesen (64) 5 | 2012 58 Je mehr Fahrzeuge ausgerüstet sind, desto sicherer Laut UNO-Angaben kommen jedes Jahr weltweit rund 1,3 Mio. Menschen bei Verkehrsunfällen ums Leben, etwa 50 Mio. werden verletzt. 90 % aller Unfälle entstehen durch vorangegangene Fahrfehler. Die Daten der internationalen Unfallforschung sind auch Basis für die Entwicklung wirksamer Fahrerassistenzsysteme. Welches System wie ausgereift ist und wo die Zukunft liegt, hat Kerstin Zapp mit Gerhard Steiger, dem Vorsitzenden des Bosch-Geschäftsbereichs Chassis Systems Control, besprochen. herr Steiger, innerhalb von zehn Jahren könnte laut uno-Bericht die Zahl der verkehrstoten auf weltweit 1,9 Mio. Menschen jährlich klettern - maßgeblich getrieben durch den stark wachsenden Straßenverkehr in Schwellenländern. Ist diese entwicklung durch Fahrerassistenzsysteme aufzuhalten? Damit diese schreckliche Prognose nicht Realität wird, sind alle Beteiligten gefordert: die Politik, die Verbände, die Automobilindustrie und auch die Autofahrer selbst. Assistenzsysteme können einen wichtigen Beitrag leisten. Sie helfen dem Fahrer, kritische Situationen früher zu erkennen und sie besser zu meistern. Unfälle lassen sich so verhindern oder zumindest abschwächen. Systeme wie das Elektronische Stabilitätsprogramm ESP konnten die Zahl der Verkehrstoten bereits deutlich reduzieren, und künftige Funktionen werden einen weiteren bedeutenden Beitrag zur Verkehrssicherheit leisten - vorausgesetzt, möglichst viele Fahrzeuge werden damit ausgestattet. aber die Systeme sind nicht billig, werden bisher kaum für kleine und günstige Fahrzeuge angeboten und in den Schwellenländern ist die Kaufkraft geringer als in der westlichen welt. wie wird dieser Konlikt gelöst? In den vergangenen Jahren haben Hersteller und Zulieferer die Systeme stetig weiterentwickelt. Sie wurden einerseits immer leistungsfähiger und andererseits immer günstiger. In den etablierten Märkten wird daher eine immer größere Zahl an Funktionen in immer kleineren Fahrzeugklassen angeboten - und dieser Trend wird sich fortsetzen. Wir bei Bosch haben das Ziel „Sicherheit für alle“. Das heißt, wir entwickeln nicht nur neue Assistenzsysteme und Funktionen, sondern treiben Innovationen voran, die die bestehenden Systeme kostengünstiger machen und so den Einsatz auch in preisgünstigen Fahrzeugen in Schwellenländern ermöglichen. So haben wir für Länder wie Brasilien und Indien kostengünstige Antiblockiersysteme und Airbag-Steuergeräte entwickelt, die wir auch großteils vor Ort fertigen. Im kommenden Jahr 2013 bringen wir beispielsweise einen kostengünstigen Mittelbereichs-Radarsensor auf den Markt, der sich insbesondere für den Einsatz in der Mittel- und Kompaktklasse eignet. Darüber hinaus lassen sich Sensoren oft mehrfach verwenden: Multifunktions-Kamerasysteme etwa ermöglichen in der Regel bis zu vier Funktionen wie Verkehrszeichenerkennung, eine intelligente Lichtsteuerung, Spurhaltesysteme und eine Objekterfassung, die die Adaptive Cruise Control (ACC) -Funktion unterstützt. welche techniken würden Sie als Basisausstattung bezeichnen, welche als „nice to have“? Zahlreiche internationale Studien belegen, dass ESP der wichtigste Lebensretter nach dem Sicherheitsgurt ist. Bei Motorrädern sehen wir das Antiblockiersystem an erster Stelle. Zu den Systemen mit einem nachgewiesenen Sicherheitsnutzen können auch das vorausschauende Notbremssystem und die Spurhaltesysteme hinzugerechnet werden. Aber auch komfortsteigernde Assistenzsysteme wie zum Beispiel das ACC Stop&Go bieten dem Autofahrer sinnvolle Unterstützung. Mehr als 75 Mio. eSP-Systeme hat Bosch seit dem Serienstart 1995 gefertigt und damit vor allem Schleuderunfälle verhindert. hat das eSP noch verbesserungspotenzial, und wie sehen die vernetzungsmöglichkeiten aus? Weltweit hat erst jeder zweite neu produzierte Pkw den Schleuderschutz an Bord. Allein in einer steigenden Ausstattungsrate liegt also noch ein ungeheures Potenzial. Die Vernetzung des ESP mit Umfeldsensoren macht zudem neue Sicherheitsfunktionen möglich. Mithilfe von Radarsensoren lassen sich beispielsweise Funktionen wie ACC und der vorausschauende Notbremsassistent realisieren. Videosensoren sind Teil von Nachtsicht- und Spurhaltesystemen, einer intelligenten Lichtsteuerung und einer Verkehrszeichenerkennung. Ultraschallsensoren wiederum kommen beim automatisierten Einparken zum Einsatz. Das eSP muss ab 2014 innerhalb der eu in alle neufahrzeuge eingebaut werden, in den uSa ist es schon Plicht. Bei Lkw und Bussen ab 3,5 t sind zusätzlich von 2015 an Spurhalte- und notbremsassistenz für neuzulassungen bindend. Gibt es die Möglichkeit, ältere Fahrzeuge nachzurüsten? Die Antwort hierzu ist leider Nein. ESP kann nicht nachgerüstet werden. Um den Fahrer in allen Situationen bestmöglich zu unterstützen, wird das Eingrifsverhalten des Systems sehr aufwändig an das jeweilige Fahrzeugmodell angepasst. Faktoren wie Fahrzeuggewicht, Schwerpunktlage, Radstand und Motorleistung werden unter anderem berücksichtigt - und nicht zuletzt das vom Automobilhersteller gewünschte modellspeziische Fahrverhalten. Dieser Aufwand ist nachträglich nicht mehr ver- Internationales Verkehrswesen (64) 5 | 2012 59 tretbar. Dies gilt grundsätzlich auch für alle leistungsfähigeren Assistenzsysteme. Ist die weiterentwicklung der assistenz- und Sicherheitssysteme auch der wachsenden Mobilität im alter geschuldet? Fahrerassistenzsysteme greifen diese Bedürfnisse auf und unterstützen und entlasten den Fahrer im zunehmenden Verkehrsgeschehen. Aber nicht nur ältere, auch jüngere Menschen wissen Komfort und Sicherheit durchaus zu schätzen. Stichwort Menschen: einige fühlen sich nicht entlastet, sondern bevormundet. wie weit entscheidet der Fahrer noch allein? Die heutigen Sicherheitssysteme bevormunden den Fahrer nicht, sondern unterstützen in kritischen Situationen - so greift ESP erst ein, wenn das Fahrzeug zu schleudern droht. Ein weiteres Beispiel: Beim vorausschauenden Notbremssystem kann der Fahrer jederzeit durch Lenken oder Gasgeben die Fahrverantwortung wieder übernehmen und das System übersteuern. ein anderer Diskussionspunkt ist, dass einige techniken noch nicht ausgereift sein sollen. wo trift das zu? In Serie beindliche Systeme sind vielfach erprobt - in Fahrsimulatoren und in umfangreichen Feldversuchen. Aber natürlich gibt es Projekte, an denen wir derzeit arbeiten und die erst in den kommenden Jahren auf den Markt kommen. Ein Beispiel ist die Objekterkennung. Sie ist eine große Herausforderung für die Entwickler, es wurde aber bereits Erhebliches geleistet. So ließt die Fußgängererkennung zunehmend in Serienfunktionen ein - beispielsweise in unser Nachtsichtsystem. Auch die Nutzung von Navigationsdaten zur Warnung vor scharfen Kurven steht in den Startlöchern. An der Kommunikation des Autos mit anderen Fahrzeugen und der Infrastruktur arbeitet die ganze Branche derzeit sehr intensiv. Bosch beteiligt sich unter anderem am Feldversuch „simTD“ im Großraum Frankfurt. Eine maßgebliche Verbreitung von Funktionen, die der Sicherheit dienen und den Verkehrsluss optimieren werden, ist aber erst in einigen Jahren zu erwarten. um wie viel geringer ist heute schon die Gefahr, an einem unfall beteiligt zu sein, für Fahrzeuge, die mit Systemen wie eSP, abstandsregler und Spurhalteassistent ausgestattet sind? Nutzenanalysen für Sicherheitssysteme sind sehr komplex, und bisherige Untersuchungen konzentrieren sich immer auf eine speziische Funktion. Ein besonders großes Plus an Sicherheit bietet zahlreichen internationalen Studien zufolge das ESP. Wären alle Fahrzeuge damit ausgestattet, ließen sich 80 % aller Schleuderunfälle verhindern. Eigene Auswertungen der GIDAS- Datenbank zeigen, dass eine durchgängige Ausrüstung mit Spurhalteassistenten jeden vierten relevanten Unfall in Deutschland verhindern könnte. Das entspricht mehr als 4200 Unfällen mit Personenschaden. Die gleichen Daten lassen auch den Schluss zu, dass ein vorausschauendes Notbremssystem die Zahl der Aufahrunfälle mit Personenschaden in Deutschland um bis zu 72 % senken würde. Notbremssysteme für Geschwindigkeiten unter 30 km/ h könnten dem Allianz-Zentrum für Technik zufolge jährlich über 500 000 Bagatellunfälle allein in Deutschland verhindern. herr Steiger, vielen Dank für dieses Gespräch. Gerhard Steiger seit dem 1. Januar 2012 Vorsitzender des Bereichsvorstands des geschäftsbereichs „Chassis Systems Control“ im Unternehmensbereich Kraftfahrzeugtechnik der Robert Bosch gmbH. ZUR PeRSON Im Jahr 2011 gab die Robert Bosch gmbH rund 4,2-Mrd.-EUR für Forschung und Entwicklung aus und meldete weltweit mehr als 4100-Patente an. Das Unternehmen hat unter anderem das Elektronische Stabilitätsprogramm (ESP) entwickelt und bereits 1978 das erste elektronisch gesteuerte Antiblockiersystem (ABS) auf den Markt gebracht. Der Bereich Kraftfahrzeugtechnik ist der größte der Bosch-Gruppe und trug 2011 mehr als 30-Mrd.-EUR oder 59 % zum Umsatz bei. Das Unternehmen ist Partner der Informationskampagne „Bester Beifahrer“ des Deutschen Verkehrssicherheitsrats (DVR). ZUM UNTeRNeHMeN ■ Fotos: Bosch