eJournals Internationales Verkehrswesen 65/1

Internationales Verkehrswesen
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0020-9511
expert verlag Tübingen
10.24053/IV-2013-0011
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2013
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»Der Ausbau der Schienenverbindungen ist kein Selbstläufer mehr«

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Winfried Hermann
Baden-Württemberg muss in den kommenden Jahren einen „Vergabeberg“ im Schienenpersonennahverkehr (SPNV) abbauen. Winfried Hermann, Minister für Verkehr und Infrastruktur, will mit einem zeitlich gestaffelten Vergabefahrplan und Landesgarantien für die Fahrzeugfinanzierung für möglichst viel Wettbewerb sorgen. Im Interview mit Internationales Verkehrswesen plädiert er außerdem dafür, neben dem Angebotsausbau auch die Vernetzung mit anderen Verkehrsträgern zum politischen Schwerpunktthema zu machen.
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Internationales Verkehrswesen (65) 1 | 2013 32 »Der Ausbau der Schienenverbindungen ist kein Selbstläufer mehr« Baden-Württemberg muss in den kommenden Jahren einen „Vergabeberg“ im Schienenpersonennahverkehr (SPNV) abbauen. Winfried Hermann, Minister für Verkehr und Infrastruktur, will mit einem zeitlich gestaffelten Vergabefahrplan und Landesgarantien für die Fahrzeuginanzierung für möglichst viel Wettbewerb sorgen. Im Interview mit Internationales Verkehrswesen plädiert er außerdem dafür, neben dem Angebotsausbau auch die Vernetzung mit anderen Verkehrsträgern zum politischen Schwerpunktthema zu machen. Herr Minister, Sie wollen das Angebot des Schienenpersonennahverkehrs ausbauen, beklagen aber gleichzeitig enger werdende inanzielle Spielräume - wie geht das zusammen? Wir wollen das Schienenverkehrsangebot im Land nochmals um weitere 15 bis 20 % ausweiten. Gegenüber dem Jahr der Bahnreform 1994 sind dies 75 % mehr Züge. Im Vergleich mit anderen Bundesländern ist das ein Spitzenwert. Im Gegensatz zur Vergangenheit ist der weitere Ausbau allerdings kein Selbstläufer mehr. Die Rahmenbedingungen haben sich drastisch verschlechtert: Seit Jahren sinkt die Kaukraft der vom Bund bereitgestellten Regionalisierungsmittel. Der Grund liegt darin, dass die Trassen- und Stationspreise deutlich stärker steigen, als die Regionalisierungsmittel jährlich dynamisiert werden. Baden- Württemberg wurde 2012 zusätzlich durch die Abschafung der Regionalfaktoren bei den Trassenpreisen exorbitant belastet. Insgesamt nahmen die Kosten für Trasse, Station und Bahnstrom der bundeseigenen DB-Infrastrukturgesellschaften binnen eines Jahres um rund 50 Mio. EUR zu. Die Renditeerwartungen des Bundes an sein Unternehmen Deutsche Bahn sind eine zentrale Ursache für diese Entwicklung - ein Umstand, der von den Ländern stark kritisiert wird. Wir fordern deshalb, dass Gewinne der DB-Netzsparte nicht an den Konzern abgeführt werden dürfen. Sie müssen dem Netz und dem Nahverkehr zugute kommen. Foto: MVI Baden-Württemberg INFraSTruKTur Interview Winfried Hermann Internationales Verkehrswesen (65) 1 | 2013 33 wie wirkt sich die derzeitige Praxis im Land aus? Wir müssen inzwischen die Hälfte der uns vom Bund zur Verfügung gestellten Regionalisierungsmittel für Infrastrukturkosten abführen. Die Folge ist ein strukturelles Deizit von derzeit 30 bis 40 Mio. EUR pro Jahr. Die grün-rote Landesregierung ist mit dem Ziel angetreten, Baden-Württemberg zur Pionierregion für nachhaltige Mobilität zu machen. Das geht nur mit einem deutlich besseren Angebot auf der Schiene, das für Pendler, Touristen und alle anderen so attraktiv ist, dass sie gerne umsteigen. Daran arbeiten wir. Angesichts drastisch verschlechterter Rahmenbedingungen sind dafür große Anstrengungen und sorgfältige Planungen erforderlich. Die neue Bundesregierung muss eine deutlich bessere inanzielle Basis für die Bestellung von Zügen schafen. Eine Dynamisierung der Regionalisierungsmittel um 3 % pro Jahr ist zwingend. wie sehen Ihre Planungen aus? Wir setzen als Landesregierung künftig auf eine gezielte, faire Wettbewerbspolitik. Sie ist der Schlüssel, um leistungsgerechte Preise am Markt zu erzielen. Einen Wettbewerb auf dem Rücken der Arbeitnehmer lehnen wir ab. Derzeit bedient noch die DB auf Basis eines großen Verkehrsvertrages aus dem Jahre 2003 bis 2016 39 Mio. der über 65 Mio. Zugkilometer im Land. Pro Zugkilometer bezahlt das Land derzeit über 10 EUR an die DB - das ist deutlich mehr, als die Bahn in anderen Bundesländern für vergleichbare Leistungen erhält. Unsere Vergabekonzeption zielt daher darauf, dass alle potentiellen Anbieter die gleichen Chancen haben, den Fahrgästen ein attraktives Angebot zu machen. was bedeutet das konkret? Das Land leistet seinen Beitrag, indem wir die zur Ausschreibung anstehenden Netze konzeptionell optimieren und den Wettbewerb zeitlich stafeln, damit sich auch kleinere Anbieter an möglichst vielen Verfahren beteiligen können. Darüber hinaus gibt das Land Kapitaldienstgarantien, die es Anbietern ermöglichen, Mittel für die hohen Investitionen in neues Wagenmaterial auf dem Kapitalmarkt günstig zu erhalten. Bei komplexen Netzen mit einem Investitionsvolumen von mehr als 100 Mio. EUR wollen wir zusätzlich das so genannte VRR-Modell anwenden, bei dem die Fahrzeuge in das Eigentum des Landes übergehen: Unternehmen bestellen die Züge, das Land kauft sie ihnen ab und verpachtet sie zurück. So haben auch kleinere Anbieter vergleichbare Finanzierungskosten und damit vergleichbare Startchancen wie der Staatskonzern DB. Das stärkt den Wettbewerb, führt zu günstigeren Preisen und Spielräumen, die eine Angebotsausweitung möglich machen. Die schwarz-gelbe vorgängerregierung war in diesem Bereich optimistischer und ging in ihrer Angebotskonzeption 2020 von einem um 30 % größeren Angebot aus. Die Finanzierung dieses Leistungszuwachses war zu optimistisch, das hat ein Kassensturz unserer Fachleute klar gezeigt. Die alte Landesregierung hat unterstellt, dass ein Wettbewerbsverfahren automatisch zu deutlich geringeren Preisen führt. Unter den heutigen Marktbedingungen - stark gestiegene Infrastrukturkosten und eine veränderte Marktsituation im SPNV - hat sich das als nicht haltbar erwiesen. Deshalb greifen wir steuernd ein. Nur wenn die Wettbewerber der Deutschen Bahn erkennen können, dass sie annähernd gleiche Gewinnchancen haben, und wenn sie die Risiken für beherrschbar halten, werden sie ihren Hut in den Ring werfen. Das Land leistet das durch einen zeitlich gestafelten Vergabekalender und die genannten Fahrzeuginanzierungsinstrumente. und wie wollen Sie in der Zwischenzeit verbesserungen erreichen? In Folge der zeitlichen Stafelung der Ausschreibungen brauchen wir in einzelnen Netzen Übergangsverträge von bis zu drei Jahren. Wir gehen davon aus, dass wir in diesem Zuge mit der DB AG vereinbaren werden können, frühzeitig moderneres Wagenmaterial einzusetzen. Das betrift vor allem kritische Strecken wie die Rems- und Murrbahn von Stuttgart nach Aalen bzw. nach Schwäbisch-Hall, auf denen bisher teilweise noch über 40 Jahre alte, rot lackierte Silberlinge laufen. Aktuell haben wir große Anstrengungen unternommen, um die gestiegenen Trassen- und Stationspreise aufzufangen. Durch einen inanziellen Kraftakt stellt die grün-rote Koalition im Doppelhaushalt 2013/ 14 in erheblicher Höhe Landesmittel zur Verfügung. So ließen im Jahr 2013 etwa 47 Mio. EUR zusätzliche Landesmittel in das eigentlich durch Bundeszuschüsse abzusichernde Schienenverkehrsangebot. Im Jahr 2014 werden es sogar 66 Mio. Euro sein. Dadurch werden nicht nur Zugabbestellungen verhindert, wie es sie in anderen Bundesländern gegeben hat. Auch neue Projekte konnten realisiert werden - zwischen Freiburg, Müllheim und dem elsässischen Mulhouse etwa fahren seit dem Fahrplanwechsel im Dezember 2012 auf einer reaktivierten Strecke die aufgrund ihrer Form und blauen Farbgebung „Blauwal“ genannten Züge. Auf der elektriizierten Münstertalbahn wird das Angebot ab Sommer 2013 deutlich ausgeweitet. Dennoch sind die Spielräume eng. welche Hebel können Sie noch in Bewegung setzen? Trotz der engen Spielräume können wir in der Verkehrspolitik einiges bewegen. Unser Leitmotiv lautet „Für Menschen, Mobilität und Lebensqualität“ und greift weit über die Förderung einzelner Verkehrsträger hinaus. Wir denken nicht in Sparten, sondern machen Politik aus Sicht der Bürgerinnen und Bürger. Diese wollen schnell, möglichst stressarm von A nach B reisen. Auch der ökologische Gedanke spielt eine immer größer werdende Rolle. Daraus ergibt sich dann die Wahl des Verkehrsmittels. Gerade bei jungen Menschen ist das Auto nicht mehr das Transportmittel Nummer 1. Sie denken vernetzt. Und wir tun es auch: Das Land fördert Vorhaben und Konzepte, die den Fahrgästen den Umstieg auf die Schiene und die Kombination mit anderen Verkehrsträgern so einfach wie möglich macht. Der ÖPNV-Innovationskongress in Freiburg hat deutlich gezeigt, dass das die zentrale Zukunftsherausforderung ist und wir auf einem guten Weg sind: Flächendeckende Echtzeitinformation, Servicecards, die die Nutzung von ÖPNV, Carsharing und Leihfahrrädern ermöglichen, komfortable Abstellmöglichkeiten für Fahrräder an Bahnhöfen und einiges mehr. Das sind alles Stellschrauben, an denen wir kräftig drehen, um gerade die Schiene noch attraktiver zu machen. Wir machen die Menschen nachhaltig mobil. ■ Winfried Hermann war von 1998 bis 2011 Grünen-Bundestagsabgeordneter mit den Arbeitsschwerpunkten Umwelt, Nachhaltige Entwicklung, Verkehr und Sport, zuletzt auch Vorsitzender des Ausschusses Verkehr, Bau und Stadtentwicklung seiner Bundestagsfraktion. Seit Mai 2011 ist er Minister für Verkehr und Infrastruktur der grün-roten Landesregierung in Baden-Württemberg. Zur PerSON Vom 11. bis 13. März 2013 fand der 6. ÖPNV-Innovationskongress im Kongresszentrum Konzerthaus in Freiburg statt. Auf Einladung des Ministeriums für Verkehr und Infrastruktur in Baden-Württemberg trafen sich über 500 Mobilitätsexperten und Vertreter der Verkehrsunternehmen und Verbünde, um über nachhaltige und zukunftsweisende Mobilitätsmodelle im Nahverkehr zu diskutieren. Sie beschäftigten sich in 20 Vorträgen und Workshops mit den Themen Kundenorientierung, Betrieb, Technologie, Marketing/ Tarif und Umweltverbund. Der Kongress wird dokumentiert unter: www.innovationskongress-bw.de ÖPNV-INNOVaTIONSKONGreSS hat das Ministerium für Verkehr und Infrastruktur Baden-Württemberg auch einen kurzen Erklärilm produziert, abrufbar unter http: / / bit.ly/ YvORnT. ZuM THeMa SPNV-FINaNZIeruNG