eJournals Internationales Verkehrswesen 64/6

Internationales Verkehrswesen
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0020-9511
expert verlag Tübingen
10.24053/IV-2012-0139
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Chancen und Risiken des russischen Logistikmarkts

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Dieter Bock
In kaum einem Land sind die Gegensätze so groß wie in Russland. Immer mehr Unternehmen engagieren sich im boomenden Logistiksektor. Der Eintritt in diesen Markt will jedoch gut vorbereitet sein, um das richtige Leistungsprofil, die richtige Region, den richtigen Zeitpunkt und die richtigen Partner zu definieren.
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Internationales Verkehrswesen (64) 6 | 2012 24 Chancen und Risiken des russischen Logistikmarkts In kaum einem Land sind die Gegensätze so groß wie in Russland. Immer mehr Unternehmen engagieren sich im boomenden Logistiksektor. Der Eintritt in diesen Markt will jedoch gut vorbereitet sein, um das richtige Leistungsproil, die richtige Region, den richtigen Zeitpunkt und die richtigen Partner zu deinieren. R ussland wird durch die politische und gesellschaftliche Entwicklung der vergangenen Jahre in Deutschland oftmals negativ wahrgenommen. Dies führte in weiten Teilen der Bevölkerung zu einer distanzierten Skepsis. In fachlicher Hinsicht besteht jedoch reger Austausch. Allein in diesem Sommer fanden unter anderem der Deutsch-Russische Logistikkongress in Moskau sowie der Jahreskongress Russland in Berlin statt. Beide haben zu einem besseren gegenseitigen Verständnis des individuellen Status quo beitragen und die Herausforderungen der Zukunft benannt. Dieser Artikel entstand aus den Erkenntnissen beider Kongresse. Er soll ein möglichst umfassendes Bild Russlands mit starkem Fokus auf die Logistik zeichnen. Politisch-ökonomische Situation Russlands Ein guter Gradmesser zur Einschätzung der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit, und der damit oftmals verbundenen politischen Stabilität, ist die Staatsverschuldung. So zeigt sich hier ein vermeintlicher Widerspruch, wenn man die Staaten der Euro-Zone mit der Russischen Föderation vergleicht. Nach Angaben des International Monetary Fund betrug die Staatsverschuldung in der Euro-Zone ca. 87 % des Bruttoinlandsproduktes per 31.12.2011. Die Russische Föderation wies zum gleichen Stichtag 9,6% aus. Dieser Anteil ist umso beeindruckender, als dass eine stetige Verminderung des Verschuldungsgrades seit 2002 zu beobachten ist. Von einem Niveau von über 40 % wurde, mit Ausnahme des Krisenjahre 2009 Der Autor: Dieter Bock LOGISTIK Russland »Wir brauchen eine neue Wirtschaft, mit konkurrenzfähiger Industrie und Infrastruktur, einem entwickelten Dienstleistungssektor und einer effektiven Landwirtschaft.« (Wladimir Putin, Präsident der Russischen Föderation) Foto: D. Azovtsev Internationales Verkehrswesen (64) 6 | 2012 25 und 2010, in denen ein leichter Anstieg zu verzeichnen war, die Staatsverschuldung kontinuierlich auf das oben genannte Niveau zurückgeführt. Im westlichen Europa wird fälschlicherweise vermutet das das steigende Wohlstandsniveau Russlands nur einer kleinen Oberschicht zu Gute kommt. Betrachtet man sich jedoch die Zahlen, die Dr. Lenga, Generalbevollmächtigter der Knauf Gruppe für Russland und die GUS Staaten, offenbart sich ein diferenzierteres Bild. Im Gegensatz zu den meisten BRIC-Staaten verfügen knapp über 50 % der Haushalte über ein Einkommen zwischen TEUR- 15,0 und TEUR-50,0. Berücksichtigt man zusätzlich den Anteil der Einkommen, die über TEUR-50,0 liegen, so lassen sich insgesamt 2/ 3 der russischen Haushalte einer Mittel- und Oberschicht zuordnen (s. Abb.- 1). Wie bereits oben erwähnt ist eine breite Mittel- und Oberschicht eine wesentliche Grundlage für eine funktionierende Demokratie. Dieser breit verbreitete Wohlstand ist unter anderem auch ein Grund warum die „Regierung Putin“ als so erfolgreich beurteilt wird und regelmäßig mit einem hohen Stimmenanteil die Wahlen gewinnt. Infrastruktur Russlands Ein verkehrsträgerübergreifender integrierter Ansatz zum Ausbau der Infrastruktur ist zurzeit, unter anderem wegen einer großen Anzahl unterschiedlicher Akteure, nur sehr schwer darstellbar. Staatsregierung, Regionen, Gouvernements und Oblaste sowie die russische Staatsbahn (RZD) entwickeln eigene Konzepte, die im Wesentlichen an die eigenen Interessen angepasst sind. So werden weder die Wasserstraßen noch die vorhandenen großen Transportmagistralen nicht in die Planung integriert. Nach Kirill Vlasov von STS Logistics ist die gegenwärtige Situation der Infrastrukturmaßnahmen gekennzeichnet durch: 1. Privatinvestitionen in lokale Objekte 2. Kurze Amortisationszeiten 3. Hohe Preise für Infrastrukturnutzung. Diese Punkte bezog er ausdrücklich auch auf quasi „öfentliche“ Investitionen wie Häfen, Flughäfen sowie Straßen. Perspektivisch sieht er, vor dem Hintergrund des Regierungsprogramms folgende Entwicklungen: • Industrieclusterbildung durch den Staat • Fertigstellung der Versorgungsleitungen • Zuweisung von Grundstücken für die Bebauung • Infrastrukturkostenoptimierung Bei der Realisierung von Infrastrukturprojekten wird im Allgemeinen die große Zeitspanne zwischen der ersten Idee bis zur Realisierung bemängelt. Bürokratische Hürden auf regionaler Ebener sind, trotz einer fortschreitenden Zentralisierung, das größte Hindernis. So verwundert es auch nicht, wenn die Projektverantwortlichen etwas neidvoll zum großen südöstlichen Nachbarn schauen, in dem - zwar von Staats wegen verordnet - einmal beschlossene Projekte sehr zügig umgesetzt werden können. Dennoch sind viele Großprojekte in Planung bzw. Umsetzung. Die Häfen werden ausgebaut, von Wladiwostok über die Schwarzmeerhäfen bis Ust-Luga. Ebenso die Flughäfen, ob der staatliche Scheremetjewo von Moskau oder das Luftfrachtzentrum in Uljanowsk. In Scheremetjewo auch die Landanbindung durch eine Schnellbahn mit der City von Moskau. Eine der größten Infrastrukturmaßnahmen ist die Transsibirische Eisenbahn (Transsib), die China mit Mitteleuropa verbinden soll. Alles in allem ist die Infrastruktur zurzeit noch weit hinter den Erfordernissen für ein schnelles wirtschaftliches Wachstum zurück. Bei Investitionen ist dies zur berücksichtigen. Aktuelle Situation der Logistik Dienstleistung Nach Angaben von Lengley/ Cap Gemini sowie Fraunhofer hat der Logistikmarkt in Russland ein Volumen von 225- Mrd.- USD Jahr 2011 Einkommen der Haushalte unter USD 15.000 (untere Mittelschicht/ arm) über USD 15.000 (Mittelschicht) Russland 30 % 67 % davon wohlhabend (über USD 50.000): 15 % China 76 % 24 % davon wohlhabend (über USD 50.000): 2 % Indien 87 % 13 % davon wohlhabend (über USD 50.000): 1 % Brasilien 65 % 35 % davon wohlhabend (über USD 50.000): 4 % Tab. 1: „Wohlhabend“ ist Teil von „Mittelschicht“, Aufrundungsungenauigkeiten Quelle: Agentur DT Global Business Consulting »Auftrag des Präsidenten ist, das Land bis 2018 vom 120. auf den 20. Platz bei den Bedingungen für die wirtschaftliche Tätigkeit hinauf zu führen.« (Quelle: Kommersant, 07.06.2012) Abb. 1: Terminal D des staatlichen Flughafens Scheremetjewo in Moskau Foto A: Savin LOGISTIK Russland Internationales Verkehrswesen (64) 6 | 2012 26 und macht somit 13,4 % des BIP des Landes aus. Zum Vergleich wird die Marktgröße in Deutschland auf 280- Mrd.- USD geschätzt, was einem BIP-Anteil von 8,4 % entspricht. Gründe für diese große Diferenz liegen in der geringeren Produktivität der Dienstleistungen sowie in den oben genannten Einschränkungen durch die Infrastruktur. Auch tragen staatliche Monopolpreise und das ausgedehnte Territorium dazu bei. Ein weiteres Merkmal des Marktes der russischen Dienstleister ist seine starke Fragmentierung. Dennoch haben sich Unternehmen, wie STS Logistics (Spedition) oder ALIDI (Warehousing/ Contract Logistics), herausgebildet, die mitteleuropäische Standards implementiert haben. Eine besondere Herausforderung für die Logistikdienstleister ist die starke, kontinuierlich wachsende Bedeutung des Online- Handels in Russland. Der CEO von arvato Russland erwartet aufgrund dieser Einschätzung eine Steigerung der pro Tag versendeten Pakete von 240 000 in 2010 auf 1,8-Mio. innerhalb von zehn Jahren. Zur Realisierung dieser Wachstumsrate sind seiner Ansicht nach die Probleme der Zahlungsabwicklung und Zustellung zu lösen. Auch muss der gestiegene Bedarf an Fachkräften befriedigt werden. Der zunehmende Onlinehandel wirkt sich darüber hinaus positiv auf die Aufweichung der Monopolstellung der Russischen Post aus. Der stetig wachsende Umsatz erhöht den Bedarf an KEP-Leistungen und motiviert andere Anbieter wie DPD und Hermes, einen Markteintritt in Russland zu versuchen. Ausbildung Die Ausbildungsaktivitäten bleiben stark hinter denen Deutschlands zurück. Auf der Jahreskonferenz Russland in Berlin wurde die Einschätzung geäußert, dass der Bedarf in Russland nur zu 9 % durch eigene Ausbildungsbemühungen gedeckt wird, was einem Zehntel der deutschen Aktivitäten entspricht. Es existiert zwar eine sehr gut ausgebildete „Logistiker-Elite“, jedoch fehlen Fachkräfte im Mittelbau. Dieser Herausforderung sollte man mit einer Kooperationsinitiative begegnen. Vorstellbar ist hier auch ein aktiveres Engagement der Bundesvereinigung Logistik (BVL), die eine Vorreiterrolle übernehmen könnte. Russische Staatsbahn (RZD) Das Russische Eisenbahnstreckennetz ist mit 86 000 km das größte in Europa. Auf ihm werden 1,5- Mrd.- t Güter pro Jahr befördert, was einem Anteil von 90 % aller in Russland transportierten Güter entspricht. Somit ist die russische Staatsbahn in fast allen Transportketten ein entscheidender Akteur. Im Jahr 2001 wurde ein Privatisierungsprozess für die Russische Staatsbahn angestoßen. Über die Zeit hatten sich die in allen „monolithischen“ staatlichen Eisenbahnen auindbaren Problemfelder herausgebildet; beispielhaft sind die Absenkung der Servicequalität sowie wachsender Verschleiß der Grundmittel zu nennen. Professor Alexander Kolik stellte im Juni auf der Konferenz in Moskau die drei Etappen der Reform dar: • Erste Etappe (2001-2002): Funktionsaufteilung der staatlichen Verwaltung und der wirtschaftlichen Tätigkeit, Einrichtung einer staatlichen Eisenbahngesellschaft • Zweite Etappe (2003-2005): Absonderung von einzelnen Tätigkeitsarten • Dritte Etappe (2006-2010): weitgehende Heranziehung von privaten Anlagen, Wettbewerbsentwicklung Für die wirtschaftliche Entwicklung Russlands wird es wichtig sein, wie sich die RZD innerrussisch aufstellt. Nach Ansicht von Salman Babajew, Vorstandmitglied der RZD, wird zukünftig die Herstellung eines leistungsfähigen Schienenwegs auf der West- Ost Achse, also der Verbindung mit China, ein entscheidender Faktor sein. Über die Wettbewerbsfähigkeit dieses Landwegs mit dem Seeweg mag hier nicht spekuliert werden, das wird der Markt entscheiden. Prof. Alexander Kolik fasste dies zusammen unter der Überschrift: „Optimismus mit Vorsicht“. Seine wichtigsten Punkte waren: • Die Ausnutzung des Potenzials der Ei- Abb. 2: Schnellbahn Aeroexpress in Moskau Foto: A. Savin Abb. 3: Die Brücke über das Goldene Horn, jetzt: Solotoi-Brücke, war anlässlich des APEC-Gipfels 2012 in Wladiwostok gebaut und fertiggestellt worden; einige Hotels blieben unvollendet. Foto: B. Guiot Internationales Verkehrswesen (64) 6 | 2012 27 Dieter Bock Mitglied des Beirats und Osteuropa- Beauftragter der Bundesvereinigung Logistik (BVL) in Deutschland bock@bvl.de senbahnen kann zu einem Durchbruch in der Entwicklung der russischen Wirtschaft verhelfen. • Die Regierung hat ein Programm für die Fortsetzung der Reform bis 2015 gefasst. • Das Programm sieht die Entwicklung von echtem Wettbewerb in der Branche vor. • In die Branche ist ernsthaftes Privatkapital eingelossen. • Viele Wagenoperateure sind bereit, zu Beförderern zu werden. • Die Logistikprovider sind zur Integration mit den Eisenbahnen bereit. Ausblick Die politisch Verantwortlichen haben die Bedeutung der Logistik für die wirtschaftliche Entwicklung erkannt. Die strategische Arbeit ist in großen Zügen getan, Wirtschaftszentren sind benannt, die Magistralen zur Verbindung dieser in einer Art Wegeplan ixiert, die strategisch wichtigen Gateways zum Ausland − Luft, See, Schiene − festgelegt, die innerrussischen bimodalen Hauptumschlagspunkte abgestimmt. Bis 2018 sollen 125 Mrd. EUR in die Infrastruktur investiert werden, die Seehäfen sollen bis dahin ebenfalls deutlich besser an das Inlandschienennetz angebunden sein. Zur Prozessbeschleunigung wurden Entscheidungsbefugnisse zentralisiert; dies gilt insbesondere für die Mittelvergabe. Jedoch ist der politische und planerische Einluss der Gouvernements nach wie vor hoch. Dies führt zu Interessenkonlikten, die sich bis auf die Ebene der konkreten privatwirtschaftlichen Investitionen auswirken. Betrachtet man gerade die ruralen Regionen Russlands, so kommt ein weiterer Unsicherheitsfaktor hinzu: Die im Kontrast zu Moskau Laissez-faire-Lebenseinstellung. Eine verlässliche Planung ist somit kaum möglich und behindert die Entwicklung der Logistik. Die Zahl der Unternehmen, die logistische Dienstleistungen auf internationalem Niveau anbieten nimmt stetig zu. Kooperationen zwischen europäischen und russischen Dienstleistern werden immer häuiger gebildet und die Notwendigkeit zur Ausbildung von Fach- und Führungskräften ist erkannt. Leider sind in diesem Bereich Lehrkräfte Mangelware. Adornos Aussage: „Es gibt kein richtiges Leben im falschen“, trift auf Russland nicht zu. Richtiges und weniger Richtiges sind in Russland in einer engen dialektischen Beziehung. Für Engagements in Russland gilt es in besonderer Weise abzuwägen, mit den richtigen Partnern den richtigen Weg zu inden. Auf diese Weise wird sich Russland erschließen als ein Land, das nicht nur schätzens-, sondern auch liebenswert ist, mit dem es sich lohnt, eine feste Verbindung einzugehen. ■ tere Informationen inden Sie in Kürze unter www.eurailpress.de! 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Versandkosten Kontakt: DVV Media Group GmbH, Nordkanalstr. 36, 20097 Hamburg, Germany, Telefon: +49 40/ 237 14-440, E-Mail: buch@dvvmedia.com Infrastrukturprojekte 2012 NEU