Internationales Verkehrswesen
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0020-9511
expert verlag Tübingen
10.24053/IV-2013-0016
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2013
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Abkehr vom Auto?
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Antje Flade
Seit Ende 2011 wird immer wieder in der Presse über die abnehmende Attraktivität des Autos vor allem
bei den jungen erwachsenen berichtet. Die Rede ist von einem Mentalitätswandel, der eine Verkehrswende ankündigt, eine Abkehr von der Automobilität. Stimmt das wirklich?
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Internationales Verkehrswesen (65) 1 | 2013 48 Abkehr vom Auto? Seit ende 2011 wird immer wieder in der Presse über die abnehmende Attraktivität des Autos vor allem bei den jungen erwachsenen berichtet. Die Rede ist von einem Mentalitätswandel, der eine Verkehrswende ankündigt, eine Abkehr von der Automobilität. Stimmt das wirklich? Z weifellos hätte eine Abkehr von der Mobilität mit dem Auto weitreichende wirtschaftliche, politische, soziale, gesellschaftliche und ökologische Folgen. Berichten darüber ist Aufmerksamkeit also sicher. Die Frage ist jedoch, worauf sich diese Berichte stützen. Welche Quellen dafür gibt es? Lässt sich eine „Automüdigkeit“ objektiv belegen? Und was könnten die Gründe für eine abnehmende Attraktivität des Autos sein? Die möglichen Gründe lassen sich in Pull- und Push-Faktoren einteilen. Erweiterte und verbesserte Verkehrsangebote gehören in die Kategorie der Pull-Faktoren, sich verschlechternde Bedingungen dagegen sind Push-Faktoren. Ein Beispiel für Push- Faktoren sind hohe Fahrzeugdichten, die ein zügiges Vorankommen behindern, so dass der Zeitaufwand entsprechend steigt; außerdem gehen im dichten Verkehr individuelle Unabhängigkeit und Flexibilität verloren. Verkehrsangebote mit Pull-Wirkung bieten Zeiteinsparung, Unabhängigkeit und Transportqualität: Ein Verkehrsmittel wird geschätzt, wenn man damit rasch und unaufwändig zum Ziel kommt, wenn es jederzeit verfügbar und wenn es komfortabel ist - es sind vorrangige Kategorien der Verkehrsmittelwahl. Ein alternatives Verkehrsangebot mit Pull-Qualitäten, jenseits des Autos, ist komfortabler öfentlicher Verkehr mit einem dichten Netz an Haltestellen und einer engmaschigenTaktfolge, die von Fahrplänen annähernd unabhängig machen. Relativ neu sind Car Sharing Angebote, die eine unabhängige Mobilität mit dem Auto ermöglichen, ohne dass man ein solches besitzt (Bild 1). Objektive Indikatoren, mit denen sich feststellen lässt, inwieweit die Automobilität infolge der Dynamik von Push- und Pull- Einlüssen abgenommen hat, sind • eine rückläuige Entwicklung des Pkw- Bestands, • eine Zunahme der Zahl der Haushalte ohne Pkw, • eine Verringerung der mit dem Auto zurückgelegten Kilometer sowie • eine abnehmende Führerscheinquote. Die Fakten: Der Bestand der gemeldeten Pkw steigt immer noch an, 2010 lag er um 1% über dem entsprechenden Vorjahreswert. Nach wie vor sind nur knapp ein Fünftel der bundesdeutschen Haushalte ohne Auto [1]. Nach der Studie Mobilität in Deutschland 2008 (MiD 2008) zeichnet sich bei der Verkehrsleistung keine Verringerung der mit dem Auto zurückgelegten Kilometer ab, eher ist das Gegenteil der Fall. Gleiches gilt für die Führerscheinquote, die zwischen 2002 und 2008 von 84 % auf 88 % gestiegen ist [2]. Keines dieser Ergebnisse spricht für eine Abkehr von der Automobilität. Ein weniger klares Ergebnis ergibt sich, wenn man nach Altersgruppen diferenziert und die Gruppe der jungen Erwachsenen in den Fokus rückt. Bei den 18bis 34-Jährigen in Deutschland haben sich die mit dem Auto zurückgelegten durchschnittlichen Wegelängen pro Person und Woche zwischen 1998 und 2008 von 279 auf 220 Kilometer verkürzt [3]. Bei nicht geringerer Verkehrsleistung bedeutet das, dass die jüngeren Die Autorin: antje Flade Foto: www.pd-f.de_biketec MOBILITÄT Verkehrsmittelwahl Internationales Verkehrswesen (65) 1 | 2013 49 Altersgruppen neben dem Auto vermehrt auch andere Verkehrsmittel nutzen. Nicht an Attraktivität verloren hat der Führerschein. Am 1.1.2012 betrug der Bestand an Pkw-Fahrerlaubnissen in der Altersgruppe der 18-bis 24-Jährigen insgesamt 4633 655, ein Jahr zuvor hatte er bei 4 666 592 gelegen. Bedenkt man aber, dass die Zahl der 18bis 24-Jährigen in diesem Zeitraum von 6 736 697 auf 6 653 199 zurückging, ist ersichtlich, dass von einem verringerten Interesse an einer Pkw-Fahrerlaubnis keinesfalls die Rede sein kann: Der Anteil der Führerscheinbesitzer in dieser Altersgruppe stieg von 69,27 % auf 69,65 % (Bild 2). Das Fahrrad bietet als individuell lexibles Verkehrsmittel ebenfalls Unabhängigkeit. Zudem ist es für einen großen Teil der im Alltag zurückzulegenden relativ kurzen Entfernungen ausreichend, auf diesen Strecken entsteht kein wesentlich höherer Zeitbedarf. Das Fahrrad besitzt zweifellos Pull-Qualitäten, dennoch gibt es keinerlei Anzeichen dafür, dass es in einem spürbaren Ausmaß das Auto ersetzen würde. Im Nationalen Radverkehrsplan 2020 wird zwar von einem gewachsenen Interesse am Fahrrad und dessen gestiegener gesellschaftlicher Wertschätzung gesprochen, was man an der höheren Bereitschaft, mehr Geld für Fahrräder und Zubehör auszugeben, ablesen könne [5]. Doch dies könnte ein Trugschluss sein, der durch die mangelnde Diferenzierung zwischen den Funktionen des Fahrrads als Verkehrsmittel und als Sportgerät zustande kommt. Weitaus wahrscheinlicher ist, dass man vor allem bereit ist, für ein Sport- und Freizeitgerät einiges zu investieren. Doch die dafür ausgegebenen Summen sind nicht unbedingt ein Maßstab für eine gestiegene Attraktivität des Fahrrads als Verkehrsmittel im Alltag. Dass die Bedeutung des Fahrrads in dieser Hinsicht nicht nennenswert gewachsen ist, geht aus der MiD 2008 hervor. Der Radverkehrsanteil an den zurückgelegten Wegen lag 2008 bei 10 %, im Jahr 2002 bei 9 %, bezogen auf die Zahl der zurückgelegten Kilometer zu beiden Zeitpunkten bei 3 % [2]. Beides spricht nicht für einen Bedeutungszuwachs des Fahrrads als Verkehrsmittel. Zusammenfassend ist festzustellen, dass sich in der Gesamtbetrachtung über alle Altersgruppen hinweg keine Anhaltspunkte dafür inden, dass Auto und Automobilität einen Attraktivitätsverlust erlitten haben. Das einzige Zeichen, das auf einen Wandel hindeutet, ist die Verringerung der Autokilometer junger Erwachsener bei einer insgesamt nicht abnehmenden Verkehrsleistung. Einen größeren Teil der Strecken, die sie zurücklegen wollen oder bewältigen müssen, bestreiten die jungen Leute heutzutage mit anderen Verkehrsmitteln. Dass sie jedoch nach wie vor die Möglichkeit haben möchten, automobil sein zu können, belegen die Statistiken des Zentralen Fahrerlaubnisregisters. Der Pkw-Führerschein ist ein Garant für eine eigenständige Automobilität, die jederzeit möglich ist, auch ohne dass man ein eigenes Auto besitzt oder eines im Haushalt vorhanden sein müsste. Er ist ein Pull-Faktor ersten Ranges, der die potenzielle Automobilität einschließt und auch den Zugang zu alternativen Angeboten wie dem inzwischen lächendeckend gewerblich betriebenen Car Sharing eröfnet. Abnehmende Autokilometer bei einer gleichbleibend hohen Führerscheinquote sind kein überzeugender Hinweis auf eine Abkehr vom Auto, sondern stattdessen auf eine Abkehr von der Monomodalität in Richtung einer selbstverständlicheren Multimodalität, zu der auch das Auto gehört. Die jungen Erwachsenen scheinen für das diferenzierte Angebot an alternativen Beförderungsmöglichkeiten ofen zu sein. Wenn es Pull-Qualitäten aufweist, wird es genutzt. ■ antje Flade, Dr. Umweltpsychologin, Angewandte Wohn- und Mobilitätsforschung, Hamburg awmf-hh@web.de Bild 2: Gesamtbevölkerung und Führerscheinbesitzer in der Altersgruppe der 18bis 24-Jährigen mit Trendlinie. QueLLen [1] Statistisches Bundesamt et al., 2011; telefonische Auskunft zur Bevölkerungsstatistik. [2] Infas & DLR (2010): Mobilität in Deutschland 2008 (MiD 2008). Im Auftrag des BMVBS. Berlin. [3] BMVBS (2010): Deutsches Mobilitätspanel (MOP) 1995-2009. Berlin. [4] Kraftfahrtbundesamt: Dokumente zum Fahrerlaubnisbestand im ZFER, Basistabellen; www.kba.de [5] BMVBS (2012): Nationaler Radverkehrsplan 2020. Berlin. Bild. 1: Nutzen statt besitzen - Konzepte wie Car2go erleichtern Automobilität ohne eigenes Auto. (Foto: Flade)
