eJournals Internationales Verkehrswesen 65/2

Internationales Verkehrswesen
iv
0020-9511
expert verlag Tübingen
10.24053/IV-2013-0041
61
2013
652

Carsharing - Ein verkehrspolitisches Lehrstück

61
2013
Oliver Schwedes
Das Carsharing erfährt, nachdem es jahrzehntelang ein Nischendasein gefristet hat, seit kurzem einen regelrechten Boom. Dabei handelt es sich allerdings um eine neue Generation des Autoteilens, die auch als Carsharing 2.0 bezeichnet wird. Führt dies zu mehr oder zu weniger Verkehr?
iv6520052
MOBILITÄT Carsharing Internationales Verkehrswesen (65) 2 | 2013 52 Carsharing - Ein verkehrspolitisches Lehrstück Das Carsharing erfährt, nachdem es jahrzehntelang ein Nischendasein gefristet hat, seit kurzem einen regelrechten Boom. Dabei handelt es sich allerdings um eine neue Generation des Autoteilens, die auch als Carsharing 2.0 bezeichnet wird. Führt dies zu mehr oder zu weniger Verkehr? Der Autor: Oliver Schwedes I m Gegensatz zum traditionellen stationsgebundenen Carsharing zeichnet sich Carsharing 2.0 durch eine stationsunabhängige Autonutzung aus. Indem das Fahrzeug im gesamten öfentlichen Stadtraum abgestellt und ausgeliehen werden kann, wird die kollektive Nutzung des Autos deutlich erleichtert und nähert sich dem von der privaten Autonutzung abgeleiteten Leitbild des ‚Nutzen ohne Nachzudenken‘. Die entscheidende Frage lautet, ob der wachsende Erfolg der kollektiven Autonutzung in urbanen Ballungszentren mit einer geringeren Autonutzung korrespondiert und damit eine nachhaltige Verkehrsentwicklung unterstützt, so wie es für das traditionelle Carsharing nachgewiesen werden konnte. Um zu beurteilen, inwiefern der Boom des Carsharing 2.0 seinem Image als Hofnungsträger für eine nachhaltige städtische Verkehrsentwicklung gerecht wird, ist es aufschlussreich, sich zunächst noch einmal die historische Genese des Carsharing zu vergegenwärtigen. Zur historischen Genese des Carsharing Intro - Die 1980er Jahre Die Umweltbewegung ist ein difuses Phänomen, so der Historiker Joachim Radkau (2011: 161). Umweltpolitische Aktivitäten haben immer wieder ihren sozialen Charakter verändert und wurden von einem tiefgreifenden Bedeutungswandel erfasst, wobei sie nicht selten zyklische Entwicklungen durchliefen. Das zeigt sich auch an der Kritik am Automobil, die so alt ist wie das technische Artefakt selbst. Gerade in den Anfängen der Automobilisierung nahm das derart massive Formen an, dass die Erfolgsgeschichte des Autos aus heutiger Sicht überraschen muss (vgl. Merki 2002). Seitdem oszilliert die Bewertung des Automobils zwischen dem Ideal der „freien Fahrt für freie Bürger“ und dem „Alptraum Auto“. Die Idee des Autoteilens bildete gleichsam den Kompromiss zwischen den beiden Extremen und sollte die Freiheit gewährleisten ohne, den Alptraum wahr werden zu lassen. Die ursprüngliche Philosophie des Carsharing setzt auf die bewusste Nutzung des Autos in jenen Fällen wo es nicht anders geht. Jedes Mal sollte daher überlegt werden, ob das Auto wirklich notwendig ist, oder ob es eine unter ökologischen Gesichtspunkten bessere Alternative gibt. Die Nutzungsbarrieren des stationsgebundenen Carsharing, die sich etwa daraus ergeben, dass das Auto nicht einfach zugänglich ist, weil sich der Parkplatz nicht vor der eigenen Haustür beindet, dass es frühzeitig gebucht werden muss etc., sind also keine Kinderkrankheiten, die es auszumerzen gilt, so wie es heute oftmals dargestellt wird. Die Hürden sind vielmehr fester Bestandteil der ursprünglichen Carsharing Philosophie, die das Auto frühzeitig als gesellschaftliches Problem identiiziert hatte und deshalb auf seinen Verzicht zielte. Die Nutzungsbarrieren bewirkten schon damals eben jenen Routinebruch in der Verkehrsmittelwahl, über den sich die Verkehrswissenschaft in den 1990er Jahren verstärkt den Kopf zerbrechen sollte. Intermezzo - Die 1990er Jahre Die Automobilindustrie war Anfang der 1990er Jahre in eine Strukturkrise geraten und hatte zusammen mit ihren ärgsten Kritikern darüber nachdacht, ob es womöglich an der Zeit sei, sich vom Autobauer zum Mobilitätsdienstleister zu wandeln. Doch mit der Überwindung der Krise hatte sich auch das Möglichkeitsfenster schon bald wieder geschlossen. Diese enttäuschende Erfahrung nahmen einige der seinerzeit heftigsten Auto-Kritiker zum Anlass, über die ungebrochene Attraktivität des privaten Automobils nachzudenken (vgl. Canzler/ Knie 1994). Ausgehend von der damals populären soziologischen Zeitdiagnose einer Zweiten Moderne, die sich durch individuelle Lebensstile auszeichne, gerieten vor allem die Autonutzer in den Blick. Mit umfangreichen soziologischen Studien wurde der enge Zusammenhang von Moderne und Mobilität begründet (vgl. Rammler 1999) und das Auto als der adäquate Ausdruck individueller Mobilität von Menschen in modernen Gesellschaften interpretiert (vgl. Canzler 1996). Aus dieser Zeitdiagnose eines vermeintlich schicksalhaften Wirkzusammenhangs zwischen Individualisierung und Automobilisierung in modernen Gesellschaften, wurde Bild 1: Die ursprüngliche Casharing-Idee (Quelle: http: / / ttbielefeld.iles.wordpress. com/ 2009/ 05/ privates_carsharing_21_09_2010.jpg) Internationales Verkehrswesen (65) 2 | 2013 53 die Konsequenz gezogen, die generelle Gewährleistung von Automobilität zum Ausgangspunkt einer Reform des Carsharing zu machen. Um das Carsharing aus der Nische zu führen, müsse folglich das Autoteilen attraktiver gestaltet werden. Die Menschen in modernen Gesellschaften seien darauf angewiesen, so die zentrale sozialwissenschaftliche Einsicht, Mobilitätsroutinen zu entwickeln, um ihren Alltag zu bewältigen. Ihnen sei nicht zuzumuten, jedes Mal von neuem darüber nachzudenken, welches Verkehrsmittel sie zu dem entsprechenden Anlass wählen sollten. Im Gegensatz zu der ursprünglichen Carsharing-Philosophie, die auf den Autoverzicht gerichtet war und die eingeschränkte Attraktivität als Anlass für die bewusste individuelle Verkehrsmittelwahl nutzte, ging es nun darum, die Hürden soweit wie möglich zu senken. Verfolgte die ursprüngliche Carsharing-Idee eine problembewusste Nutzung des Autos, zielte das neue Leitbild auf ein ‚Nutzen ohne Nachzudenken‘! Präludium - Die 2000er Jahre Seit der Jahrtausendwende setzte dann eine Professionalisierung des stationären Carsharing ein, wodurch die Nutzung immer einfacher und komfortabler wurde. So ist mittlerweile eine kurzfristige Buchung über das Internet möglich. Das Handling am Auto erfolgt unkompliziert mit einem Chip auf dem Führerschein zum Öfnen des Fahrzeugs. Schließlich sind einzelne Kommunen dazu übergegangen, Stellplätze für Carsharing-Autos zur Verfügung zu stellen, wodurch eine bessere Verteilung und damit Zugänglichkeit möglich ist. Gleichwohl entsprechen die Nutzungsanforderungen des professionalisierten stationären Carsharings noch immer der Ursprungsidee, jede Autonutzung vorher zu bedenken. Eine neue Qualität im Sinne des ‚Nutzen ohne Nachzudenken‘ erfährt das Carsharing seit kurzem durch stationslose Angebote. Die Autos von Anbietern wie Drive Now, Car2go oder Multicity, sind im gesamten Stadtgebiet verteilt. Einmal als Mitglied angemeldet, können die Autos von da an ohne Bild 2: Das modernisierte stationäre Carsharing (Foto: Hartmut Reiche, Deutsche Bahn AG) Technische Daten: ISBN 978-3-87154-473-6, 367 Seiten, Format 135 x 180 mm, Broschur Preis : € 53,50 mit CD-ROM inkl. MwSt., zzgl. Porto Kontakt: DVV Media Group GmbH Telefon: +49/ 40/ 2 37 14 - 440 | Fax: +49/ 40/ 2 37 14 - 450 E-Mail: buch@dvvmedia.com Das Standardwerk zur Entwicklung von Verkehr und Verkehrswirtschaft Zuverlässige Übersicht zu allen Daten und Fakten der Mobilität Inkl. CD mit umfangreichen Daten zur direkten Weiterverarbeitung Herausgegeben vom Bundesministerium für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung Der Verkehr in Tabellen, Zahlen und Übersichten Jetzt aktuell! Bestellen Sie Ihr Exemplar unter www.eurailpress.de/ viz Hier nden Sie auch eine Leseprobe! 5428_anz_dvv_viz_182x130.indd 1 16.05.2013 15: 25: 09 MOBILITÄT Carsharing Internationales Verkehrswesen (65) 2 | 2013 54 vorherige Buchung jederzeit spontan genutzt werden. Betreiber sind die großen Automobilkonzerne BMW (Drive Now), Daimler (Car2go), Citroën (Multicity), die sich mit großen Flottenbetreibern im Bereich der Autovermietung (Sixt, Europcar etc.) zusammengetan haben, um ihre Produkte werbewirksam im öfentlichen Raum zu präsentieren. Carsharing 2.0 eröfnet eine Autonutzung, die mindestens so attraktiv ist wie der private Pkw, ja diesen in mancher Hinsicht wahrscheinlich sogar übertrift. Wird doch die Autoverfügbarkeit auf ein bisher nicht gekanntes Maß gesteigert. Denn unabhängig vom Autobesitz eröfnet dieses niedrigschwellige Angebot jedem die Möglichkeit der Autonutzung jederzeit und ohne nachzudenken. Dadurch, dass die Angebote vor allem in Innenstadtgebieten gemacht werden, bilden sie faktisch eine unschlagbar attraktive Alternative zum Umweltverbund. Dementsprechend werden diese Angebote vor allem von jungen Erwachsenen genutzt, die über kein eigenes Auto verfügen und spontan, ohne nachzudenken, in einen Pkw springen, anstatt wie üblich den Bus zu nehmen. Konsequenterweise sind immer mehr Nutzer/ -innen gleich in zwei oder drei Carsharing-Vereinen Mitglied, um die Wahrscheinlichkeit zu erhöhen, jederzeit ein Auto zu inden und zu einer Spritztour bereit zu sein. Damit besteht die Gefahr, dass das Carsharing 2.0 dazu beiträgt, dass Fahrten gemacht werden die sonst gar nicht oder zumindest nicht mit dem Auto durchgeführt würden. Ausblick Der Historiker Joachim Radkau stellt im Rückblick auf die Weltgeschichte der Umweltbewegung fest, sie zeichne sich durch eine widersprüchliche Entwicklung aus.. Die relativ kurze Geschichte des Carsharing scheint dies zu bestätigen. Der innovative Ansatz hat in dem Maße seinen sozialen Charakter verändert, wie neue gesellschaftliche Akteure mit ihren speziischen Interessen das Konzept in ihrem Sinne umdeuteten. Von den Vertretern der Automobilindustrie ließen sich die Sozialwissenschaftler empfehlen, ihre „gestörte Liebe zum Automobil“ (Prätorius 2004) zu relektieren und stärker vom Auto aus zu denken, um das Carsharing aus seinem Nischendasein zu befreien. Das neue Leitbild des ‚Nutzen ohne Nachzudenken‘, so plausibel es aus der individuellen Sicht der Autofahrer auch war, in die sich die Soziologen meinten hineinversetzen zu müssen, verkehrte den ursprünglichen Ansatz des Carsharing, der auf den bewussten Auto-Verzicht gerichtet war, in sein Gegenteil. Aber erst die Automobilindustrie selbst war in der Lage, das Carsharing wirklich konsequent vom Auto aus zu denken und das Prinzip des ‚Nutzen ohne Nachzudenken‘ mit ihrem stationslosen Carsharing zur vollen Entfaltung zu bringen. Die Verkehrssoziologen entpuppen sich damit als Zauberlehrlinge, die in bester Absicht den Geist des ‚Nutzen ohne Nachzudenken‘ gerufen haben, der ihnen jedoch zunehmend außer Kontrolle gerät und sich zur gedankenlosen Autonutzung im Rahmen des neuen Carsharing versteigt. Bleibt abschließend die Frage zu beantworten, welche verkehrspolitische Einsicht das Lehrstück vom Carsharing vermittelt. Als reines Geschäftsmodell wird das Carsharing keinen Beitrag zu einer nachhaltigen Verkehrsentwicklung leisten. Wenn das neue Carsharing nicht nur als Vehikel für die Werbestrategien der Autokonzerne dienen soll, dann müssen die politisch Verantwortlichen vor Ort die Carsharing-Betreiber in ein integriertes Planungskonzept einbinden und dem Autoteilen im Sinne einer nachhaltigen Verkehrsentwicklung einen klar deinierten Stellenwert zuweisen. So wäre etwa darüber zu beinden, ob die stationslosen Carsharing-Autos weiterhin kostenlos im öfentlichen Stadtraum parken sollten. Wie verhält sich dies z.B. mit der von immer mehr Städten und Gemeinden verfolgten verkehrspolitischen Strategie des Parkraummanagements, das darauf zielt den Autoverkehr einzuschränken? Stehen sich mit dem lächendeckenden Autoangebot und dem Parkraummanagement nicht zwei sich widersprechende Anreizsysteme gegenüber? Wenn es tatsächlich so ist, wie immer wieder behauptet wird, dass junge Erwachsene, die die Innenstädte als Lebensraum bevorzugen, auf ein eigenes Auto verzichten (vgl. Becker 2013), warum soll man gerade dieser Klientel das Autonutzen so einfach machen und sie auf diese Weise gleichsam zum Autofahren verführen? Um diese und andere verkehrspolitische Fragen entscheiden zu können, ist es notwendig, das hier nur ansatzweise skizzierte komplexe Wirkgefüge des städtischen Verkehrs im Sinne einer integrierten Planungsstrategie zu relektieren. ■ LIterAtur Becker, Joachim (2013): Geteilte Freud‘ ist halbes Leid. In: Süddeutsche Zeitung, 06./ 07. April 2013, S. 41. Canzler, Weert/ Andreas Knie (1994): Das Ende des Automobils. Fakten und Trends zum Umbau der Autogesellschaft. Heidelberg. Canzler, Weert (1996): Das Zauberlehrlings- Syndrom. Entstehung und Stabilität des Automobil- Leitbildes. Berlin. Merki, Christoph M. (2002): Der holprige Siegeszug des Automobils. 1895-1930. Zur Motorisierung des Straßenverkehrs in Frankreich, Deutschland und der Schweiz. Wien. Prätorius, Gerhard (2004): Nachwort: Das Portionsauto oder Die gestörte Liebe zum Automobil. In: Projektgruppe Mobilität (Hrsg.): Die Mobilitätsmaschine. Versuche zur Umdeutung des Autos. Berlin, S. 131-142. Radkau, Joachim (2011): Die Ära der ökologie. Eine Weltgeschichte. München. Rammler, Stephan (1999): Die Wahlverwandtschaft von Moderne und Mobilität - Vorüberlegungen zu einem soziologischen Erklärungsansatz. In: Regina Buhr/ Weert Canzler/ Andreas Knie (Hrsg.): Bewegende Moderne. Fahrzeugverkehr als soziale Praxis. Berlin, S. 39-71. Oliver Schwedes, Dr. Institut für Land- und Seeverkehr, Fachgebiet Integrierte Verkehrsplanung, Technische Universität Berlin oliver.schwedes@tu-berlin.de Bild 3: Das neue stationslose Carsharing (Foto: car2go)