eJournals Internationales Verkehrswesen 64/6

Internationales Verkehrswesen
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0020-9511
expert verlag Tübingen
10.24053/IV-2012-0140
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2012
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Organisation des Einzelwagenverkehrs

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2012
Paul Wittenbrink
Stefan Hagenlocher
Bernhard Heizmann
Während beim Einzelwagenverkehr zumeist die Sanierung im Mittelpunkt steht, blieb bisher die Frage, welche organisatorischen Optionen für diese Verkehrsart möglich sind, weitgehend unbeachtet. Im Rahmen einer Studie für das Schweizer Bundesamt für Verkehr (BAV)1 wurden nun die Kostenstrukturen und die mit dem Einzelwagenverkehr verbundenen Prozessschritte analysiert, um darauf aufbauend prozessbezogene Größen- und Verbundvorteile zu prüfen und mögliche Organisationsalternativen abzuleiten.
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LOGISTIK Einzelwagenverkehr Internationales Verkehrswesen (64) 6 | 2012 28 Organisation des Einzelwagenverkehrs Während beim Einzelwagenverkehr zumeist die Sanierung im Mittelpunkt steht, blieb bisher die Frage, welche organisatorischen Optionen für diese Verkehrsart möglich sind, weitgehend unbeachtet. Im Rahmen einer Studie für das Schweizer Bundesamt für Verkehr (BAV) 1 wurden nun die Kostenstrukturen und die mit dem Einzelwagenverkehr verbundenen Prozessschritte analysiert, um darauf aufbauend prozessbezogene Größen- und Verbundvorteile zu prüfen und mögliche Organisationsalternativen abzuleiten. F ür die Ableitung von Organisationsvarianten ist es zunächst notwendig, für den Einzelwagenverkehr typische Kostenstrukturen zu ermitteln, wozu die Autoren ein eigenes Kostenmodell für den Einzelwagenverkehr mit typischen Abläufen entwickelten. Kostenstrukturen Einzelwagenverkehr Dabei ist die größte Kostenposition die Nahbereichsbedienung (vgl. Abbildung- 1). Aufgrund der Vorhaltung von Rangierlokomotiven und der Rangierteams ergeben sich Fixkosten, die von der zu befördernden Waggonanzahl erst einmal unabhängig sind. Zweitgrößter Kostenblock sind bei den heutigen, i. d. R. von den ehemaligen Staatsbahnen betriebenen Einzelwagenverkeh- Abb. 1: Kostenverteilung des iktiven EWLV-Systems (Schweiz) Quelle: Simulationsmodell hwh ren, die Overheadbzw. Verwaltungskosten. Neben den Waggonkosten sind die Kosten für die Ferntraktion zwischen den Rangierbahnhöfen und den Knotenbahnhöfen ein weiterer großer Kostenbestandteil. Schließlich machen die Kosten für die Nutzung der Trassen (inkl. Bahnstrom) sowie der Rangierbahnhöfe dem Modell nach, bezogen auf Schweizer Verhältnisse, insgesamt ca. 20 % der Gesamtkosten aus. Synergien zwischen Teilprozessen Ausgehend von den Kostenstrukturen kann der Frage nachgegangen werden, inwiefern Synergien zwischen den jeweiligen Teilprozessen eines EWLV-Systems bestehen und ob diese Synergien so hoch sind, dass eine Leistungserstellung des jeweiligen Teilprozesses oder auch des Gesamtsystems aus einer Hand erfolgen sollte. Zu diesem Zweck werden mögliche Produktions 2 - und Transaktionskostenvorteile 3 einer Verbundproduktion unterschiedlicher Prozesse analysiert und bewertet. Abbildung-2 zeigt das Ergebnis in Form einer Matrix, in der mögliche Kombinationen sowohl zwischen verschiedenen als auch zwischen identischen Prozessen bewertet werden. Sind die Synergien zwischen einzelnen Prozessen sehr ausgeprägt (hohe Zahlenwerte), macht es Sinn, die Teilprozesse gemeinsam in einer Organisation zu produzieren. Ebenso sprechen hohe Zahlenwerte identischer Prozesse für ausgeprägte Größenvorteile, so dass die gesamte Produktion dieses Prozesses am kostengünstigsten aus einer Hand erfolgen sollte, was für das Vorhandensein eines natürlichen Monopols 4 spricht. Nur geringe Synergien zwischen Prozessen Insgesamt zeigt sich, dass es nur sehr wenige Prozesse gibt, bei denen eine gemeinsame Erstellung in einer Unternehmenseinheit so große Produktions- oder Transaktionskostenvorteile mit sich bringen würde, dass eine Verbundproduktion unabdingbar ist. Dies ist z. B. bei der gemeinsamen Erstellung Angebotsplanung/ Vertrieb/ Leistungseinkauf und Auftragsabwicklung der Fall. Hier bestehen zwar kaum Produktionskostenvorteile einer gemeinsamen Produktion. Allerdings ist die intensive Abstimmung zwischen den Bereichen Vertrieb und Auftragsabwicklung sehr wichtig, um z. B. bei Unregelmäßigkeiten im Verkehr sehr schnell reagieren zu können oder auch Kundenprojekte zu entwickeln. Insgesamt bestehen hier erhebliche Koordinations- und Transaktionskostenvorteile, so dass die Aufgaben sicherlich einfacher in einer Organisationseinheit zu bewerkstelli- Die Autoren: Paul Wittenbrink, Stefan Hagenlocher, Bernhard Heizmann Internationales Verkehrswesen (64) 6 | 2012 29 Abb. 2: Bewertung von Synergien und Größenvorteilen bei Teilprozessen des Einzelwagenverkehrs Quelle: Analyse hwh gen sind als in getrennten Organisationen. Weitere Beispiele für das Vorliegen von Synergien können zwischen der Auftragsabwicklung und den Produktionseinheiten oder auch zwischen dem Nah- und Fernbereich bestehen. Die Synergiepotenziale werden hier jedoch nicht so hoch eingeschätzt, dass eine gemeinsame Erstellung zwingend erfolgen muss. Vorhandensein natürlicher Monopole? Bei zwei Prozessen - der Nahbereichsbedienung und dem Rangierbahnhof - handelt es sich der Analyse nach um ein „natürliches Monopol“ (vgl. Abbildung- 3). So ist davon auszugehen, dass durch die Aufteilung der Leistungserstellung auf Rangierbahnhöfen oder im Nahbereich auf mehrere Anbieter Synergien verloren gehen. Aufgrund der vsl. zu geringen Auslastung der jeweiligen Anbieter würden die Produktionskosten steigen. Daher ist es i. d. R. ökonomisch sinnvoll, dass es für den einzelnen Rangierbahnhof oder Nahbereich jeweils nur einen Anbieter in der Leistungserstellung gibt. Allerdings ist es durchaus möglich, dass die Leistungserstellung in verschiedenen Nahbereichsregionen oder Rangierbahnhöfen durch verschiedene Anbieter erbracht werden kann, ohne dass größere Synergievorteile verloren gehen. Ebenfalls ist es vorstellbar, dass in besonders aukommensstarken Nahbereichsregionen mehrere Anbieter parallel existieren können, ohne dass eine hinreichende Auslastung gefährdet ist bzw. es zu Produktionskostennachteilen kommen muss. Systemführer oder Wettbewerbsmodell? Aubauend auf der Analyse von Grössen- und Verbundvorteilen bei den Primär- und Sekundärprozessen stellt sich die Frage, welche Organisationsformen sich für den Einzelwagenverkehr anbieten. Ohne an dieser Stelle auf sämtliche möglichen Varianten eingehen zu können, gibt es zwei grundsätzliche Ansätze - die Modelle „Systemführer“ und „Wettbewerbsmodell“. Das Modell „Systemführer“ entspricht dem heutigen Status quo, bei dem zumeist ehemalige Staatsbahnen als Systemführer und integriertes Unternehmen auftreten. Hier liegen zumeist der Vertrieb, die Produktentwicklung, das Auslastungsrisiko und die gesamte Produktion (bei einer zumeist sehr hohen Fertigungstiefe) in einer Hand. Heutige Organisationsform nicht nachhaltig Allerdings ist anzunehmen, dass dieser Status quo nicht nachhaltig ist, also keine hohe Stabilität ausweist, da nahezu alle heutigen EWLV-Systeme seit Jahren nicht kostendeckend betrieben werden können, die regelmäßigen Sanierungsbemühungen zumeist mit einer Angebotsverknappung und damit Attraktivitätssenkung verbunden sind und darüber hinaus die Systeme ständig durch das Herausbrechen bündelungsfähiger Teilmengen gefährdet sind. Systemanbieter anstatt Systemführer Untersuchungen der hwh 5 zu möglichen Organisationsansätzen zeigen, dass nicht der eine Systemführer benötigt wird, sondern dass es durchaus möglich ist, dass mehrere Systemanbieter im Einzelwagenverkehr tätig sind. Bei diesem als Wettbewerbsmodell bezeichneten Ansatz dimensionieren die Systemanbieter ihre Netzwerke, kaufen die einzelnen Teilleistungen (Traktion, Rangierleistungen, Nahbereichsbedienung…) ein, übernehmen das Auslastungsrisiko und bieten ihr Netz den Kunden an - Aufgaben die heutige Business-Units der Bahnen oder auch Bahnspeditionen übernehmen können. Durch diese eher wettbewerbsorientierten Variante steigen mit dem erhöhten intermodalen Wettbewerbsdruck die Chancen, weitere Produktivitäts- und Serviceverbesserungspotenziale auszuschöpfen auch vermehrt Produkt-, Technik- und Verfahrensinnovationen zu nutzen, was mittel- und langfristig zu positiven verkehrlichen Wirkungen führt. Optimale Fertigungstiefe Im Hinblick auf die Organisation stellt sich auch die Frage, ob die Aufgaben des Systemanbieters, wie heute üblich, zwingend mit der Produktion der Leistung verbunden sein müssen, d. h. ob „Bereitstellen“ und „Herstellen“ in einer Hand liegen müssen. Hier besteht die Gefahr, einer hohen Komplexität, die es schwer zu steuern LOGISTIK Einzelwagenverkehr Internationales Verkehrswesen (64) 6 | 2012 30 Bernhard Heizmann, Dr. Gesellschafter der hwh, Karlsruhe heizmann@hwh-transport.de Stefan Hagenlocher Gesellschafter und Geschäftsführer der hwh hagenlocher@hwh-transport.de Paul Wittenbrink, Prof. Dr. Professor für Transport und Logistik an der DHBW Lörrach und Gesellschafter der hwh Gesellschaft für Transport- und Unternehmensberatung mbH, Karlsruhe wittenbrink@dhbw-loerrach.de gilt. Dies gilt es umso mehr zu beachten, da insbesondere ehemalige Staatsbahnen eine geringe Neigung haben, komplexe Strukturen zu vereinfachen - das Gegenteil ist zumeist der Fall. Zudem führt die heute hohe Fertigungstiefe zu einer enormen Konjunkturabhängigkeit. Insofern sollten sich die notwendigen Sanierungsanstrengungen nicht nur auf die Angebotsverknappung, sondern insbesondere auf die Realisierung einer optimalen Fertigungstiefe fokussieren und die Kapazitäten mehr an der Grundanstatt an der Spitzenlast ausrichten. Diskriminierungsfreier Zugang zu Rangierbahnhöfen und Nahbereichsbedienung Wichtig ist bei der Variante mit mehreren Anbietern, dass der diskriminierungsfreie Zugang zu den Teilleistungen, insbesondere den Rangierbahnhöfen und den Nahbereichsbedienungen, gewährleistet ist. Hier ist bezogen auf die Rangierleistungen sicherlich das Schweizer Modell wegweisend, bei dem die Rangierbahnhöfe von der Infrastruktur und nicht vom dem konkurrierenden EVU betrieben werden. So ist z. B. der heutige Betrieb der Rangierbahnhöfe durch DB Schenker Rail mit einem Wettbewerbsmodell kaum vereinbar. Darüber hinaus wird in Bezug auf die Nahbereichsbedienung in vielen Fällen eine marktbeherrschende Stellung heutiger Anbieter vorliegen, die schon aus kartellrechtlichen Gründen einer besonderen Beobachtung bedarf. Geringes Renditepotenzial ist größte Markteintrittsbarriere Was aber hält heutige potenzielle Anbieter davon ab, im großen Stil in den Einzelwagenverkehr einzusteigen? Abgesehen davon, dass es schon einige Beispiele gibt, bei denen Kunden für Teilnetze andere Anbieter beauftragen, ist die größte Markteintrittsbarriere heute das geringe Renditepotenzial im Einzelwagenverkehr. Dies kann z. B. eine Frage des Preisniveaus, der richtigen Dimensionierung des Netzes oder auch der unzureichenden Ausschöpfung von Produktivitätssteigerungspotenzialen sein. Und auch Produkt- und Technikinnovationen sind in der eher strukturkonservativen Eisenbahnbranche gefragt. Schließlich kann der Staat, ist dieser mit dem Marktergebnis nicht zufrieden, den Einzelwagenverkehr fördern. Hier bieten sich neben der Infrastrukturinanzierung insbesondere die Förderung der Nahbereichsbedienung an, idealerweise in Form von Ausschreibungen, bei dem der Anbieter mit dem besten Preis-Leistungs-Verhältnis den Zuschlag erhält. Verbunden mit den oben beschriebenen Wettbewerbselementen können dadurch ganz neue Perspektiven für den Einzelwagenverkehr resultieren. ■ 1 Der Beitrag basiert auf den Erkenntnissen einer noch unveröfentlichten Studie im Auftrag des Bundesamtes für Verkehr, Bern, zur Ableitung eizienter Organisationsformen im Schweizer Schienengüterverkehr in der Fläche. Der Beitrag gibt aber ausdrücklich die Meinung der Autoren wieder (Kontakt: wittenbrink@hwh-transport.de). Weitere Informationen zur hwh: www.hwh-transport.de 2 Unter Produktionskosten wird ein bewerteter Ressourcenverzehr zur Produktion von Gütern verstanden. Zum Kostenbegrif vgl. Gabler Wirtschaftslexikon (2000), 15. Aulage, S. 1832, Wiesbaden. 3 Unter Transaktionskosten werden dabei die Kosten der Nutzung einer Institution oder Koordinationsform (z.- B. Märkte, aber auch eine unternehmensinterne Koordination) verstanden. Zur Transaktionskostentheorie vgl. Erlei, Matthias, Leschke, Martin, Sauerland, Dirk (2007), Neue Institutionenökonomik, 2. Aulage, Stuttgart, S. 199f.; Rennings, K. (1992), Zur Relevanz der Transaktionskostentheorie für die Verkehrswirtschaft, in: Rennings, K., Fonger, M., Meyer, H. (1990), Make or Buy - Transaktionskostentheorie als Entscheidungshilfe für die Verkehrswirtschaft, Göttingen, S. 15. Zu den Transaktionskosten werden insbesondere die Anbahnungskosten, Vereinbarungskosten, Kontrollkosten und Änderungskosten gezählt. 4 Zur Theorie des Marktversagens und der Situation bei natürlichen Monopolen, die hier im Rahmen des Konzepts der Unteilbarkeiten betrachtet werden, vgl. Fritsch, M., Wein, T., Ewers, H.-J. (2005), Marktversagen und Wirtschaftspolitik, 6.-Aulage, München, S.-219f. 5 Vgl. www.hwh-transport.de Abb. 3: Prüfung der Prozesse des Einzelwagenverkehrs auf das Vorhandensein natürlicher Monopole Quelle: Eigene Darstellung hw