eJournals Internationales Verkehrswesen 65/4

Internationales Verkehrswesen
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0020-9511
expert verlag Tübingen
10.24053/IV-2013-0089
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2013
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Warten und Starten für das Klima

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2013
Matthias Schmidt
Ingrid Kleinert
Thomas Sauter-Servaes
Effizientere Güterverkehre spielen eine entscheidende Rolle, wenn die gesetzten Klimaziele erreicht werden sollen. Tatsächlich bedarfsgerechte Liefergeschwindigkeiten können hierzu ein wichtiger Schlüssel sein, wie die Ergebnisse des „MovingIDEAS“-Innovationsprozesses zeigen.
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LOGISTIK Online-Versand Internationales Verkehrswesen (65) 4 | 2013 22 Warten und Starten für das Klima Effizientere Güterverkehre spielen eine entscheidende Rolle, wenn die gesetzten Klimaziele erreicht werden sollen. Tatsächlich bedarfsgerechte Liefergeschwindigkeiten können hierzu ein wichtiger Schlüssel sein, wie die Ergebnisse des „MovingIDEAS“-Innovationsprozesses zeigen. Die Autoren: Matthias Schmidt, Ingrid Kleinert, Thomas Sauter-Servaes E gal ob Bücher, Elektronikgeräte, Kleidungsstücke oder sogar Lebensmittel - im Einzelhandel nimmt der Anteil der Waren, die über das Internet bezogen werden, stetig zu. Bereits 2012 wurden 6,5 Prozent des Gesamtumsatzes im deutschen Einzelhandel durch Onlineshops erwirtschaftet [1]. Tendenz steigend. Prognosen gehen davon aus, dass der Anteil der Nicht-Lebensmittel, die über das Internet bestellt werden, von derzeit etwas über 10 Prozent bis 2020 auf mind. 30 bis 40 Prozent ansteigen [2; 3]. Dabei schätzt es der Konsument scheinbar besonders, wenn nach Abschluss der Bestellung die Ware so schnell wie möglich zugesandt wird. Verwunderlich ist diese Entwicklung nicht, bedenklich aber schon. Denn die Folgen dieses Siegeszugs werden zunehmend zu einer Belastungsprobe für unsere Verkehrsinfrastrukturen und letztendlich auch für unsere Umwelt. Um vor diesem Hintergrund die Nachhaltigkeit und Wirtschaftlichkeit in der Zustellung kleinteiliger Sendungen auch in Zukunft zu gewährleisten, bedarf es innovativer Lösungen. Aufgrund der hohen Komplexität einer solchen Problemstellung kann diese jedoch selten durch eine Person oder Organisation gelöst werden, da hierfür das Fachwissen aus verschiedenen Disziplinen zusammengebracht werden muss. Viele neue Produkte scheitern am Markt, weil sie nicht an den Bedürfnissen der Kunden orientiert sind. Deshalb öffnen Unternehmen zunehmend vormals geschlossene Innovationsprozesse für externe Fachexperten und potentielle Nutzer. Eine erprobte Möglichkeit Innovationsprozesse offen und interdisziplinär zu gestalten, stellen unternehmensübergreifende Onlineplattformen dar [4; 5]. Ein Beispiel hierfür ist die Innovationsplattform „MovingIDEAS“ (moving-ideas.net), die von der Deutschen Bahn initiiert wurde. Dort können Praktiker, Wissenschaftler und Privatpersonen gemeinsam und unternehmensunabhängig innovative Lösungen für eine nachhaltige Mobilität und Logistik erarbeiten und deren Umsetzung vorantreiben. Einzigartig an MovingIDEAS ist die Möglichkeit der unternehmensübergreifenden Kooperation, die nicht auf den Initiator zentriert, sondern von diesem unabhängig ist. In dem Anfang 2013 durchgeführten gleichnamigen Innovationswettbewerb, an dem jeder nach der Registrierung auf der Plattform teilnehmen konnte, galt es besonders Ideen zur „Klimaneutralen Mobilität und Logistik“ sowie zur „Mobilität und Logistik im ländlichen Raum“ einzubringen. Eingereicht wurden über 150 Ideen. Diese entwickelte die Community zu Konzeptpapieren weiter und stimmte über die besten Beiträge ab. Warten für das Klima Den ersten Platz gewann das Konzept „Warten für das Klima“. Es greift das beschriebene Problem der steigenden Verkehrs- und Umweltbelastung durch den Versandhandel auf. Dieser Lösungsansatz schlägt vor, dem Kunden die Entschleunigung der Transportprozesse über die „Warten für das Klima“- Option zu ermöglichen. Das Prinzip der Entschleunigung wird bereits erfolgreich im nationalen und internationalen B2B-Handel angewendet [6]. Lieferungen können dadurch stärker gebündelt oder langsamere, ressourcenschonendere Transportmittel bzw. alternative Transportkonzepte für die Zustellung eingesetzt werden [7]. Eine zentrale Herausforderung bei der Übertragung dieses Prinzips auf den Versandhandel ist die hohe Erwartung der Kunden an die Zustellgeschwindigkeit. Diese haben allerdings kaum eine Möglichkeit, die ökologischen Auswirkungen ihrer Bestellung nachzuvollziehen und können darauf nur einen stark begrenzten Einfluss nehmen. Lediglich die oft mit einem Aufpreis verbundene Expresslieferung hat sich etabliert. Mit der neuen Lieferoption „Warten für das Klima“ kann der Kunde den Zulieferzeitraum verlängern und eine maximale Wartedauer vorgeben. Dem Kunden wird dabei schon während der Auswahl der Lieferalternativen die voraussichtliche Umweltwirkung seiner Entscheidung kommuniziert. Der Logistikdienstleister erhält durch die vom Kunden gewünschte und akzeptierte Entschleunigung einen neuen Handlungsspielraum, so dass er die Zustellprozesse effizienter und umweltfreundlicher gestalten kann. Erfolgt die Zustellung der Ware dank der „Warten für das Klima“-Transportvariante für den Logistikdienstleister kostengünstiger, so erhält der Kunde über die Reduktion der Versandkosten einen Teil der Einsparungen als zusätzliche Motivation. Der Kunde wird anschließend über den genauen Zustellungszeitpunkt informiert, sobald dieser feststeht. Der termingenaue Eingang der Sendung schließt einen Vorgang ab, welcher letztendlich auch zu einem Imagegewinn für den Logistikdienstleister und den Online-Shopbetreiber führt (Bild 1). Konzeptentwicklung und Nutzerintegration Ausgehend von der Idee, dem Kunden eine solche Lieferoption zur Verfügung zu stellen, wurde im „MovingIDEAS“-Innovationsprozess das Konzept „Warten für das Klima“ in einem interdisziplinären Team weiterentwickelt. So konnten auch erste Kontakte zu Experten aus dem Marketing und Onlinehandel sowie zu einem großen deutschen Logistikdienstleister hergestellt werden. Die beschriebenen Potentiale des Konzeptes konnten dabei durch die Praxis bestätigt werden. Unterstrichen wird dies durch die Information, dass verschiedene Akteure schon über ähnliche Lösungsansät- Internationales Verkehrswesen (65) 4 | 2013 23 ze nachgedacht haben. Die Diskussion machte aber auch die mit der Realisierung verbundenen Herausforderungen deutlich. So sind die Abläufe der Logistikdienstleister heute auf eine möglichst hohe Durchlaufgeschwindigkeit hin optimiert. Es ist zudem noch nicht geklärt, wie sich der neue zeitliche Freiheitsgrad auf die komplexen Logistikprozesse auswirken würde. Weiterhin wird es wohl auch in Zukunft Kunden geben, die eine möglichst schnelle Zustellung fordern. Um die Belange des Kunden besser kennen zu lernen, wurden im Anschluss an den Wettbewerb in zwei mehrtägigen Workshops die potentiellen Nutzer in den Mittelpunkt gestellt. Mit Methoden des Design Thinking untersuchten zwei interdisziplinäre Teams mit dem Ideenautor Matthias Schmidt die Kundenbedürfnisse in Bezug auf die neue Lieferoption „Warten für das Klima“. Das Design Thinking ist ein menschenzentrierter Ansatz und unterscheidet sich dadurch von anderen Innovationsansätzen, die zunächst von technischen oder wirtschaftlichen Gegebenheiten ausgehen. In einem iterativen Prozess werden die Bedürfnisse von Nutzern aufgespürt und mit technischer Machbarkeit und wirtschaftlicher Rentabilität abgestimmt [8]. Dabei kamen als Prototypen selbstgestaltete Nutzerinterfaces für die schematische Abbildung der Bestellvorgänge zum Einsatz. In Interviews und Tests mit einer kleinen Gruppe aus Passanten und professionellen Testern zeigte sich ein sehr heterogenes Bestellverhalten der Kunden, das maßgeblich von dem Verhältnis der Versandkosten und dem Preis der Ware, sowie von den Gewohnheiten bei der Planung einer Anschaffung abhängt. Bei entsprechender Vorausplanung war das „Warten“ jedoch kein Ausschlusskriterium und wurde in Verbindung mit der Verbesserung der Ökobilanz als eine echte Alternative betrachtet. Statt einen konkreten Wert für die Umweltwirkung anzugeben, sollte aber eine Art Siegel für die umweltfreundlichste Versandalternative etabliert werden. Als wesentliche Erfolgsfaktoren eines solchen Siegels wurden dessen Glaubhaftigkeit und Neutralität herausgearbeitet. Bis heute fehlen allerdings Möglichkeiten, um die Auswirkungen der Variation eines Zulieferzeitraums transparent und zuverlässig einzuschätzen und dem Kunden darzustellen. Mindestens genauso wichtig wie die Zulieferzeit waren den Befragten die Bekanntgabe und die Einhaltung eines Lieferzeitpunktes. Außerdem sind geringe Preisnachlässe kaum ein Grund zum „Warten“. Daher sollte eher über die Anwendung anderer Incentives nachgedacht werden. Starten für das Klima Um die Umsetzung von „Warten für das Klima“ voranzutreiben, muss das Konzept nun weiter ausgearbeitet werden. Notwendig ist hierfür eine vertiefte Marktstudie, in der die Kundenbedürfnisse spezifiziert sowie Anwendungsfelder und Nutzergruppen identifiziert werden. Darüber hinaus sollten die Realisierbarkeit für konkrete Anwendungsfälle geprüft und die möglichen Potentiale in Zusammenarbeit mit den Online-Shops und den Logistikdienstleistern näher quantifiziert werden. Letztendlich bedarf es auch der Entwicklung eines geeigneten Bewertungsmodells für die Ökobilanz der Logistikprozesse im B2C-Bereich. Die Innovationsplattform „MovingIDEAS“ bietet sich auch weiterhin als ein kreativer Raum an, um die Diskussion und Bearbeitung des Konzepts fortzuführen. Das Beispiel „Warten für das Klima“ macht die zentrale Rolle von interdisziplinären Teams und Nutzerintegration für nachhaltige Innovationen deutlich. Auf die komplexen Probleme, die sich heutzutage in vielen Bereichen der Verkehrswirtschaft stellen, gibt es keine einfachen Antworten. Lösungsideen müssen zu tragfähigen Konzepten und zukunftsfähigen Geschäftsideen weiterentwickelt werden. Offene Innovationsprozesse sind hierzu eine geeignete Möglichkeit. Da bei offenen Innovationsprozessen eine Reihe von Herausforderungen bewältigt werden muss, bedarf es einer professionelle Begleitung. Dazu gehören das Bereitstellen einer geeigneten Kommunikationsplattform, die Unterstützung bei der Zusammensetzung von Teams, die Moderation von Workshops und die Impulsgebung für Folgeprozesse. Eine zentrale Frage ist außerdem, ob und wann der Innovationsprozess zum Schutz des geistigen Eigentums und der wirtschaftlichen Interessen der einzelnen Teilnehmer geschlossen werden sollte. Im besten Fall ergibt sich dann aus der gezielten interdisziplinären Zusammenarbeit eine Win-Win- Situation für alle Beteiligten: Ein neues Geschäftsmodell für die Wirtschaft, ein Erkenntnisgewinn für die Wissenschaft, ein bedarfsgerechtes Produkt für die Nutzer und ein echter Vorteil für unsere Umwelt. Da bleibt nur noch eins: gemeinsam starten! ■ LIterAtur [1] Bundesverband des Deutschen Versandhandels e.V.: Zahlen und Fakten. Präsentation 2013. URL http: / / www.bvh. info/ zahlen-und-fakten/ allgemeines/ [2] Drießelmann, D.: Einzelhandel im Wandel. Studie 2013. URL http: / / www.hwwi.org/ fileadmin/ hwwi/ Publikationen/ Partnerpublikationen/ HSH/ 2013_05_23_HSH_HWWI_ Einzelhandel.pdf [3] Groh-Kontio, C.: E-Commerce-Boom: Die Schattenseiten des Online-Handels. Artikel 2013. URL http: / / www. handelsblatt.com/ unternehmen/ handel-dienstleister/ ecommerce-boom-die-schattenseiten-des-online-handels/ 8186932.html [4] Gassmann, O.; Enkel, E. : Open Innovation. In: ZfO Wissen 3, Nr. 75, 2006, S. 132-138. Artikel 2006 [5] Nick, J. A.: Der Weg zum Kunden als Wertschöpfungspartner. InnoZ-Baustein, Innovationszentrum für Mobilität und gesellschaftlichen Wandel, Berlin. 2013. Im Druck [6] Vlaams Instituut voor de Logistiek (Hrsg.): Slow Logistics - Concept and Practical Examples. Studie 2010 [7] Sauter-Servaes, T.: Emma&Son Lime. In: Welzer/ Rammler (Hrsg.): Der FUTURZWEI Zukunftsalmanach 2013. Geschichten vom guten Umgang mit der Welt. Schwerpunkt Mobilität, Fischer Taschenbuch Verlag, Frankfurt am Main. 2012, S. 336-338 [8] Plattner, H.; Meinel, C.; Weinberg, U.: Design Thinking. Innovation lernen - Ideenwelten öffnen. mi-Wirtschaftsbuch, München. Monografie 2011 Bild 1: Prinzipskizze der Lieferoption „Warten für das Klima“ Standard Express Warten für das Klima Bitte wählen Sie Ihre Versandoption € € € € € € Zustellung in Option 1-2 Tage 1 Tag max 5 Tage Versandkosten Umweltwirkung Kunde Logistikdienstleister Online-Shop Potentiale Warten für das Klima Information über Umweltwirkung Einsatz ressourcenschonenderer Transport- und Logistikkonzepte Aktiver Beitrag für eine nachhaltige Verkehrswirtschaft Motivation durch Incentives (z.B. Senkung Versandkosten) Differenzierung gegenüber Wettbewerber Imagegewinn Quelle: M. Schmidt Matthias Schmidt, Dipl. Verk.wirtsch. Wissenschaftlicher Mitarbeiter, TU Dresden, Professur für Bahnverkehr, öffentlicher Stadt- und Regionalverkehr matthias.schmidt1@tu-dresden.de Ingrid Kleinert, M.A. Wissenschaftliche Mitarbeiterin, Innovationszentrum für Mobilität und gesellschaftlichen Wandel (InnoZ) GmbH, Berlin ingrid.kleinert@innoz.de Thomas Sauter-Servaes, Dr.-Ing. Mobilitätsforscher & Studiengangleiter „Verkehrssysteme“, ZHAW School of Engineering, Winterthur saut@zhaw.ch