Internationales Verkehrswesen
iv
0020-9511
expert verlag Tübingen
10.24053/IV-2013-0056
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2013
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Robustheit des Verkehrssystems - Steinkohletransporte für den Energiesektor
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2013
Bernd Buthe
Peter Jakubowski
Die große Bedeutung zuverlässiger Verkehrsadern wird uns oftmals erst dann schmerzlich bewusst, wenn Verkehrswege zerstört oder langfristig unterbrochen sind. Naturereignisse wie die jüngste Hochwasserkatastrophe und ihre auch bundesweit spürbaren verkehrlichen Auswirkungen verdeutlichen die Notwendigkeit, die Robustheit des Verkehrssystems zu analysieren. Nun erhält das Thema Robustheit auf Bundesebene zunehmende Bedeutung.
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Internationales Verkehrswesen (65) 3 | 2013 16 POLITIK Verkehrsinfrastruktur Robustheit des Verkehrssystems - Steinkohletransporte für den Energiesektor Die große Bedeutung zuverlässiger Verkehrsadern wird uns oftmals erst dann schmerzlich bewusst, wenn Verkehrswege zerstört oder langfristig unterbrochen sind. Naturereignisse wie die jüngste Hochwasserkatastrophe und ihre auch bundesweit spürbaren verkehrlichen Auswirkungen verdeutlichen die Notwendigkeit, die Robustheit des Verkehrssystems zu analysieren. Nun erhält das Thema Robustheit auf Bundesebene zunehmende Bedeutung. Die Autoren: Bernd Buthe, Peter Jakubowski A bhängig von den Eigenschaften der betrofenen Verkehrsinfrastruktur können Schadensereignisse nach Ursache und Intensität eingeordnet werden. Die Auswirkungen von Störungen sind abhängig von • Typ, Funktion sowie Kapazität und Auslastung der jeweiligen Infrastruktur, • der geographischen und topographischen Lage der betrachteten Infrastruktur und • von Art und Stärke der Störung [1]. Verkehrsinfrastrukturen können durch Extremwetterereignisse und Naturkatastrophen [2], Unfälle oder Sabotage bzw. gezielte Anschläge gestört, beschädigt oder zerstört werden. Der Bauzustand der Verkehrsinfrastruktur und entsprechende Instandsetzungsmaßnahmen können ebenfalls zu teils gravierenden Einschränkungen führen. Die Intensität von Störungen der Verkehrsinfrastruktur reichen von zeitlich befristeten Unterbrechungen der Nutzbarkeit einer an sich funktionsfähigen Infrastruktur über Beschädigungen bis hin zur völligen Zerstörung der betrofenen Anlagen. Robustheit alternativer Verkehrssysteme Robustheit umfasst die Fähigkeit des Verkehrssystems, seine Funktionen auch bei Schwankung der Umgebungsbedingungen, die zu zeitlich befristeten und räumlich be- Foto: Bernd Buthe Bild 1: Schematische Darstellung alternativer Verkehrssysteme. Internationales Verkehrswesen (65) 3 | 2013 17 grenzten Störungen des „Normalbetriebs“ führen, unter Minimierung der Kosten aufrecht zu erhalten. Dabei werden ein Verkehrssystem oder seine Teile als umso robuster eingestuft, je geringer bei gleichen Bedingungen die störungsbedingten Nutzerkosten ausfallen [3]. Die Analyse der Robustheit und der zu erwartenden Folgekosten ermöglicht eine Einschätzung darüber, welche Teile der Verkehrsinfrastruktur zu stärken sind. Zu Beginn der verkehrlichen Erschließung stand der Netzbzw. Systemgedanke noch nicht im Vordergrund. Vielmehr wurden zunächst wenige Einzelverbindungen realisiert. Über die Einrichtung erster Eisenbahnlinien sollten bestimmte Ziele für den Güter- und Personentransport in einer neuen Qualität erreichbar werden. In ihren Anfängen war die Eisenbahn ein System (Bahnhof-Schiene), das so robust oder störungsanfällig war, wie die einzelnen Schieneninfrastrukturelemente selbst. Umgehungen oder Ausweichrouten mit vergleichbarer Qualität waren nicht verfügbar. Wenn eine Bahnstrecke gestört war, waren die entsprechenden Orte für die Zeit der Störung nicht erreichbar. Soweit man in den Anfängen der Verkehrserschließung von einem Netz oder System sprechen kann, ist dieses insgesamt so robust wie das schwächste seiner Teile [4]. Die Systemleistung kann in diesem Fall nur durch Reparatur oder Ersatz wieder hergestellt werden. Einfache Systeme (Schema 1 in Bild 1), verfügen also über keine hohe Robustheit gegenüber Störungen. Der Aubau von parallelen Ersatzkapazitäten in Verkehrssystemen ist unter Kosten- und Nutzenaspekten keine optimale Strategie, da Duplikate die meiste Zeit nicht genutzt werden. Zusätzliche Verbindungen erhöhen die Erreichbarkeit der Standorte. Schema 2 in Bild 1 weist eine weit höhere Systemrobustheit auf als Schema 1 und 3. Beispielsweise kann Punkt C von A aus bei einer Vielzahl von möglichen Störungen weiterhin erreicht werden. Schema 2 zeichnet sich durch die höchste Anzahl von Verbindungen zwischen den sechs Siedlungspunkten aus (10 gegenüber 5), die Infrastrukturkosten fallen also (unter der Annahme, jede Verbindung sei zu identischen Kosten bereitzustellen) doppelt so hoch aus wie in Schema 1 und 3. Gleichzeitig zeichnet sich Schema 2 aber durch eine deutlich bessere Erreichbarkeit aller 6 Siedlungspunkte aus. Die zusätzlichen Verbindungen AB, BC, CD, DE und EA (Vergleich Schema 3 zu 2) steigern zum einen direkt die Qualität des Gesamtsystems, indem sie verstärkt Direktverkehre ermöglichen (Zeit- und Transportkostenersparnis im System). Zum anderen wirkt sich die engere Vernetzung innerhalb des Verkehrssystems positiv auf dessen Robustheit aus. Robustheit: das Beispiel der Steinkohletransporte für den Energiesektor Die Robustheit des Verkehrssystems lässt sich nur im Zusammenhang mit den nutzerseitigen Bedingungen einer Branche o. ä. wie der uni- oder multi-modalen Transportanbindung oder der jeweiligen Lagerhaltungsstrategie abbilden. Zudem sind die konkreten Transportverlechtungen zentral für die Beurteilung der Robustheit. Hier werden Ergebnisse aus Verkehrsanalysen für die Steinkohleverstromung in Deutschland vorgestellt [5]. Veränderte Produktionsbedingungen im Inland bis hin zum 2018 vollzogenen Ausstieg aus der deutschen Steinkohleförderung führen aus Transportsicht zu einer steigenden Abhängigkeit deutscher Kraftwerksstandorte von den ARA-Häfen. Zudem gewinnen Binnenschifstransporte insbesondere auf dem Rhein an Bedeutung. Als Linieninfrastruktur weist der Rhein (Schema 1, Bild 1) eine vergleichsweise geringe Robustheit auf, weil im Normalfall keine Ausweichmöglichkeiten bestehen. Eine komplette Sperrung des Rheines für mehrere Wochen hätte schwerwiegende Folgen. Südlich gelegene Ziele könnten nicht mehr per Binnenschif erreicht werden. Steinkohlekraftwerke ohne Bahnanschluss oder ausreichende Lagerkapazitäten liefen Gefahr, ihren Betrieb einstellen zu müssen. Durch die Auswertung der Verkehrsleistungsstatistiken auf der Ebene der Verkehrsbezirke [6] in Kombination mit Luft- und Satellitenbildanalysen wurden die 50 größten deutschen Kraftwerksstandorte klassiiziert und bestimmten Standortkategorien zugeordnet (Bild 2). Diferenziert werden die Standorte danach, ob sie an das Bahnbzw. Wasserstraßennetz angeschlossen sind und ob hier eine Nutzung in den letzten Jahren stattgefunden hat (Bild 3). Es ist z. B. festzustellen, dass einige Kraftwerke zwar über einen Bahnanschluss verfügen, diesen jedoch nur für den Abtransport der Abfallprodukte (z. B. Gips) und nicht für die Rohstofversorgung nutzen. Insgesamt ergeben sich im Rahmen der Robustheitsanalysen bei den 50 größten Steinkohlekraftwerken in Deutschland sechs unterschiedliche Standortklassiikationen (siehe Tabelle-1). Bild 2: Steinkohlekraftwerke und ihre Anbindung an Bundeswasserstraßen [7]. Bild 3: Steinkohletransporte 2010 per Bahn und Binnenschif ab 20.000 t. Interaktive Darstellung mit dem QR-Code unter http: / / public.tableausoftware.com/ views/ Steinkohlentransporte/ Verkehrsstrme? : embed =y&: display_count=no. POLITIK Verkehrsinfrastruktur Internationales Verkehrswesen (65) 3 | 2013 18 Das Thema Lagerläche ist für die Robustheitsanalyse neben der verkehrlichen Anbindung ein entscheidendes Kriterium. Für die Kraftwerksbetreiber besteht der wirtschaftliche Anreiz, möglichst wenig Lagerläche vorzuhalten und diese auch nach Möglichkeit kaum zu nutzen. Die Vorhaltung einer Lagerläche mit Steinkohle bindet Kapitel und verursacht Kosten, die aus Sicht der Betreiber durch eine „just-in-time“ Lieferung per Bahn oder Binnenschif reduziert werden können. Hier entsteht ein Trade-of zwischen Systemsicherheit und Rentabilität. Im Rahmen der Robustheitsanalyse wurde für jedes Kraftwerk nicht nur die genutzte Lagerläche, sondern auch der tägliche Steinkohlebedarf bestimmt, um die Reservekapazitäten zu schätzen. Für fehlende Kraftwerksdaten wurden Durchschnittswerte angesetzt. Die hier betrachteten Kraftwerke haben auf dieser Schätzbasis je nach Kraftwerkstyp Reserven von durchschnittlich 31 bis 107 Tagen. Der größte Anteil der Bruttoleistung wird von Kraftwerksstandorten geleistet, die über eine bi-modale Anbindung verfügen und diese auch nutzen. Mit einer geschätzten Reserve von 86 Tagen und der Möglichkeit, sowohl den Verkehrsträger Schiene als auch das Binnenschif zu nutzen, können diese Standorte als robust bezeichnet werden. Mit einer geschätzten Reserve von durchschnittlich 58 bis 66 Tage sind die uni-modalen Kraftwerksstandorte tendenziell kritisch einzustufen. Eine Reserve von zwei Monaten dürfte zwar als ausreichend eingestuft werden, jedoch besitzt ein Drittel der Kraftwerke dieser Kategorie keine Lagerlächen. Fazit Neben der Verlässlichkeit der Handelsbeziehungen zu den Staaten, aus denen Deutschland seine Importkohle bezieht, sind für eine robuste Brennstofversorgung der Kraftwerke primär Qualität und Vielfalt der infrastrukturellen Anbindung, Flexibilität in der Lieferlogistik sowie die Lagerkapazitäten am Kraftwerk selbst von Bedeutung. Dabei ist davon auszugehen, dass eine bi-modal ausgerichtete Anbindung und Lieferlogistik tendenziell robuster gegenüber externen Störungen ist als eine uni-modale Anbindung. Zudem kann die tatsächliche Nutzung von Brennstolagerlächen am Kraftwerk Störungen auf relevanten Verkehrsinfrastrukturen abpufern. Ein Anpassungsbedarf bei der Steinkohlelogistik ist in Einzelfällen zu erkennen. Die Robustheitsanalyse hat gezeigt, dass einige Steinkohlekraftwerke ihre Versorgungssicherheit erhöhen können, indem sie Bahn- und auch Binnenschiftransporte nutzen und ausreichende Lagerkapazitäten schaffen. So plant z. B. das Rheinhafen Dampfkraftwerk mit seiner fast vollständigen Abhängigkeit von Binnenschiftransporten aus dem ARA-Gebiet ihr bestehendes Kohlelager auf 450.000 t zu erweitern und trotz Mehrkosten im Vergleich zum Binnenschif die Anlieferung per Bahn auszubauen [8]. Ziel ist eine robuste Brennstofversorgung und damit die stärkere Unabhängigkeit vom Rhein, dessen Schibarkeit durch Niedrig- oder Hochwasser aber auch durch Schifsunfälle gestört werden kann. Das Thema Robustheit erhält auf Bundesebene zunehmende Bedeutung und wird in den laufenden Arbeiten zur Methodik der Bundesverkehrswegeplanung berücksichtigt. So wird die Sicherstellung der Güterversorgung als verkehrspolitisches Oberziel und die Zuverlässigkeit von Transporten als abgeleitetes Ziel formuliert. ■ Bernd Buthe Bundesinstitut für Bau-, Stadt- und Raumforschung (BBSR), Referat „Verkehr und Umwelt“, Bonn bernd.buthe@bbr.bund.de Peter Jakubowski, Dr. Bundesinstitut für Bau-, Stadt- und Raumforschung (BBSR), Referat „Verkehr und Umwelt“, Bonn peter.jakubowski@bbr.bund.de Robustheitsanalyse deutscher Steinkohlekraftwerke 2010 (> 100 MW) Kategorie und Anzahl der Kraftwerksstandorte elektrische Bruttoleistung (MW) genutzte Lagerläche in ha geschätzte Reserve in Tage (Mittelwerte) Tranportaufkommen Empfang 2010 in 1.000 t insgesamt Anteil Aufkommen in % Anteill Herkunftsregion in % Binnenschif Bahn Seeverkehr ARA- Gebiet deutscher Hub deutsche Steinkohle Europa Ost weltweit Kategorie A: „Bi-modale Kraftwerksstandorte“ mit aktiver Nutzung des Bahn- und Wasserstraßenanschlusses 24 Steinkohlekraftwerke 13.007 109,73 86 49.970.221 52,4 45,4 2,2 57,2 26,8 11,3 4,4 0,3 Kategorie B1: „Bi-modale Kraftwerkstandorte“ mit ausschließlicher Nutzung des Bahnanschlusses 4 Steinkohlekraftwerke 1.419 8,61 31 18.860.921 20,7 79,3 0,0 26,3 27,5 42,8 3,4 - Kategorie B2: „Bi-modale Kraftwerkstandorte“ mit ausschließlicher Nutzung des Wasserstraßenanschlusses 6 Steinkohlekraftwerke 3.066 66,62 107 18.313.288 17,1 44,7 38,2 24,7 25,9 14,6 28,3 6,4 Kategorie C1: „Uni-modaler Kraftwerkstandort“ mit Bahnanschluss 11 Steinkohlekraftwerke 6.051 62,15 66 28.172.087 30,2 69,8 0,0 37,9 34,5 25,3 2,2 0,0 Kategorie C2: „Uni-modaler Kraftwerkstandort“ mit Wasserstraßenanschluss 4 Steinkohlekraftwerke 2.025 17,3 58 16.519.425 27,7 34,8 37,5 16,8 16,1 30,8 14,3 21,9 Kategorie d: „Kraftwerksstandort ohne Bahn- und Wasserstraßenanschluss“ 1 Steinkohlekraftwerk 724 3,96 42 4.928.595 27,8 72,1 0,1 58,0 0,8 31,1 - 0,1 Tabelle 1: Robustheitsanalyse deutscher Steinkohlekraftwerke 2010 (> 100 MW). (Quelle: Eigene Berechnungen, Umweltbundesamt (2013) sowie Verkehrsleistungsstatistiken des Statistischen Bundesamtes (2013)) QueLLen [1] ENEI, R. et al. (2011): WEATHER, Weather Extremes: Assessment of Impacts on Transport Systems and Hazards for European Regions, Deliverable 2, Vulnerability of Transport systems, Main report, Status: Public Version: 2.0 (revised inal), 14.06.2011. [2] FOELSCHE, U.(2004): Regionale Entwicklung und Auswirkungen von Naturkatastrophen auf das Verkehrsverhalten, in: Steininger, K. u.a. (Hrsg.): Extreme Wetterereignisse - Auswirkungen und Auswege für betrofene österreichische Wirtschaftssektoren, 1. Aulage 2004, Berlin, Heidelberg, S. 25-39. [3] ERATH, A. et al. (2009): Vulnerabilitiy assessment of Swiss road network, in: Transportation Research Record: Journal of the Transportation Research Board, Volume 2137 / 2009, S. 118-126. [4] AY, Nihat (2006): Prinzipien der Robustheit, in: Forschungsbericht 2006 - Max-Planck-Institut für Mathematik in den Naturwissenschaften, München, www.mpg.de/ 429102/ forschungs- Schwerpunkt2, Zugrif am 07.03.2013. [5] Für die ausführlichen Ergebnisse vgl. BUTHE/ JAKUBOWSKI (2013): Robustheit des Verkehrssystems - Anpassungsbedarf bei der Steinkohlelogistik, in: BBSR-Analysen Kompakt 11/ 2013 Bonn. [6] Statistisches Bundesamt (2013): Verkehrsleistungsstatistiken, www-genesis.destatis.de/ genesis/ online, Zugrif am 03.04.2013. [7] Umweltbundesamt (2013): Kraftwerksdatenbank, Kraftwerke in Deutschland (ab 100 Megawatt elektrischer Leistung), www.umweltbundesamt.de/ energie/ archiv/ kraftwerke_in_ deutschland_datenbank.xls, Zugrif am 03.04.2013. [8] Wikipedia (2013): Rheinhafen-Dampfkraftwerk Karlsruhe, http: / / de.wikipedia.org/ wiki/ Rheinhafen-Dampfkraftwerk_ Karlsruhe, Zugrif am 03.04.2013.
