Internationales Verkehrswesen
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0020-9511
expert verlag Tübingen
10.24053/IV-2013-0009
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2013
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Moderne Logistik lehren
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Borislav Bjellcic
Christian Femerling
Michael Schröder
Vor dem Hintergrund des Bedeutungswandels von einer betriebswirtschaftlich-technischen Hilfsfunktion hin zu einer wettbewerbsrelevanten Managementfunktion erlebte der Begrif Logistik vor über 40 Jahren mit der Umwidmung des Mannheimer Lehrstuhls „Verkehrsbetriebslehre“ des jungen Prof. Ihde zu „Logistik“ auch eine akademische Aufwertung. In einer heutigen ex-post-Betrachtung ist es beachtenswert, mit welcher Weitsicht Ihde schon früh die Entwicklung der Güteraustauschbeziehungen und die Veränderung der Wertschöpfungsketten als Folge der Arbeitsteilung in Verbindung mit der globalen Spezialisierung voraussah.
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Internationales Verkehrswesen (65) 1 | 2013 24 LOGISTIK Lehre Moderne Logistik lehren Vor dem Hintergrund des Bedeutungswandels von einer betriebswirtschaftlich-technischen Hilfsfunktion hin zu einer wettbewerbsrelevanten Managementfunktion erlebte der Begrif Logistik vor über 40 Jahren mit der Umwidmung des Mannheimer Lehrstuhls „Verkehrsbetriebslehre“ des jungen Prof. Ihde zu „Logistik“ auch eine akademische Aufwertung. In einer heutigen ex-post-Betrachtung ist es beachtenswert, mit welcher Weitsicht Ihde schon früh die entwicklung der Güteraustauschbeziehungen und die Veränderung der Wertschöpfungsketten als Folge der Arbeitsteilung in Verbindung mit der globalen Spezialisierung voraussah. D er Grundsatz, dass das Management unternehmensinterner Logistik (Mikrologistik) immer auch gleichzeitig Kenntnisse über die Verkehrsinfrastruktur im Allgemeinen und die Verkehrsträger im Speziellen (Makrologistik) erfordert, prägte das akademische Curriculum der Lehre Gösta B. Ihdes. Von der Verkehrsbetriebslehre zur Logistik So hat Ihde das Traditionsfach Verkehrsbetriebslehre in Forschung und Lehre konsequent in Richtung Logistik weiterentwickelt, gleichwohl den Verkehr nie aus den Augen verloren. Denn logistische Prozesse sind im Kern immer TUL- (Transport-, Umschlags- und Lager-) Prozesse. Statt sich der noch in den 1970er Jahren vertretenen Thesen von den „Besonderheiten des Ver- Die Autoren: Borislav Bjelicic, Christian Femerling, Michael Schröder Foto: © Stefanie eichler Relexionen zum 75. Geburtstag von Gösta B. Ihde Internationales Verkehrswesen (65) 1 | 2013 25 kehrs“ anzuschließen, hat er sich früh für eine Liberalisierung und Deregulierung der Verkehrsmärkte eingesetzt, weil er in einem Mehr an Wettbewerb großes Potenzial für Produktivitätsfortschritte und damit verbundene Transportkostensenkungen gesehen hat. Für ihn stand fest: Staatliche Eingrife bewirken „Gleichgewichtsstörungen der logistischen Systeme“ (Ihde 1972, S. 52) und „regulierte Märkte sind deformierte Märkte“ (Ihde 1989, S. 71). In der verursachungsgemäßen Anlastung von Wegekosten und in den durch den Verkehr verursachten sozialen Kosten sah er eine weitere Notwendigkeit zur Schafung eines funktionsfähigen Wettbewerbs auf Basis marktgerechter Entgelte (Ihde 1984c, S. 155). Verkehrsinfrastruktur und internationale Wettbewerbsfähigkeit Neben Innovationen der Fahrzeugtechnik (Verbrauchsreduzierung, alternative Antriebsstofe usw.) steht die Optimierung von TUL-Prozessen dem rohölpreisbedingten Anstieg der Transportkosten entgegen. Ansätze solcher Optimierung durch Koordination von Abläufen innerhalb von Transportketten, durch Kooperationen von Logistikbetrieben (Ihde 1978, 72f.) sowie durch Bündelung von Transportströmen inden sich in Ihdes Gesamtwerk in zahlreichen Überlegungen. In der „Entwicklung der Informatik zu einer entscheidenden Difusionsvariablen für die Konzipierung und praktische Anwendung von logistischen Entscheidungssystemen“ (Ihde 1987, S. 708) sah Ihde weitere Potenziale für die Beschleunigung physischer TUL-Prozesse. Gedanken zur Gestaltung der mit ihnen verbundenen Informationsprozesse, vor allem die Möglichkeit, diese den physischen Prozessen vorauseilen zu lassen, haben in seinen Publikationen Niederschlag gefunden. Ein weiteres Anliegen war ihm, auf die „elementare Bedeutung der Ausstattung einer Volkswirtschaft mit Verkehrsinfrastruktur für ihre internationale Wettbewerbsfähigkeit“ hinzuweisen (Ihde 1984c, S. 158). Schlechte Verkehrsinfrastruktur führt zu längeren Transportzeiten und zu einer geringeren Zuverlässigkeit und Berechenbarkeit von Transporten. Die daraus resultierenden Unsicherheiten haben eine Erhöhung von Beständen und einen höheren Planungs- und Kostenaufwand zur Folge (Ihde 1984c, S. 84f.). Gerade diese Zusammenhänge haben bis heute ihre Gültigkeit behalten. unternehmensübergreifende Wertschöpfungsstrategien Die ab den 1980er-Jahren tatsächlich erfolgte bzw. an Fahrt gewinnende Liberalisierung und Deregulierung der Verkehrsmärkte weltweit löste große Produktivitätsfortschritte im Verkehr aus. Die daraus resultierenden Transportkostensenkungen waren ein wichtiger Treiber der zunehmenden weltweiten Arbeitsteilung im Zuge der Globalisierung und begünstigten die standortteilige Produktion und den Abbau der Fertigungstiefe (Ihde 1988, S. 18f.). Der Aubau weltumspannender Netzwerke von Lieferverbundbeziehungen ermöglichte - vor dem Hintergrund moderater Rohölpreise - „die umfassende Nutzung von Standort- und Spezialisierungsvorteilen“ (Ihde 1988, S. 19). Als wesentliche Einlussgröße des Vorteils alternativer Wertschöpfungstiefen wird immer wieder der Zusammenhang zwischen Größenefekten der Produktion (Economies of Scale), Transaktionssowie Transportkosten genannt (Ihde 1988, S. 15). So weist Ihde schon früh auf die Entwicklung abnehmender Bedeutung von Größeneffekten hin, „im Grenzfall dahin, daß jedes Produkt sein eigenes Los darstellt. Als Folge davon verlieren große Aulegungszahlen standardisierter Produkte ihren strategischen Vorteil“ (Ihde 1986, S. 8), eine Tatsache, die insbesondere im deutschen Fahrzeugbau heute Realität ist: Größenvorteile standardisierter Massenfertigung werden durch den größeren fertigungstechnischen Handlungsspielraum lexibler Fertigungseinrichtungen ersetzt (Ihde 1984c, S. 197). Flexible Fertigungssysteme (Prozesslexibilität) sind bei anhaltender Marktunsicherheit der Vorhaltung von (Sicherheits-) Beständen (Bestandslexibilität) überlegen, insbesondere da es sich bei Beständen um endgültige, „in der Regel irreversible Ressourcenwidmung“ (Ihde 1991, S. 194) handelt. Das heute übliche Ersetzen von Beständen durch Informationen durch „erhellte und verhandelte Umwelt“ (Ihde 1984b, S. 5f.) war von Beginn an Teil seines Logistikverständnisses. Bei gegebenen Transaktionssowie Transportkosten führt nun die Verringerung der Wertschöpfungstiefe ceteris paribus zu einer Erhöhung der mittleren gewogenen Beschafungsweiten (Ihde 1988, S. 18f.), was bis heute in einem ständig zunehmenden Anteil weltweiter Beschafungsvolumen (Global Sourcing) deutlich wird. Die Auslagerung von Wertschöpfungsumfängen durch Fremdbezug war und ist allerdings erst durch die Entwicklung leistungsfähiger Logistiksysteme möglich, die auf eine Optimierung des zwischenbetrieblichen Material- und Informationslusses ausgerichtet sind (Ihde 1988, S. 20). Dies trift mehr denn je in Form noch einmal gestiegener Anforderungen zeitgenauer Anlieferungen mit höchster Zuverlässigkeit zu. Mit der Zunahme der (weltweiten) Arbeitsteiligkeit ging gleichzeitig eine radikale Veränderung von Raumstrukturen und Standortkonzepten einher (Ihde 1984a, S. 84f.). Die beschriebene Deregulierung im Verkehr im Allgemeinen und die Reduzierung von Transportkosten im Speziellen, der „Death of Distance“, förderten den Aubau der heute etablierten weltweiten Produktionsverbundsysteme. einzelwirtschaftliche Handhabung durch mikrologistische Systeme War die Logistik in der Vergangenheit eine organisatorisch explizit (noch) zu etablierende Funktion, so ist sie unterdessen nachhaltiger Bestandteil in der Gestaltung von Wertschöpfungsnetzen (Ihde 2001, S. 349). Sie wird sowohl von den Funktionen Produktion, Beschafung, Finanzen und Marketing nicht mehr nur akzeptiert, t 1 t 2 t 3 t 4 t 5 t 6 0 Zeit (t) d 1 Bestimmungsort/ Lieferzeit Entfernung (d) Gate a c b Bild 1: Alternative Raum/ Zeit-Strukturen logistischer Prozesse. (Aus Ihde 1972, S. 39) LOGISTIK Lehre Internationales Verkehrswesen (65) 1 | 2013 26 sondern als zentrales Instrument für die Gestaltung und Realisierung von erfolgreichen Geschäftsmodellen gesehen. Konkret: Mikrologistische Funktionen (Ihde 1999) werden zunehmend durch die Betrachtung übergreifender Unternehmensnetze (Supply Chains) abgelöst. Neben Lieferanten-Abnehmersowie Hersteller-Handels-Beziehungen sind Dienstleistungs- und dabei vor allem Logistikdienstleistungs-Unternehmen mit einem sich ständig ausweitenden Leistungsangebot miteinzubeziehen. Diese Entwicklung geht über das Management der Transferfunktionen hinaus und schließt alle güterwirtschaftlichen Leistungsprozesse der für die Steuerung immer wichtiger werdenden güterstrombezogenen Informationen mit ein (Ihde 2001, S. 21). Diese Fließsystemperspektive (Flow Management) sah Ihde im Übrigen von Anbeginn als ein charakterisierendes Merkmal der Logistik (Ihde 1972, S. 55f.; Ihde 2001, S. 50) und wurde nicht zuletzt unter anderem durch das Konzept des logistischen Grund- und Elementarprozesses verdeutlicht, den Ihde in die deutschsprachige Literatur einführte. Mit dieser Darstellung können die Beziehungen zwischen einem Entnahmesystem (Kunde) und einem Bereitstellungssysteme (Lieferant) als zwei Stufen in einem arbeitsteiligen Prozess und damit die physischen und informatorischen Vorgänge in den mikrologistischen Funktionen veranschaulicht werden. Kooperation in Supply Chains Logistikketten - und mehr noch: komplexe Wertschöpfungsnetze - bestehen damit heute aus einer Vielzahl an Akteuren, was eine durchgehende Steuerung notwendig macht. In den meisten Fällen übernimmt dabei ein Unternehmen die Systemführer- LIterAtur IHDE, GÖSTA B. (1972): Logistik, Stuttgart 1972 IHDE, GÖSTA B. (1974): Physische Distribution, in: Handwörterbuch der Absatzwirtschaft (Hrsg. B. TIETZ), Stuttgart 1974, Sp. 1617-1627 IHDE, GÖSTA B. (1978): Distributionslogistik, Stuttgart, New York 1978 Bild 2: Die „Gatekeeper“-Funktion. (Aus Ihde 1972, S. 54) schaft und verfügt damit über die maximale (logistische) Kontrollspanne. Dieser, erstmals von Ihde in die deutschsprachige Literatur eingeführte Begrif (Ihde 1972, S. 55f.; Ihde 1978, S. 76f.) wird später zur System- und Logistikführerschaft weiterentwickelt und beschreibt nach wie vor zutrefend die Verteilung des Führungsanspruchs und die Zuständigkeiten in Wertschöpfungsketten. Idealerweise ergänzen sich die Kompetenzen der Akteure in der Supply Chain und führen insgesamt zu Produktivitäts-, Erlös- und Gewinnverbesserungen. Dafür ist zum einen die Aufteilung der gemeinsam in einer Wertschöpfungskette erwirtschafteten Kooperationsgewinne (Kooperationsrente, Koalitionsgewinn) (Ihde 1974, S. 1626; Ihde 1996, Sp. 1094) festzulegen, zum anderen opportunistisches Verhalten nach Ofenlegung und dem Austausch von Informationen (Umsatzzahlen, Kostendaten, Gewinnspannen) zu verhindern. Eine weitere Forderung von Ihde, den traditionellen Ansatz der Produktionsplanung durch eine „logistische Steuerstrecke“ abzulösen und damit die Bereiche Beschafung und Absatz miteinzubeziehen (Ihde 1987, S. 9), greift sehr früh die funktionsübergreifende Betrachtung des Supply Chain Managements auf, die sich später in der Ablösung des Pushdurch das Pull-Prinzip konkretisiert. ■ Borislav Bjelicic, Prof. Dr. Senior Vice President, Group Corporate Communications DVB Bank Se, Frankfurt Honorarprofessor, Universität Mannheim borislav.bjelicic@dvbbank.com Christian Femerling, Dr. Geschäftsführer Investa Holding GmbH, eschborn, Lehrbeauftragter School of Logistics, Hochschule Neuss für internationale Wirtschaft Regionalgruppensprecher Rhein, Bundesvereinigung Logistik (BVL) christian.femerling@e-shelter.de Michael Schröder, Prof. Dr. Duale Hochschule Baden-Württemberg Mannheim Logistik-Netzwerk Baden-Württemberg (LogBW), Leiter Geschäftsstelle Mannheim Regionalgruppensprecher Rhein/ Neckar, Bundesvereinigung Logistik (BVL) michael.schroeder@ dhbw-mannheim.de IHDE, GÖSTA B. (1984a): Standortdynamik als strategische Antwort auf wirtschaftliche Strukturveränderungen, in: GAUGLER, E./ JACOBS, O./ KIESER, A. (Hrsg.): Strategische Unternehmensführung und Rechnungslegung, Stuttgart 1984, S. 83-96 IHDE, GÖSTA B. (1984b): Bestandsmanagement, in: BAUMGAR- TEN, H./ SCHWARTING, C. (Hrsg.): Bestandssenkung in Produktions- und Zulieferunternehmen, Schriftenreihe der Bundesvereinigung Logistik e. V., Band 11, Bremen 1984, S. 1-15 IHDE, GÖSTA B. (1984c): Transport, Verkehr, Logistik: Gesamtwirtschaftliche Aspekte und einzelwirtschaftliche Handhabung, München 1984 IHDE, GÖSTA B. (1986): Wirtschaftlicher Strukturwandel und industrielle Betriebsgröße, in: Industrielles Management, Festgabe zum 60. Geburtstag von Wolfgang Lück, hrsg. von JÜRGEN BLOECH, Göttingen 1986, S. 1-20 IHDE, GÖSTA B. (1987): Distribution als Element der logistischen Planungskette, in: SAP GmbH (Hrsg.): Kongreßhandbuch - Internationaler Software-Congress Karlsruhe, 7./ 8. September 1987, Walldorf 1987, S. L8/ 1-10 IHDE, GÖSTA B. (1988): Die relative Betriebstiefe als strategischer Erfolgsfaktor, in: Zeitschrift für Betriebswirtschaft, 58. Jg. (1988), Heft 1, S. 13-23 IHDE, GÖSTA B. (1989): Wettbewerbsstrategien der Spedition im Spannungsfeld zwischen (De-) Regulierung und Strukturwandel, in: Zeitschrift für Verkehrswissenschaft, 60. Jg. (1989), Nr. 2/ 3, S. 71-82 IHDE, GÖSTA B. (1991): Transport, Verkehr, Logistik: Gesamtwirtschaftliche Aspekte und einzelwirtschaftliche Handhabung; 2., völlig überarb. und erw. Aulage, München 1991 IHDE, GÖSTA B. (1996): Lieferantenintegration, in: KERN, W./ SCHRÖDER, H.-H./ WEBER, J. (Hrsg.): Handwörterbuch der Produktionswirtschaft, 2. völlig neu gestaltete Aulage, Stuttgart 1996, Sp. 1086-1095 IHDE, GÖSTA B. (1999): Mikro- und Makrologistik, in: WEBER, J./ BAUMGARTEN, H. (Hrsg.): Handbuch Logistik. Management von Material- und Warenlußprozessen, Stuttgart 1999, Sp. 115-128 IHDE, GÖSTA B. (2001): Transport, Verkehr, Logistik: Gesamtwirtschaftliche Aspekte und einzelwirtschaftliche Handhabung; 3., völlig überarb. und erw. Aulage, München 2001
