eJournals Internationales Verkehrswesen 64/6

Internationales Verkehrswesen
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0020-9511
expert verlag Tübingen
10.24053/IV-2012-0142
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2012
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Grenzen des Güterverkehrswachstums werden sichtbar

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2012
Christian Hey
Carl-Friedrich Elmer
Die bisher zugrunde gelegten Wachstumsprognosen der Güterverkehrsleistungen scheinen zu hoch angesetzt. Sie erfordern einen dynamischen Zubau von Infrastrukturen, der angesichts stark wachsender Kosten und begrenzter Budgets nicht realistisch erscheint.
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Internationales Verkehrswesen (64) 6 | 2012 34 Grenzen des Güterverkehrswachstums werden sichtbar Die bisher zugrunde gelegten Wachstumsprognosen der Güterverkehrsleistungen scheinen zu hoch angesetzt. Sie erfordern einen dynamischen Zubau von Infrastrukturen, der angesichts stark wachsender Kosten und begrenzter Budgets nicht realistisch erscheint. D ie Bundesregierung lässt derzeit - als Datengrundlage für die Erstellung des Bundesverkehrswegeplans 2015 - eine aktuelle Verkehrsprognose mit Projektionshorizont 2030 erstellen. Die regelmäßig hohen Wachstumsprognosen für den Güterverkehr sind Gegenstand eines unversöhnlichen Konlikts. Für die einen führen sie wiederholt zum Ruf nach erhöhten Infrastrukturinvestitionen, die erst Voraussetzung dafür sind, dass sich die Wachstumsprognosen erfüllen können. Für die anderen beleuchten sie ein ungelöstes Umweltproblem: ein angemessener Beitrag des Güterverkehrs zum Klimaschutz ist nicht in Sicht. In seinem Umweltgutachten 2012 hat der Sachverständigenrat für Umweltfragen Gründe dafür genannt, Trends der Vergangenheit nicht in die Zukunft zu extrapolieren und wachstumsbremsende Einlussfaktoren genau zu analysieren [1]. Eine realistische Sicht könnte die Konlikte um den Güterverkehr entschärfen. Deutschland im internationalen Vergleich In Deutschland lag das Wachstum des Güterverkehrs in den letzen beiden Dekaden über demjenigen des Bruttosozialprodukts. Demgegenüber fällt im internationalen Vergleich auf, dass in einigen Industrieländern eine relative Entkopplung von Wirtschafts- und Güterverkehrswachstum festgestellt werden kann [2, 3]. Deutliche Sättigungstendenzen sind beispielsweise in den USA zu beobachten, allerdings auf einem sehr hohen Niveau der Verkehrsintensität. Bei traditionell äußerst niedriger Transportintensität sind auch in Japan Tendenzen einer relativen Entkopplung erkennbar. Auf europäischer Ebene zeigen sich deutliche Unterschiede in der Entwicklung zwischen den verschiedenen Staaten. Während die Güterverkehrsintensität in Europa (EU-27) insgesamt im Zeitraum von 1995 bis zu Beginn der Krise im Jahr 2008 weitgehend stabil blieb, konnte in den meisten Staaten der EU-15 eine relative Entkopplung der Güterverkehrsleistung vom BIP erreicht werden (vgl. Abbildung 1). Hingegen wuchs in der Mehrheit der neuen osteuropäischen Mitgliedstaaten sowie auf der iberischen Halbinsel die Güterverkehrsleistung deutlich schneller als das BIP. Letzteres lässt sich mit der nachholenden Wirtschaftsentwicklung und der Integration der neuen Die Autoren: Christian Hey, Carl-Friedrich Elmer INFRASTRUKTUR Verkehrsprognose Foto: Deutsche Bahn AG: Uwe Winkler Internationales Verkehrswesen (64) 6 | 2012 35 Abb. 1: Entwicklung der Güterverkehrsleistung im Verhältnis zum BIP in Europa zwischen 1995 und 2008 Quelle: Eurostat Mitgliedstaaten in den europäischen Binnenmarkt sowie einem erheblichen Infrastrukturzubau erklären. Die von anderen EU-15-Staaten abweichende Entwicklung der Güterverkehrsleistung in Deutschland liegt in wesentlichen Teilen auch in der Rolle Deutschlands als wichtigem Handelspartner und Transitland für die osteuropäischen EU-Staaten begründet. Hierbei dürfte es sich allerdings um zeitlich begrenzte Sonderfaktoren handeln. Es erscheint wahrscheinlich, dass sich nach einer Phase rasanten Wachstums im Außenhandel die Zuwachsraten von Außenhandel und BIP künftig zunehmend angleichen werden Prognostizierte Entwicklung in Deutschland Im Gegensatz zum grundsätzlichen Trend für Gesamteuropa wird für Deutschland in bisherigen Studien mehrheitlich auch weiterhin keine Entkopplung erwartet, wodurch sich der verkehrs- und klimapolitische Handlungsdruck erhöht. Gemäß der letzten Prognose der deutschlandweiten Verkehrsverlechtungen aus dem Jahr 2007 würde die Güterverkehrsleistung bis 2025 erneut um die Hälfte wachsen [4]. Mithin überträfe das Wachstum der Güterverkehrsleistung das Wirtschaftswachstum weiterhin deutlich, die Transportelastizität läge im Bereich zwischen 1,5 und 1,8. Bis zum Jahr 2050 erwartet Progtrans eine Verdoppelung der gegenwärtigen Verkehrsleistung, wobei die Transportintensität bis 2040 weiter ansteigt und danach stagniert [5]. Im Referenzszenario für das Energiekonzept der Bundesregierung wird - bei höherem Ölpreis und niedrigerem Wirtschaftswachstum - zwar ein deutlich geringerer Zuwachs bei der Güterverkehrsleistung erwartet; eine Entkopplung indet jedoch trotz im Zeitverlauf abnehmender Transportelastizität nicht statt [6]. In der „Leitstudie 2011“ des Bundesumweltministeriums zum Ausbau der erneuerbaren Energien wird - bei gleichen Annahmen zum BIP und ähnlichem Ölpreisniveau wie in [6] - erst nach dem Jahr 2030 eine zunächst relative und später auch absolute Entkopplung prognostiziert [7]. Selbst wenn die absolute Güterverkehrsleistung in Deutschland in den kommenden Jahren weiter steigen wird, so ist doch eine dauerhafte Fortschreibung vergangener, deutlich über dem Wirtschaftswachstum liegender Wachstumsraten kritisch zu hinterfragen. Generell lässt sich bereits die Tendenz feststellen, dass gerade in jüngeren Prognosen regelmäßig ein signiikant geringeres Wachstum der Güterverkehrsleistung erwartet wird. Die Ursachen hierfür liegen sicherlich zum einen in den Auswirkungen der Finanz- und Wirtschaftskrise 2008/ 2009. Zum anderen sprechen jedoch verschiedene langfristige Nachfrage- und Angebotstrends grundsätzlich für eine sich deutlich verlangsamende Wachstumsdynamik (siehe [1] für eine ausführlichere Darstellung und weitere Nachweise). Strukturwandel der Nachfrage Es gibt Anzeichen dafür, dass sich wichtige Nachfragetrends nicht bis 2050 ungebrochen fortsetzen. Dämpfend dürften sich die folgenden Faktoren auf das Güterverkehrswachstum auswirken: • Tendenziell ist mit ablachenden wirtschaftlichen Wachstumsraten zu rechnen, wobei die langfristigen Auswirkungen der aktuellen Schulden- und Währungskrise bisher noch kaum absehbar sind. Derzeit ist weitgehend unklar, wie lange die Krise anhalten, inwieweit sie den internationalen Handel beeinlussen und in welchem Ausmaß sie auf Deutschland überschlagen wird. • Das Wirtschaftswachstum sowie die ökonomische Integration der osteuropäischen Länder in den europäischen Binnenmarkt und der Strukturwandel in diesen Ländern werden sich nach einer dynamischen Auholphase stabilisieren. Mit voranschreitender wirtschaftlicher Konvergenz ist überdies eine Zunahme der Transportkostensensitivität zu erwarten. Transportkostensteigerungen könnten demnach eine stärker dämpfende Wirkung auf das Güterverkehrswachstum haben. • Die Tertiarisierung der Ökonomie, das heißt ein fortschreitender wirtschaftlicher Bedeutungszugewinn des Dienstleistungssektors, macht auch vor Deutschland nicht halt. Der Anteil des Industriesektors wird zwar im internationalen Vergleich hoch bleiben, der Trend zur Tertiarisierung wird aber zeitverzögert ebenfalls nachvollzogen. • Eine relative Dematerialisierung der Ökonomie indet seit Jahrzehnten statt, INFRASTRUKTUR Verkehrsprognose Internationales Verkehrswesen (64) 6 | 2012 36 das heißt der gesamte inländische Materialverbrauch ist in den letzten Jahrzehnten in der EU und in Deutschland deutlich langsamer gestiegen als das BIP [8]. Diese Markttrends werden sich mit der absehbaren weiteren Verteuerung mineralischer und biogener Rohstofe in Zukunft weiter fortsetzen. Da mit jedem Materialeinsatz in der Regel auch Transportvorgänge verbunden sind, wird dies einen dämpfenden Efekt auf die Verkehrsleistung haben. • Trotz der Grundtendenz der vergangenen Jahrzehnte einer zunehmend weiträumigeren (internationalen) Arbeitsteilung sind auch Gegentrends verbrauchernaher Erzeugung zu beobachten. Dies gilt insbesondere für die produktionsnahe Beschafungslogistik durch die enderzeugernahe Ansiedlung von Zulieferindustrien. • Ferner schlägt sich das Wachstum der Güterverkehrsleistung aufgrund von Eizienzverbesserungen in der logistischen Kette nicht in einem proportionalen Zuwachs der Fahrleistung nieder. Dies ist insbesondere auf die bessere Koordination und das bessere Auslastungsmanagement in großen Güterverkehrszentren zurückzuführen Angebotstrends: Kostensteigerungen und Infrastrukturengpässe Wichtige Angebotsfaktoren für das bisherige Güterverkehrswachstum sind die Transportgeschwindigkeit, die Transportkosten und die Eizienz in der logistischen Kette. Diese Faktoren haben in den letzten Jahren physische und ökonomische Raumwiderstände vermindert und damit den Radius der Verlechtungen und ihre Komplexität erhöht. Gerade diese Raum-Zeit-Ökonomie ist jedoch einem Strukturwandel unterworfen. • Das Verharren auf hohem Niveau bzw. ein weiterer Anstieg des Ölpreises und damit der Transportkosten ist wahrscheinlich. Auch eine konsequente Klimapolitik würde zu einer signiikanten Erhöhung der Transportkosten führen. Dabei ist insgesamt zu beachten, dass die Transportkostenelastizität des zwischeneuropäischen Handels, der trotz eines abnehmenden Anteils am Gesamthandel weiterhin eine dominante Rolle einnimmt, hoch ist. • Die Infrastrukturinvestitionen werden selbst bei deutlicher Erhöhung nicht mit dem Kapazitätsbedarf des bisher prognostizierten Güterverkehrswachstums mithalten können. Im Bereich der Verkehrswegeinvestitionen für den Schienenwie auch für den Straßenverkehr LITERATUR [1] SRU (Sachverständigenrat für Umweltfragen) (2012): Umweltgutachten 2012. Verantwortung in einer begrenzten Welt. Kapitel 4. Güterverkehr und Klimaschutz. Berlin. http: / / www. umweltrat.de/ SharedDocs/ Downloads/ DE/ 01_Umweltgutachten/ 2012_Umweltgutachten_Kap_04.html. [2] International Transport Forum (ITF) (2010): Transport Greenhouse Gas Emissions - Country Data 2010. Paris. [3] OECD (Organisation for Economic Co-operation and Development) (2006): Decoupling the Environmental Impacts of Transport from Economic Growth. Paris. [4] Intraplan Consult, BVU (Beratergruppe Verkehr + Umwelt) (2007): Prognose der deutschlandweiten Verkehsverlechtungen 2025. München, Freiburg. [5] Progtrans (2007): Abschätzung der langfristigen Entwicklung des Güterverkehrs in Deutschland bis 2050. Schlussbericht. Basel. [6] Prognos, EWI (Energiewirtschaftliches Institut an der Universität zu Köln), GWS (Gesellschaft für wirtschaftliche Strukturforschung) (2010): Energieszenarien für ein Energiekonzept der Bundesregierung. Basel, Köln, Osnabrück. [7] Deutsches Zentrum für Luft- und Raumfahrt (DLR), Fraunhofer Institut für Windenergie und Energiesystemtechnik (IWES), Ingenieurbüro für neue Energien (IFNE) (2010): Langfristszenarien und Strategien für den Ausbau der erneuerbaren Energien in Deutschland bei Berücksichtigung der Entwicklung in Europa und global. Stuttgart, Kassel, Teltow. [8] European Environment Agency (EEA) (2010): The European Environment - State and Outlook 2010. Synthesis. Copenhagen. Christian Hey, DirProf. Dr. Generalsekretär Sachverständigenrat für Umweltfragen, Berlin christian.hey@umweltrat.de Carl-Friedrich Elmer, Dipl.-Volksw. Wissenschaftlicher Mitarbeiter Sachverständigenrat für Umweltfragen, Berlin carl-friedrich.elmer@umweltrat.de liegt Deutschland signiikant unter dem Niveau anderer europäischer Länder. Bei deutlich steigenden Baukosten stagnieren die Verkehrswegeinvestitionen - abgesehen von nur vorübergehenden Sonderefekten der Konjunkturprogramme I und II - in absoluten Zahlen zwischen 2001 und 2012. Dies hat zu deutlichen Verzögerungen bei der Abarbeitung der Projekte des vordringlichen Bedarfs aus dem Bundesverkehrswegeplan 2003 und der Unterinanzierung der dort genannten Neubauprojekte und Instandhaltungsmaßnahmen geführt. • Mit Infrastrukturengpässen und wachsender Komplexität der Transportketten steigt auch das Friktionsrisiko, das heißt die Möglichkeit, dass die Transportkette nicht zeitgenau und reibungslos organisiert werden kann. Zur Vermeidung solcher Risiken haben Unternehmen verschiedene mittelbis langfristig umsetzbare Handlungsoptionen, die mit einer Verminderung der Transportintensität einhergehen können, wie beispielsweise den Wiederaubau von Lagern als Pufer oder die Ansiedelung von Zulieferern in der Nähe der Endfertigung. Schlussfolgerungen Aus internationalen Vergleichen lässt sich erkennen, dass Wirtschafts- und Güterverkehrswachstum nicht durch ein starres Verhältnis gekennzeichnet sind und die Verkehrsintensität der Wirtschaft grundsätzlich beeinlussbar ist. Eine zukunftsfähige und realitätsorientierte Verkehrspolitik sollte die genannten Faktoren auf der Nachfrage- und Angebotsseite aufgreifen und sie in der Verkehrsprognose und Verkehrswegeplanung berücksichtigen. Ein wesentlicher Ansatzpunkt wird dabei sein, das Versprechen einer immerwährenden Anpassung der Straßeninfrastrukturkapazitäten an eine scheinbar naturwüchsig steigende Nachfrage aufzugeben. Stattdessen sollte die Politik gezielt bestimmte Entkopplungstendenzen verstärken sowie unternehmerische Innovations- und Standortstrategien zur Anpassung an entstehende Angebotsengpässe und Transportkostensteigerungen unterstützen. Leitbilder für eine Senkung der Verkehrsintensität der Wirtschaft sind eine verstärkte Dematerialisierung, verkehrssparende Raumstrukturen sowie eine verbesserte Eizienz der Logistikketten. Beispielhafte Ansatzpunkte hierzu sind im Hinblick auf ihre Verkehrsauswirkungen optimierte Güterverkehrszentren oder eine verbesserte Kommunikationsinfrastruktur zur Förderung der Zusammenarbeit verschiedener Logistikanbieter. Auch die regionale und übergeordnete Wirtschaftspolitik können einen Beitrag zur Verstärkung von Entkopplungstendenzen der Verkehrsnachfrage leisten, indem nahräumliche Wirtschaftsverlechtungen und Unternehmenscluster gefördert werden. ■