Internationales Verkehrswesen
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0020-9511
expert verlag Tübingen
10.24053/IV-2013-0098
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City-Maut - endlich entmystifizieren
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Andreas Kossak
Die öffentliche Diskussion um das Thema City-Maut in der Bundesrepublik sowie seine Behandlung in der Politik, in Gutachten, in Kommissionsberichten und Koalitionsvereinbarungen etc. ist im internationalen Vergleich ein besonders ausgeprägtes Beispiel für Missverständnisse, Informations- und Kommunikationsdefizite, Mängel in der methodischen Beschäftigung damit und immer noch bestehende Wissenslücken. Vor diesem Hintergrund stellte der Verfasser für das zuständige Komitee des „Transportation Research Board“ (TRB) der Nationalen Akademien der Wissenschaften der USA ein Arbeitspapier zusammen, in dem er die Mängel aus seiner deutschen Perspektive adressiert und Lösungsvorschläge für ihre Bereinigung macht. Hier ein Überblick.
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MOBILITÄT City-Maut Internationales Verkehrswesen (65) 4 | 2013 52 City-Maut - endlich entmystifizieren Über Missverständnisse, Informations- und Kommunikationsdefizite in Deutschland Die öffentliche Diskussion um das Thema City-Maut in der Bundesrepublik sowie seine Behandlung in der Politik, in Gutachten, in Kommissionsberichten und Koalitionsvereinbarungen etc. ist im internationalen Vergleich ein besonders ausgeprägtes Beispiel für Missverständnisse, Informations- und Kommunikationsdefizite, Mängel in der methodischen Beschäftigung damit und immer noch bestehende Wissenslücken. Vor diesem Hintergrund stellte der Verfasser für das zuständige Komitee des „Transportation Research Board“ (TRB) der Nationalen Akademien der Wissenschaften der USA ein Arbeitspapier zusammen, in dem er die Mängel aus seiner deutschen Perspektive adressiert und Lösungsvorschläge für ihre Bereinigung macht. Hier ein Überblick. Der Autor: Andreas Kossak I nternational wird die Erhebung von Gebühren für die Benutzung von Straßen in den Zentren großer und mittlerer Städte durch den motorisierten Individualverkehr (MIV) seit Jahrzehnten diskutiert. Ausgangspunkt war und ist bis heute die Minderung des Drucks des MIV auf die Innenstädte sowie der damit verbundenen nachteiligen Wirkungen auf die Umweltbedingungen, die strukturellen Gegebenheiten und die Attraktivität/ Konkurrenzfähigkeit. Das beinhaltet die Steuerung und Dämpfung des MIV durch Gebührenerhebung ebenso wie gegebenenfalls die Schaffung zusätzlicher Infrastruktur und/ oder die Verbesserung der Bedingungen für Mobilitätsalternativen auf der Grundlage der Einnahmen. Der Stadtstaat Singapur war 1975 Vorreiter mit seinem „Area License Scheme/ Central Area Cordon Pricing“ (Bild 1). Es folgten seit 1986 mehrere norwegische Städte mit „Mautringen“ und „Mautzonen“: Bergen (1986), Oslo (1990), Trondheim (1991), Kristiansand (1997), Namsos (2003) und Tönsberg (2004). Im Jahr 1989 wurden in den Stadtzentren von Rom und Bologna so genannte „Limited Traffic Zones“ eingerichtet und nachfolgend schrittweise zu in vollem Umfang durch elektronische Zugangskontrollen geregelte Maut-Zonen ausgebaut. Seit 1998 hat die EU Kommission mehrere Programme zur Förderung von Aktivitäten in Städten gesponsert, die die Einführung von City-Maut planten (EURoPrice, PROGR€SS, CUPID, CURACAO); Teilnehmerstädte waren Amsterdam, Belfast, Bristol, Edinburgh, Genua, Göteborg, Helsinki, Kopenhagen, Leeds, Rom und Trondheim (zusammenfassende Übersicht u. a. in [1]). Wahrnehmung und Reaktion in deutschland In die Wahrnehmung der Politik und der allgemeinen Öffentlichkeit rückte das Thema in der Bundesrepublik erst mit der Einführung des „London Congestion Charge Scheme“ im Jahr 2003 (Bild 2) [2] und der „Stockholm Congestion Tax“ („Versuch“ 2006, endgültige Einführung 2007) [3]. Umgehend machten Lobby-Organisationen, aber auch Gutachter und Wissenschaftler geltend, dass die dortigen Bedingungen nicht auf deutsche Städte zu übertragen seien, dass die Einführung einer City Maut zur Verödung der Innenstädte, zur Schädigung des Einzelhandels, zur Verlagerung von Verkehr in empfindliche Wohngebiete und sogar insgesamt zu beträchtlichen volkswirtschaftlichen Schäden führen würde. Überzeugende Begründungen dafür wurden nicht geliefert; die Erkenntnisse aus praktischen Anwendungen widerlegen die betreffenden Argumente. Die gelegentlich angestellten wohlfahrtstheoretischen Modellrechnungen und verkehrsökonomischen Bewertungen werden der Komplexität der Materie nicht annähernd gerecht. Die Diskussion in Deutschland erhitzt sich wechselweise an der Erhebung von Benutzungsgebühren und dem Bedarf an Stauregulierung. Dabei wird entweder angeknüpft an dem Begriff „City-Maut“ - typischer Kommentar dazu: „Im Klartext: Die Autofahrer sollen über eine neue Abzocke zur Kasse gebeten und aus den Innenstädten vergrault werden“ [4]. Oder es wird auf das in London und Stockholm durch die Bezeichnung der Projekte in den Vordergrund gestellte Thema („Congestion Pricing“) Bezug genommen und behauptet, dass die dortigen Verkehrsbedingungen bei Weitem nicht mit den Verhältnissen in deutschen Städten vergleichbar seien. Beispiel Hamburg In vieler Hinsicht typisch für die Behandlung des Themas in Deutschland ist das Beispiel Hamburg. Seit dem Bürgerschafts- Wahlkampf 2008 stand die City-Maut in Hamburg im Vordergrund der Auseinandersetzung um die Verkehrs- und Umweltpoli- Bild 1: Elektronische Gebührenerhebung mit Geldkarte in Singapur Internationales Verkehrswesen (65) 4 | 2013 53 tik (Bild 4). Angeknüpft wurde auch hier explizit an die Projekte in London und Stockholm sowie an die EU-Vorschriften zu den Emissions-Grenzwerten. Die Grünen und die FDP plakatierten das Thema kontrovers an vielen Hauptverkehrsstraßen - Grüne pro („ab hier City-Maut“), Liberale contra („Gegen City-Maut“); spezifische oder substantielle Argumente wurden nicht vermittelt. Als Ergebnis der Bürgerschaftswahl wurden die Grünen Partner in einer Koalition mit der CDU und übernahmen die Senatsverwaltung für Stadtentwicklung und Umwelt; das schloss den Verkehrssektor ein. Eine Studie zur City-Maut wurde in Auftrag gegebenn. Das Ergebnis wurde bis zum Ende der Legislaturperiode unter Verschluss gehalten. Der Spitzenkandidat der SPD für die folgende Wahl versprach, dass es Straßenbenutzungsgebühren in Hamburg auf keinen Fall geben werde, wenn seine Partei die Wahl gewinnt. Letzteres war dann tatsächlich der Fall. Benutzungsgebühren für Straßen gelten seither in Senat und Verwaltung als Tabu. Wenig später wurden die Ergebnisse des betreffenden Gutachtens genüsslich veröffentlicht. Die Überschrift der Pressemitteilung dazu lautete: „City-Maut laut Gutachten sinnlos“. Als Hauptgründe wurden angeführt bzw. zitiert [5]: • Aus verkehrlicher Sicht nicht erforderlich, da der Verkehrsfluss im innerstädtischen Straßennetz Hamburgs mindestens als befriedigend bezeichnet werden kann… • Durch Ausweichverkehre würden zusätzliche Emissionen verursacht … • Erhebliche negative Auswirkungen auf den Wirtschaftsstandort Innenstadt… • Die Bürger würden eine City-Maut nicht mittragen. Bei Vergleichen der Verkehrsbedingungen in europäischen Städten gilt Hamburg als die Stadt mit dem höchsten spezifischen Stauvolumen in Deutschland; auf europäischer Ebene liegt sie knapp hinter London und Stockholm(! ). Wann immer auch nur eine oder gar zwei größere Baustellen im Hauptstraßennetz der Stadt eingerichtet werden, wirkt sich das monatelang dramatisch auf das gesamte Verkehrsgeschehen aus. Das gilt vor allem bei Brückenbauvorhaben und wird sich in Zukunft noch erheblich verstärken; Hamburg hat mehr Brücken als Amsterdam, London, Paris und Stockholm zusammengenommen - und die sind zunehmend sanierungs- oder ersatzbedürftig. Das politisch offensichtlich besonders relevante Ergebnis, nach der die Bevölkerung gegen eine City-Maut sei, basierte auf Befragungen von Bürgern und Vertretern des Einzelhandels, denen allerdings keine konkrete Problemlage, kein konkretes Konzept, geschweige denn eine Lösungsstrategie zugrunde lag. Zu den Kernergebnissen des EU-Projekts „Coordination of Urban Road- User Charging Organisational Issues“ (CU- RACAO, 2006-2009) gehörte, dass Befragungen zu Straßenbenutzungsgebühren in Städten vor der Einführung nicht sinnvoll sind, selbst wenn das in Frage stehende Konzept höchst erfolgversprechend ist, weil die Komplexität der Effekte in aller Regel nicht ausreichend kommuniziert werden kann, um ein qualifiziertes Abstimmungsverhalten zu erzielen [6]. Schlussfolgerungen Die Behandlung des Themas in Hamburg legt exemplarisch die Annahme nahe, dass die inzwischen in beträchtlichem Umfang verfügbaren Fakten, Materialien, Wissensgrundlagen („Knowledge Bases“) und Lektionen („Lessons Learned”) aus konkreten Anwendungen und qualifizierten Forschungsarbeiten nicht ausreichend bzw. nicht in der geeigneten Form aufbereitet und kommuniziert worden sind. Tatsächlich fehlt es nach wie vor sogar an eindeutigen Definitionen der verschiedenen verwendeten Begriffe und einer differenzierten Erläuterung der dahinter stehen Zielsetzungen; vor allem fehlen geeignete Handreichungen und Leitlinien für nicht spezialisierte und nicht an Lobby-Positionen gebundene „Stakeholder“. Das Thema City-Maut muss in Deutschland endlich entmystifiziert werden. Was führende deutsche Lobby-Organisationen in diesem Zusammenhang regelmäßig als Mythen verunglimpfen, hat sich längst in der Praxis als Fakten erwiesen - und umgekehrt. City- Maut ist eine in vieler Hinsicht potentiell höchst wirkungsvolle Ergänzung des traditionellen Instrumentariums der städtischen Verkehrssteuerung und der Verbesserung der Umweltbedingungen, aber insbesondere auch der städtebaulichen und stadtökonomischen Gestaltung. Dem muss bei der Auseinandersetzung mit City-Maut-Konzepten endlich auch in Deutschland angemessen Rechnung getragen werden. Die Wissenschaft ist aufgerufen, die adäquaten Methoden und Modelle dafür zu entwickeln. Gerade im Bereich der der städtebaulichen und stadtökonomischen Wirkungen gibt es nach wie vor beträchtliche Wissenslücken. ■ LIterAtur [1] Kossak, A.: Die City-Maut im Instrumentarium der städtischen Verkehrssteuerung; in Difu-Impulse 6/ 2008 [2] Keegan, M.: The Central London Congestion Charge; London 2007 [3] City of Stockholm: Stockholm Congestion Tax; offizielle Präsentation 2007 [4] Koch, E.: Kostet uns bald jede Fahrt in die Stadt 6,10 Euro? In „Bild“, 4.10. 2012 [5] Behörde für Wirtschaft, Verkehr und Innovation der Freien und Hansestadt Hamburg: Gutachten des Vorgängersenats zur Einführung einer City-Maut; Pressemitteilung, Hamburg 2011 [6] http: / / www.transport-research.info/ web/ projects/ project_details.cfm? ID=28307 Bild 3: Plakatierung des Themas im Hamburger Wahlkampf 2008 (Foto: A.Kossak) Bild 2: Kennzeichnung der Grenze der City-Maut-Zone in der Londoner Old Street (Foto: Transport for London) Andreas Kossak, Dr.-Ing. Inhaber Kossak Forschung & Beratung, Hamburg drkossak@aol.com
