Internationales Verkehrswesen
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0020-9511
expert verlag Tübingen
10.24053/IV-2013-0077
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2013
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Formalisierte Bewertung kooperativer Verkehrstelematiksysteme
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Wolfgang Niebel
Die Palette verfügbarer Funktionalitäten von Fahrerassistenzsystemen (FAS) soll ab dem Jahr 2015 um die Telematikanwendung kooperativer Systeme (V2X) erweitert werden. Um die damit erzielbaren Efekte vergleichbar bewerten zu können, wurden im Forschungsprojekt KOLINE drei existente Bewertungsverfahren aus dem Straßenverkehrsbereich auf ihre Übertragbarkeit untersucht und angewandt. Die Ergebnisse lassen, trotz notwendiger Weiterentwicklungen sowohl der Bewertungsverfahren als auch der Technologien, auf einen positiven Technologienutzen schließen.
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TECHNOLOGIE Wissenschaft Internationales Verkehrswesen (65) 3 | 2013 74 E ine nähere Beschreibung von Fahrerassistenzsystemen (FAS) und deren Entwicklungstrends ist in [1] zu inden. Die Erweiterung um den kooperativen Aspekt beinhaltet die Kommunikation und den Datenaustausch zwischen Fahrzeugen untereinander (V2V) und mit der Verkehrsinfrastruktur (V2I) wie beispielsweise einer Lichtsignalanlage (LSA). Im Projekt KOLINE [2] wurden die Anwendungsmöglichkeiten auf den Gebieten Komfort und Verkehrseizienz adressiert. Neben dem LSA-Assistent, auch als Green Light Optimised Speed Advisory (GLOSA) bekannt, stand die Verbesserung der LSA-Rückstauschätzung durch Fahrzeugmeldungen im Fokus. Die dritte KOLI- NE-Komponente, eine modellbasierte echtzeitfähige Signalprogrammoptimierung, bediente sich keiner V2X-Funktionalität. Die Notwendigkeit, solche Verkehrstechnologien einer wissenschaftlich fundierten Wirksamkeitsbewertung zu unterziehen, wird ebenfalls in [1] hervorgehoben. Dabei sollten nicht nur die aktiv adressierten Projektziele im verkehrlichen Bereich einbezogen werden, um Veränderungen gegenüber dem Ist-Zustand festzustellen oder Szenarienreihungen vorzunehmen. Auch die umfassendere volkswirtschaftliche Sicht mit dem Nachweis ökonomischer Sinnhaftigkeit ist empfehlenswert. Um die Efekte der KOLINE-Komponenten ermitteln zu können, kam die mikroskopische Verkehrssimulation eines Braunschweiger Netzausschnittes mit drei ausgerüsteten V2I- LSA-Kreuzungen zum Einsatz. Der zugrunde liegende reale Streckenzug als Bestandteil der Anwendungsplattform Intelligente Mobilität (AIM) [3] wurde für technische Versuche genutzt, kam aber aufgrund nicht realisierbarer hoher Fahrzeugausstattungsraten für Erhebungen nicht in Frage. Mit der Simulationssoftware AIMSUN NG 6.1.3 wurden der kalibrierte und validierte Ist-Zustand sowie sechs Szenarien T1 bis T6 mit den Ausstattungsraten [0; 5; 15; 25; 35]- % berechnet, wobei mit 35 % zusätzlich der einfache Status-quo-Rückstauschätzer betrachtet wurde. Für die Weiterverarbeitung standen die in 15-Minuten-Intervallen aggregierten Indikatorenwerte mehrerer Kriterien der Zielfelder Qualität des Verkehrsablaufs, Umfeldverträglichkeit sowie Wirtschaftlichkeit zur Verfügung. Bewertungsverfahren und ihre Anwendungsunterschiede Diese Indikatorenwerte kamen in drei existenten formalisierten Bewertungsverfahren parallel zum Einsatz, um deren generelle Eignung zur Telematikbewertung festzustellen. Dabei handelt es sich um die rein verkehrstechnischen Verfahren Qualitätsstufe des Verkehrsablaufs (QSV) gemäß dem Handbuch für die Bemessung von Straßenverkehrsanlagen (HBS) [4] und Performance Index Formalisierte Bewertung kooperativer Verkehrstelematiksysteme Die Palette verfügbarer Funktionalitäten von Fahrerassistenzsystemen (FAS) soll ab dem Jahr 2015 um die Telematikanwendung kooperativer Systeme (V2X) erweitert werden. Um die damit erzielbaren Efekte vergleichbar bewerten zu können, wurden im Forschungsprojekt KOLINE drei existente Bewertungsverfahren aus dem Straßenverkehrsbereich auf ihre Übertragbarkeit untersucht und angewandt. Die Ergebnisse lassen, trotz notwendiger Weiterentwicklungen sowohl der Bewertungsverfahren als auch der Technologien, auf einen positiven Technologienutzen schließen. Der Autor: Wolfgang Niebel - 0 10 20 30 40 50 60 70 80 90 100 A B C D E F mittlere-Wartezeit-w-[s] Qualitätsstufen Bild 1: Qualitätsstufen nach HBS in Abhängigkeit der mittleren Wartezeit an LSA-Kreuzungen Internationales Verkehrswesen (65) 3 | 2013 75 TECHNOLOGIE Wissenschaft Betrachtungszeitraum umfasst bei zeitlich konstanten Nutzen und Kosten ein Jahr (sonst 20 Jahre), also 8.760 Stunden, welche wiederum nach 360 Stundengruppen mit höchst unterschiedlichen Verkehrsstärken unterteilt werden. Dies bereitete bei der Hochrechnung der Simulationsergebnisse Probleme, da weder im Minimumnoch im Maximumbereich Ergebnisse vorlagen und keine gesicherten Erkenntnisse zu Extrapolationen existieren. Bewertungsergebnisse Die teilweise recht feinen verkehrlichen Veränderungen durch die KOLINE-Komponenten fanden in der QSV durch deren grobe Kategorisierung lediglich in den Szenarien T4, T5 und T6 Niederschlag in Form einer Verschlechterung beim MIV+GV sowie einer Verbesserung beim ÖPNV. Dieses Verfahren ist somit ungeeignet zur Bewertung. Die PI-Tagesverläufe am Beispiel des westlichen Knotens in Bild 2 verdeutlichen dagegen recht gut die Unterschiede zwischen dem Ist-Zustand und dem repräsentativen Szenario T1 mit 0 % Ausstattung (nur LSA-Optimierung). Diese fallen je nach geschalteten LSA-Programmen recht unterschiedlich aus. Im Tagesmittel liegt der PI=30 des Ist-Zustand jedoch nur geringfügig über dem PI=29 von T1 und den anderen Szenarien. Dies liegt an der zeitlich diskreten Gewichtung über die Verkehrsströme, wodurch die gute Morgenspitzenstunde des Ist-Zustands stark zur Geltung kommt. Die Nutzen-Kosten-Analyse verdeutlicht am besten die Unterschiede der einzelnen Szenarien, trotz der angesprochenen bedingten Übertragbarkeit. Zunächst ist in Bild 3 festzustellen, dass es Unterschiede zwischen den „Nebenknoten“ mit gemeinsam signalisierten Richtungsfahrstreifen und dem „Hauptknoten“ mit zeitlich ver- (PI) nach TRL/ Wietholt [5], sowie die volkswirtschaftliche Kosten-Nutzen-Analyse (KNA) des Bundesverkehrswegeplans 2003/ 2009 (BVWP) [6, 7]. Die QSV als dimensionsloser Gütemaßstab im Wertebereich A bis F bestimmt sich anhand der Transformation eines einzigen Kriteriums; bei LSA-Kreuzungen ist dies die mittlere Wartezeit. Dabei gelten jedoch für die Verkehrsmodi MIV+GV, ÖPNV, Rad und Fuß jeweils unterschiedliche Schwellwerte (vgl. Bild 1). Aufgrund fehlender Verfahrensanweisungen zur Wertsynthese - weder über die Verkehrsmodi noch über die Knotenpunktzufahrten hinweg - sind Gesamtaussagen über präferierte Szenarien später quasi nicht möglich. Das US-amerikanische Vorbild Highway Capacity Manual HCM hingegen ermöglicht inzwischen eine multikriterielle Bewertung der kompletten Kreuzung. Ebenso gibt es wissenschaftliche Ansätze zur multimodalen Bewertung, die einen belastbaren Variantenvergleich erst ermöglichen. Der PI erfüllt die dazu notwendigen Voraussetzungen, indem er die Kriterien Anzahl der Halte, Wartezeit sowie Verkehrsmittelauslastung einbezieht, gewichtet, synthetisiert und auf die Anzahl der Verkehrsteilnehmer normiert. Das Ergebnis ist ein dimensionsloser Gütemaßstab, dessen Idealwert bei 0 liegt und der umso schlechter ausfällt, je größer er ist. Im Detail gibt es noch Nachbesserungsbedarf bei der Festlegung einzelner Gewichte. Die Sensitivität ist jedoch ungleich größer als bei der QSV, da keine Transformation vorgenommen wird. Sowohl die QSV als auch der PI werden vor allem auf die Spitzenstunden angewendet, die konkret für die Referenzstrecke zwischen 16 und 17 Uhr liegt. Daneben wurde der PI aber auch für die komplette Bewertungsdauer zwischen 6 Uhr und 22 Uhr ermittelt. Das umfangreichste Verfahren mit den berücksichtigten Indikatoren Reisezeit, Kraftstofverbrauch, Schadstof- und CO 2 -Emissionen sowie Verkehrsmittelauslastung ist der BVWP, wobei diese Indikatoren teilweise in andere Kriterien bzw. die Monetarisierungsraten einließen und damit nicht mehr klar erkennbar bleiben. Die üblicherweise ebenfalls betrachteten Kriterien Lärmimmissionen und Unfälle konnten nicht berücksichtigt werden, da die makroskopischen verkehrsstärkeabhängigen Modelle des BVWP nicht für mikroskopisch wirkende FAS einsetzbar sind und auch keine alternativen Modelle bedenkenlos zum Einsatz kommen konnten. Die Fahrleistung wurde wegen des kleinen Netzausschnittes ohne Alternativrouten als konstant angesetzt und blieb ebenfalls unberücksichtigt. Bei kooperativen Funktionen mit großräumiger Netzwirkung wie z. B. Routing darf dies natürlich nicht geschehen. Die immer wichtiger werdende Gruppe der Radfahrer bleibt gemäß BVWP unberücksichtigt. Das Nutzen-Kosten-Verhältnis kann für das Gesamtnetz, aber auch für sinnvoll trennbare Netzelemente ermittelt werden. Der - 0 5 10 15 20 25 30 35 40 45 50 6 8 10 12 14 16 18 20 PI-[‐] Uhrzeit Pockelsstraße-K61 Ist T1 - (0%) Signalprogramm ‐ Umschaltpunkte Bild 2: Performance Index im Tagesverlauf des Ist-Zustandes und des Szenarios T1 am Knoten Pockelsstraße (K61) TECHNOLOGIE Wissenschaft Internationales Verkehrswesen (65) 3 | 2013 76 QueLLen [1] PROKOP, G.: Marktdurchdringung schaft Sicherheit, IV (63) 6/ 2011, S. 48 f. [2] KOLINE Konsortium (Hrsg.): Kooperative und optimierte Lichtsignalsteuerung in städtischen Netzen, Schlussbericht zum Forschungsprojekt. Braunschweig, 2013. (über elib.dlr.de recherchierbar) [3] SCHNIEDER, L., LEMMER, K.: Eine Plattform für Verkehrsforschung, IV (64) 4/ 2012, S. 63 f. [4] FGSV (Hrsg.): Handbuch für die Bemessung von Straßenverkehrsanlagen (HBS), Fassung 2009. ISBN 978-3-941790-35-3, FGSV Verlag GmbH, Köln, 2001. [5] WIETHOLT, T.: Einsatzbereiche Grüner Wellen und verkehrsabhängiger Steuerungen. Dissertation, ISSN 1437-8299, Schriftenreihe des Lehrstuhls für Verkehrswesen Ruhr-Universität Bochum, Heft 33, Bochum, 2009. [6] BMVBW (Hrsg.): Bundesverkehrswegeplan 2003, Grundlagen für die Zukunft der Mobilität in Deutschland. Beschluss der Bundesregierung vom 2. Juli 2003, Berlin, 07/ 2003. [7] BMVBS (Auftraggeber): Aktualisierung von Bewertungsansätzen für Wirtschaftlichkeitsuntersuchungen in der Bundesverkehrswegeplanung, Schlussbericht. Essen, Freiburg, München, 11/ 2009. setzter Linksabbieger-Signalisierung gibt. Dies führt teilweise zu gegenseitigen Fahrzeugbeeinlussungen und in der Folge zu Nutzenreduktionen. An den Nebenknoten für sich betrachtet fällt auf, dass steigende Ausstattungsraten nicht zwangsläuig zu einem deutlichen Nutzenzuwachs führen. Das Nutzen-Kosten-Verhältnis der Szenarien T2 bis T6 beträgt für die beiden Nebenknoten zwischen 1,6 und 4,1; für T1 liegt es bei 172 (sic! ). Aus volkswirtschaftlicher Sicht ist der Einsatz der untersuchten kooperativen Systeme also zu empfehlen. ■ Wolfgang Niebel, Dipl.-Ing. Wissenschaftlicher Mitarbeiter, Deutsches Zentrum für Luft- und Raumfahrt e.V. (DLR), Institut für Verkehrssystemtechnik, Berlin wolfgang.niebel@dlr.de - ‐ 30 ‐ 20 ‐ 10 0 10 20 30 40 T1 - (0%) T2 - (5%) T3 - (15%) T4 - (25%) T5 - (35%) T6 - (35%oR) Nutzen-p.a.-[T€] Szenario Nebenknoten - K61 Nebenknoten - K46 Hauptknoten - K47 Bild 3: Knoten bezogener volkswirtschaftlicher Nutzen der Szenarien ECO MOBIL expo & congress 13. + 14. Nov. 2013 Messe Offenburg Hinweis Der Beitrag basiert auf dem Projekt KOLI- NE (Kooperative und optimierte Lichtsignalsteuerung in städtischen Netzen) und ist gefördert vom Bundesministerium für Wirtschaft und Technologie im 3. Verkehrsforschungsprogramm. Projektpartner waren das Institut für Verkehr und Stadtbauwesen sowie das Institut für Regelungstechnik der TU Braunschweig, das Institut für Automation und Kommunikation e.V. Magdeburg (ifak), die Transver GmbH München und die Volkswagen AG.
