eJournals Internationales Verkehrswesen 64/6

Internationales Verkehrswesen
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0020-9511
expert verlag Tübingen
10.24053/IV-2012-0134
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2012
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»Online-Handel: Beispiel für Problemverdrängung«

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Gerd Aberle
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KURZ + KRITISCH Gerd Aberle Internationales Verkehrswesen (64) 6 | 2012 11 D er Online-Handel boomt. Kurier-, Express- und Paketunternehmen (KEP-Branche) konnten 2011 ihren Umsatz gegenüber dem Vorjahr um 5 % auf 17,8-Mrd.-EUR steigern und damit das Ergebnis des Vorkrisenjahres 2007 noch übertrefen. 2,45- Mrd. Sendungen wurden 2011 abgewickelt; den höchsten Umsatzanteil mit 44 % (7,8- Mrd.- EUR) erzielten die Paketdienste, gefolgt vom Expressgeschäft mit 22 % (3,85- Mrd.- EUR). Beim Produktenanteil rangieren die Pakete mit 80 % (1,16-Mrd. Sendungen) dominant vor den Express- und Kurierleistungen. Wichtige Segmente des Handels beabsichtigen, das internetbasierte Online-Geschäft mit Endkunden und damit auch den Paketversand in Zukunft erheblich zu steigern, um dem Trend im Einkaufsverhalten im Konsumsektor entsprechen zu können. Neben Büchern, Elektro- und Textilartikeln laufen verstärkt Versuche, auch Teile des Lebensmittelverkaufs über Online-Bestellungen durch Hauszustellung attraktiv für den Besteller zu gestalten. Aufgrund des erwarteten internetbasierten Paketbooms investiert die Deutsche Bundespost für ihre Tochter DHL nahe Frankfurt/ Main 750- Mio.- EUR in das zukünftig größte deutsche Paketzentrum. Auf der anderen Seite leidet zunehmend der stationäre Handel. Davon zeugen Umsatzrückgänge und Ladenschließungen, insbesondere feststellbar im Buch- und Textileinzelhandel. Die Attraktivität der Innenstädte sinkt. Sie werden von zwei Seiten bedrängt: den großen peripheren Einkaufszentren und zusätzlich durch den Online-Handel. Innenstädte mittlerer Größe leiden und drohen sukzessive zu veröden. Hinzu tritt eine gravierende logistische und transportspeziische Problematik. Individuelles Einkaufen der Endverbraucher im stationären Handel mit Eigentransport der Waren wird im Online-Geschäftsmodell durch gewerbliche Transportleistungen ersetzt. Dies erfreut die KEP-Industrie und ist Grundlage ihrer sehr positiven Zukunftserwartungen. Nicht berücksichtigt werden dabei jedoch die erheblichen Negativefekte wirtschaftlicher und sozialer, aber auch ökologischer Art. B2C-Transportleistungen zeichnen sich, im Unterschied zu B2B- Transporten, durch hohe Quoten des Nichtantrefens der Empfänger mit dem Erfordernis von Zweit- und Drittzustellungsversu- »Es besteht kein Grund zum Jubel über die prognostizierte Entwicklung im Online-Handel und das damit verbundene Wachstum des Paketaukommens.« Prof. Gerd Aberle zu Themen der Verkehrsbranche »Online-Handel: Beispiel für Problemverdrängung« chen aus. Ebenfalls sehr hoch ist die Retourenquote, die etwa bei Textilien 50 % erreicht und zusätzliche Transporte verlangt. Die Zustellfahrzeuge müssen in den Städten mangels Parkmöglichkeiten häuig in der zweiten Reihe halten und verstärken hierdurch die Stausituationen. Mit niedrigen, häuig sogar extrem geringen Fahrerentgelten, die teilweise auch auf Basis der erfolgreich (! ) ausgelieferten Pakete bemessen werden, und sehr engen vorgegebenen Zeitfenstern sind die Fahrer faktisch zu Geschwindigkeitsübertretungen gezwungen. Dies verdeutlicht sich auch auf den Autobahnen und in gefährlichen Fahrmanövern, wie etwa Überholvorgängen in Baustellen trotz Überholverboten bei Fahrstreifenbreiten von nur 2,00 bzw. 2,10 m. Fakt ist, dass die dem Online-Kunden in Rechnung gestellten Zustellentgelte bis zu 50 % unter den tatsächlichen Kosten liegen. Diese Subventionierung der Zustellungen im B2C-Segment ist wesentlich mitverantwortlich für die sozialen Missstände in weiten Teilen der KEP-Industrie und die hohen externen Kosten zulasten der Gesellschaft. Der Online-Handel wird künstlich forciert. Es besteht daher kein Grund zum Jubel über die prognostizierte Entwicklung im Online-Handel und das damit verbundene Wachstum des Paketaukommens. Allerdings ist es für die Politik und große Teile der Wirtschaft ofensichtlich nicht opportun, die dunkle Kehrseite des angeblichen Online-Fortschritts im Konsumentenhandel bewusst und entscheidungsrelevant zur Kenntnis zu nehmen.