eJournals Internationales Verkehrswesen 65/3

Internationales Verkehrswesen
iv
0020-9511
expert verlag Tübingen
10.24053/IV-2013-0070
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2013
653

Kollaborative Mobilität

91
2013
Jörg Beckmann
Alain Brügger
Kollaborative Mobilität steht zwischen Individualverkehr und öfentlichem Verkehr. Sie stellt etablierte Verkehrsanbieter vor große Herausforderungen und eröffnet zugleich kommenden Generationen von Verkehrsnutzern neue Mobilitätschancen.
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Internationales Verkehrswesen (65) 2 | 2013 57 Kollaborative Mobilität Kollaborative Mobilität steht zwischen Individualverkehr und öfentlichem Verkehr. Sie stellt etablierte Verkehrsanbieter vor große Herausforderungen und eröfnet zugleich kommenden Generationen von Verkehrsnutzern neue Mobilitätschancen. Die Autoren: Jörg Beckmann, Alain Brügger W er sich mit dem Thema Mobilität befasst, wird früher oder später mit der Diskussion des Zugangs zu räumlichen Funktionen als wesentlicher Faktor konfrontiert - ist dieser Zugang doch der eigentliche Grund für die Bewegung des Menschen im Raum. Genau um diesen „Access“ geht es bei der kollaborativen Mobilität: „Zugang“ zu einer Mobilitätsdienstleistung zu haben, ohne das Produkt, welches diesen Dienst liefert, zu besitzen. Durch dieses Merkmal grenzt sich die kollaborative Mobilität deutlich gegenüber der auf dem Privatbesitz des Mobilitätswerkzeuges ruhenden klassischen Individualmobilität ab. Wenn die Ko-Mobilität nun nicht mehr Teil des traditionellen Individualmobilitätssystems ist - gehört sie dann etwa zum öfentlichen Verkehr? Wird das private Auto mit seiner gemeinschaftlichen Nutzung automatisch Teil des öfentlichen Personennahverkehrs in unseren Städten? Die Antwort auf diese Fragen müsste ganz eindeutig „Nein“ lauten, denn weder wird hier eine Verkehrsdienstleistung von der öfentlichen Hand erbracht, noch ist sie öfentlich zugänglich. Anders als beispielsweise bei städtischen Verkehrsbetrieben tritt hier kein (halb-)öfentlicher Verkehrs-Großanbieter auf, der im B2C-Format seine Leistung einem Verkehrsnutzer verkauft. Zudem ist diese Leistung auch nicht öfentlich zugänglich, sondern kann eben nur direkt im P2P-Format zwischen einem Anbieter und einem Nachfrager gehandelt werden. Mit dieser jeweils klaren Abgrenzung gegenüber den klassischen „Blockmächten“ im Verkehrswesen - dem privaten Individualverkehr auf der einen und dem öfentlichen kollektiven Verkehr auf der anderen Seite - entsteht mit dem kollaborativen Verkehr bzw. der kollaborativen Mobilität heute etwas gänzlich Neues, das die etablierten Verkehrsanbieter auf beiden Seiten vor große Herausforderungen stellt und den kommenden Generationen von Verkehrsnutzern neue Mobilitätschancen eröfnet (Bild 1). Was zeichnet Ko-Mobilität aus? Kollaborative Mobilität ist nachhaltige Mobilität. Sie ist ökonomisch nachhaltig, weil sie vorhandene Kapazitäten besser auslastet und keine zusätzlichen Infrastrukturinvestitionen benötigt. Sie ist ökologisch nachhaltig, weil sie aufgrund der besseren Auslastung vorhandener Kapazitäten endliche Ressourcen schont und sozial nachhaltig, weil sie neue Formen gemeinschaftlicher Mobilitätsorganisation fördert. Doch wie lässt sich die Ko-Mobilität über ihren Beitrag zur Nachhaltigkeit genauer und noch weiter charakterisieren? Wofür steht sie und wofür nicht? Ö ffentlicher Individualtransport Ö ffentlicher Kollek i vtransport Privater Individualtransport Privater Kollek i vtransport Bild 1: Kollaborative Mobilität im Gesamtverkehrssystem (Graik: Mobilitätsakademie) Foto: Nachbarschaftsauto MOBILITäT Mobilitätsverhalten MOBILITäT Mobilitätsverhalten Internationales Verkehrswesen (65) 3 | 2013 58 Nutzen statt besitzen Die Parole „nutzen statt besitzen“ schmückt seit einigen Jahren die Fahnen von CarSharing-Anbietern rund um den Globus. In der Tat konnten die im Laufe der letzten 20 Jahre entstandenen CarSharing-Unternehmen mit diesem Schlagwort ihr Kerngeschäft in eindrucksvoller Weise auf den Punkt bringen. Nur die Nutzung eines Automobils nachzufragen, ohne aber Kauf und Besitz zu wollen, ist mittlerweile ein fester Bestandteil urbanen Mobilitätsverhaltens. Das Wachstum des Schweizer Marktführers „Mobility CarSharing“ belegt zudem eindrucksvoll, wie erfolgreich dieses Geschäftsmodell auch unternehmensseitig ist. Aber auch etablierte Automobilhersteller haben ja in den letzten Jahren die besitzlosen Nutzungsformen aus dem klassischen Leasinggeschäft heraus weiterentwickelt und sich in CarSharing-Projekten wie Car2Go (Daimler) oder DriveNOW (BMW) engagiert. Dies zum Teil auch aufgrund der Einsicht, dass „besitzfreie“ Formen der Autonutzung durch Leasing, Vermietung oder Teilung gegenüber dem einmaligen Verkauf den Vorteil haben, dass sich die Kundenbeziehung deutlich verlängern und vertiefen lässt. Den Produktnutzen zu wollen, den Produktbesitz aber nicht, ist eine Grundvoraussetzung für jedwede Art des Autoteilens - unabhängig davon, ob der Anbieter ein unternehmerisch agierender Mobilitätsanbieter ist (B2C) oder der Nachbar zwei Straßen weiter seinen Wagen im Internet zum Teilen ins Netz anbietet. Über diese Gemeinsamkeit hinaus weist die kollaborative Autonutzung über Peer-to-Peer-Netze jedoch noch weitere Merkmale auf, die die Angebote von CarSharing-Unternehmen typischerweise nicht mehr erfüllen. Teilen statt horten Anders als beim „Nutzen statt Besitzen“ des B2C-CarSharings ist beim P2P-Autoteilen das Automobil anbieterseitig nach wie vor in privatem Besitz. Der Anbieter hält aus unterschiedlichen Gründen am Privatbesitz des Fahrzeugs fest, sucht aber gleichzeitig nach Möglichkeiten, die ixen Kosten für den Unterhalt über ein Mietgeschäft zu minimieren. Das Motiv ist hier nicht die Abschafung des eigenen Wagens und der damit einhergehende oder zumindest als solcher wahrgenommene Autonomieverlust, sondern der, nicht ständig den Produktnutzen vorhalten (sprich horten) zu müssen, ohne ihn tatsächlich in Anspruch zu nehmen. Wie dann das jeweilige Mietgeschäft realisiert wird, hängt ganz von der Art des P2P- Netzes ab, in dem sich Anbieter und Nachfrager inden. RelayRides in den USA beispielsweise überlässt den Anbietern jeweils 65 Prozent des Mietpreises, bezahlt mit weiteren 20 Prozent die Versicherung und behält selbst 15 Prozent als Vermittlungsgebühr. Cartribe in der Schweiz hingegen bietet über seine Plattform zurzeit nur die Vermittlung des Kontaktes an, dafür aber gratis. Hier kann jeder Fahrzeugbesitzer, der teilen statt horten möchte, einen eigenen Stamm gründen und so eine Horde von Stammesmitgliedern aus der Nachbarschaft um sich und sein Auto scharen. Bewegen statt stehen Die Ko-Mobilität steht auch für einen volkswirtschaftlichen Nutzen, der sich u.a. durch etwaige Reduktionen bei Infrastrukturkosten für den ruhenden Verkehr, also den Parkraum, ergeben kann. Ein Auto steht im Durchschnitt 23 Stunden am Tag, so zumindest die Faustregel. Ofensichtlich beansprucht ein Personenwagen im Nichtbetrieb einen erheblichen Anteil der Straßeninfrastrukturen in den Agglomerationen. Ein geteiltes Auto ist in der Regel ein bewegtes Auto, das weniger steht und damit weniger stark die Infrastrukturen des ruhenden Verkehrs in Anspruch nimmt. Hinzu kommt, dass ein CarSharing-Auto etwa sechs bis acht private Personenwagen ersetzt und somit einiges an Freiraum im Parkraum schaft. Verdienen statt bezahlen Zu verdienen, anstatt nur zu bezahlen, ist ein weiteres, ganz zentrales Merkmal der Ko-Mobilität. Die Kosten für den privaten Besitz eines Wagens werden so auf andere umgewälzt und der Halter genießt nach wie vor die Vorteile, die er im Privatwagenbesitz sieht. Anders als vielleicht noch beim volkswirtschaftlichen Nutzen, lässt sich der individuelle Nutzen beim Anbieter schon heute klar erfassen. Das private Automobil verändert dabei seine volkswirtschaftliche Bedeutung und wird von einem klassischen Konsumgut zu einem Produktionsmittel in der neuen Ökonomie des Teilens. Nicht jeder, der als Ko-Mobilitätsanbieter heute Geld verdienen möchte, braucht allerdings ein mobiles Produktionsmittel für die Realisierung seines Geschäftsmodells, oft reicht auch schon ein Stück Garageneinfahrt, so wie beispielsweise in London. Dank parkatmyhouse.com kann der Einpendler in die Londoner City heute Geld und Zeit sparen indem er seinen Wagen einfach vor eine freie Toreinfahrt in der Nähe seines Büros stellt. Mit P2P-Parken werden die ständig wiederkehrenden Debatten um das Für und Wider neuer Parkgaragen in den Innenstädten möglicherweise in Zukunft überlüssig. Vernetzen statt vereinzeln Genauso wie der Trend des Ko-Konsums einstmals zentrale Alltagspraktiken, wie das Teilen oder Tauschen in der Mobilität, wieder neu belebt hat, belügelt er auch bereits existierende Mobilitätsdienstleistungen, wie zum Beispiel das Mitfahren. Die Vereinbarung von Mitfahrgelegenheiten auf einem der zahlreichen europaweit agierenden Portale hat sich heute zu einem einträglichen Geschäftsmodell entwickelt. Neben dem Kostenreduktionsefekt ist „RideSharing“ aber auch eine Lifestyle-Entscheidung, denn bei der Ko-Mobilität geht es nicht nur um die Erbringung einer Transportleistung, sondern ebenso oft um die Vermarktung eines Mobilitätserlebnisses - nicht anders also als in der Erlebniswelt des öfentlichen Verkehrs oder in der Markenwelt eines Autoherstellers. Worin besteht aber dieses Mobilitätserlebnis? Bei Mitfahrgelegenheiten kann auf jeden Fall Geld gespart werden und nicht selten auch Zeit. Hinzu kommt aber noch, dass Mitfahren in der sozialen Gruppe des „Pools“ Identität stiftet - die gleiche Art von Identi- Bild 2: Schlüsselcharakteristika der kollaborativen Mobilität (Graik: Mobilitätsakademie) Teilen sta t horten Fahrzeug Nutzen sta t besitzen Bewegen sta t stehen Infrastruktur Verdienen sta t bezahlen Befreien sta t binden Nutzer Vernetzen sta t vereinzeln Internationales Verkehrswesen (65) 3 | 2013 59 tät, die viele private Automobilisten für sich mit dem Kauf einer bestimmten Automarke verbinden. Identität und Distinktion sind, frei nach Pierre Bourdieu, die beiden übergeordneten Aspekte für oder gegen die Zugehörigkeit zu einer bestimmten Lebensbzw. Mobilitätsstilgruppe. Wer ko-mobil ist, gehört also zu einer Gruppe alternativ, innovativ und teilweise kollektiv Reisender, die nicht nur anders sind, sondern ihre Mobilität eben auch „smarter“ organisieren, als - um es lapidar zu sagen - jene, die Geld, das sie nicht haben, für Mobilitätswerkzeuge ausgeben, die sie nicht nutzen, um Menschen zu beeindrucken, die sie nicht mögen. Befreien statt binden Mobilität ist gleichzeitig gelebte Autonomie und Teilhabe am sozialen Leben. Sie vergrößert die individuellen Aktionsräume, schaft neue, multilokale Lebensstile und biograische Mobilitätsereignisse und erweitert so die persönlichen Netzwerke. In der (globalen) Netzwerkgesellschaft nimmt die räumlich disperse Anordnung sozialer Bezugspersonen zu und beeinlusst das Verkehrsverhalten dahingehend, dass mit einem weiteren Anstieg des motorisierten Individualverkehrs zu rechnen ist. Diese Entwicklung stellt die Politik vor neue Herausforderungen, denn „die räumlich disperse Anordnung enger sozialer Bezugspersonen stellt ein Hindernis für die aus ökologischen Gründen erforderliche Verringerung des motorisierten Verkehrsaukommens dar. Sie wirkt den Bemühungen der Politik um eine Reduzierung des PW-Verkehrs entgegen, um die negativen Auswirkungen des Verkehrsaukommens zu verringern“. 1 Mit der Einbindung des Automobils in die Ko-Mobilität wird das Automobil Gegenstand einer sozialen Innovation, welche es dem MIV erlaubt, sowohl seine Umweltbilanz zu verbessern als auch seine Wohlfahrtsgewinne zu steigern. Die Ko-Mobilität verändert das eindimensionale Verständnis individueller Mobilität, bei der ein autonomer Nutzer mit seinem Privatwagen ein gesellschaftspolitisches Risiko darstellt, in Richtung eines mehrdimensionalen Mobilitätsleitbildes, in dem viele interdependente Nutzer durch die Inanspruchnahme des Nutzungsservice eines Automobils (und nicht durch seinen Privatbesitz) ihre Mobilitätsoptionen erweitern und Verkehrsmittelwahlfreiheiten vergrößern (Bild 2). Fazit Nutzen, teilen, bewegen, verdienen, vernetzen, befreien - das sind die Merkmale der Ko-Mobilität, wie sie heute wahrgenommen wird. Alles Merkmale wohlgemerkt, mit denen man ausschließlich Positives assoziiert. In der Tat eröfnen sich mit den neuen P2P- Netzen Mobilitätsoptionen, die sowohl einen individuellen als auch volkswirtschaftlichen Nutzen versprechen. Die Zuwachsraten der einschlägigen Internetplattformen im gesamten Feld des „kollaborativen Konsums“ belegen, auf welch große Nachfrage die unterschiedlichen Anbieter bestimmter Nutzungsservices, wie eben dem Autoteilen, derzeit trefen. ■ 1 Ohnmacht, T: Mobilitätsbiograie und Netzwerkgeograie, Eigenverlag, Zürich 2009, S. IX Alain Brügger, Dipl.-Ing. Wissenschaftlicher Mitarbeiter Mobilitätsakademie, Bern alain.bruegger@tcs.ch Jörg Beckmann, Dr. Direktor der Mobilitätsakademie, Bern joerg.beckmann@tcs.ch Im Mai 2013 veranstaltete die Mobilitätsakademie zum ersten Mal den World Collaborative Mobility Congress „wocomoco“ in Luzern. Der Kongress wird auch 2014 wieder stattinden. Mehr Infos unter http: / / www.wocomoco.ch. wOrLD COLLAbOrAtIve MObILItY COngress 7.11.2013 Gesellschaftshaus im Palmengarten Frankfurt am Main Veranstalter: DVWG e.V. Kontakt: +49(0)30 293 60 60, hgs@dvwg.de www.deutscher-mobilitaetskongress.de Energie und Mobilität - unterwegs in eine nachhaltige Gesellschaft Der Trefpunkt der Mobilitätsbranche