Internationales Verkehrswesen
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0020-9511
expert verlag Tübingen
10.24053/IV-2013-0099
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2013
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Multimodale Tarife für alle Stammkunden
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Christoph Stadter
Gerhard Probst
Stefan Lämmer
Multimodale Kooperationen zwischen ÖPNV, Auto- und Radverleihsystemen sowie weiteren Services sprießen in vielen Ballungsräumen aus dem Boden. Während Freefloating-Carsharing mancherorts einen Durchbruch bei den Nutzerzahlen erlebt, gilt dies für ÖPNV-Kombitarife kaum. Muss ein multimodaler Tarif daher ein fakultatives Angebot bleiben? Eine Marktforschungsstudie unter ÖPNV-Kunden zeigt, dass mit einer obligatorischen Integration in den Abo-Tarif neue Zahlungsbereitschaften gehoben werden können.
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MOBILITÄT Tarifmodelle Internationales Verkehrswesen (65) 4 | 2013 54 Multimodale Tarife für alle Stammkunden Auf dem Weg zum echten Mobilitätsverbund Multimodale Kooperationen zwischen ÖPNV, Auto- und Radverleihsystemen sowie weiteren Services sprießen in vielen Ballungsräumen aus dem Boden. Während Freefloating-Carsharing mancherorts einen Durchbruch bei den Nutzerzahlen erlebt, gilt dies für ÖPNV-Kombitarife kaum. Muss ein multimodaler Tarif daher ein fakultatives Angebot bleiben? Eine Marktforschungsstudie unter ÖPNV-Kunden zeigt, dass mit einer obligatorischen Integration in den Abo-Tarif neue Zahlungsbereitschaften gehoben werden können. Die Autoren: Christoph Stadter, Gerd Probst, Stefan Lämmer E s gibt Indizien dafür, dass alternative Mobilitätsangebote ihre Kunden stärker vom ÖPNV als vom PKW abwerben, so z. B. beim Leihradsystem BIXI in Montreal. 1 Andererseits weisen Studien nach, dass die Einführung von car2go in Ulm bereits nach 16 Monaten Betriebsdauer für die Abschaffung von 500 bis 2000 privaten PKWs verantwortlich war. 2 Wer sein Fahrzeug aufgibt, ist für den ÖPNV ein sehr attraktiver Kunde, denn die ausschließliche Nutzung von Carsharing für jegliche Alltagswege wäre enorm teuer. So entscheiden sich Nahverkehrsunternehmen immer häufiger, diese Angebote nicht als Konkurrenz, sondern als Ergänzung zu betrachten und sie in ihr Produktportfolio zu integrieren. das dilemma multimodaler Tarifangebote Der zentrale Fokus liegt bislang auf fakultativen Kooperationsangeboten, für die zum Teil beachtliche Anschubinvestitionen und Werbebudgets gezahlt werden (aktuelles Beispiel: switchh in Hamburg). Zwar bekommen ÖPNV-Kunden vielfältige Rabatte, jedoch entstehen ihnen sofort zusätzliche Kosten und Registrierungshürden. Selbst der Branchenprimus HannoverMobil, der in den neun Jahren seines Bestehens große Bekanntheit erzielt hat, erreicht auf diesem Wege nur ca. 1300 Kunden und damit ein gutes Promille der Einwohner der Region Hannover 3 - eine kleine Kundengruppe, auf die die Hannoveraner im Vergleich allerdings stolz sein können. Das Dilemma multimodaler Tarifangebote lautet bislang: Die Politik wünscht sie, in der Öffentlichkeit können sich ÖPNV-Unternehmen damit als innovativ darstellen - nur am Mobilitätsmarkt finden sie wenig Widerhall. Auf die Dauer ist dies weder produktiv noch entfaltet es spürbare Umweltwirkungen. Was könnte die Alternative auf dem Weg zum echten „Mobilitätsverbund“ sein? Konkreter: Muss ein multimodales Tarifangebot immer fakultativ sein? der Forced-Bundling-Ansatz Bereits ein klassischer Verkehrsverbund ist alles andere als fakultativ: Mit dem Ticketkauf bezahlt der Kunde alle Verkehrsmittel in einer Tarifzone - unabhängig von der konkreten Nutzung. Dieses Prinzip hat sich bei Aufgabenträgern aus zweierlei Gründen durchgesetzt: Weil es einfach ist, und weil es eine schlagkräftige Alternative zum Individualverkehr aus einer Hand bieten soll. Kaum anders verhält es sich mit Carsharing- und Leihradangeboten. Die diesem Artikel zugrunde liegende Marktforschungsstudie untersucht daher die These, dass solch ein „Forced-Bundling- Ansatz“, also die automatische Integration von Carsharing und Leihrädern in den Nahverkehrstarif, zumindest für Stammkunden ökonomisch sinnvoll wäre. Die Idee dahinter lautet: Wenn der Kunde das neue Angebot schon bezahlt hat, wird er es ausprobieren und Gefallen daran finden. Damit könnte die Zielstellung, dauerhaft ohne eigenen PKW eine erfüllte urbane Mobilität zu genießen, für breitere Kundengruppen erreichbar sein. Bislang sind solche automatisch integrierten Zusatzleistungen, die - solange ein gewisses Volumen nicht überschritten wird - keine Zusatzkosten in Rechnung stellen, noch klar in der Minderzahl. Der Fahrradleihanbieter Nextbike stellt immerhin für Abonnenten z. B. in Magdeburg, Leipzig oder Köln die ersten 30 Nutzungsminuten kostenfrei, bislang ohne wahrnehmbaren Preisaufschlag. In Stuttgart oder Hamburg bezahlen wiederum die Kommunen die Fahrrad-Freiminuten für jedermann, ohne dass der ÖPNV als Partner einbezogen wird. Für kooperationsbereite ÖPNV-Anbieter stellen sich dabei folgende Fragen: • Lässt sich ein Forced-Bundling-Ansatz am Stammkundenmarkt durchsetzen? • Welcher Aufpreis ist akzeptabel? Welche Inklusivleistungen sind dafür sinnvoll? • Kann sich das Abo durch seine multimodale Erweiterung weitere Kundengruppen erschließen? Marktforschung in Stuttgart Die folgende Face-to-Face-Befragung wurde zusammen mit den Stuttgarter Straßenbahnen (SSB) im März 2012 im Stadtgebiet Stuttgart durchgeführt. Dort gab es Vorüberlegungen zu multimodalen Tarifangeboten, um insbesondere folgende Systeme zu integrieren: car2go: Der Daimler-Konzern hatte bereits angekündigt, im Herbst 2012 500 Elektro- Smarts im Stadtgebiet aufzustellen. e-Call a Bike: DB Rent hatte dieses System bereits im Herbst 2011 eingeführt, d. h. es hatte vor der bis März andauernden Winterpause anderthalb Betriebsmonate erlebt. Das konventionelle Call a Bike-System stellt die erste halbe Stunde in Stuttgart für jeden Internationales Verkehrswesen (65) 4 | 2013 55 kostenfrei und wurde somit nicht berücksichtigt. An Haltestellen und in Fahrzeugen der Stadt- und S-Bahn wurden dazu insgesamt 537 Fahrgäste befragt, wie Tabelle 1 zeigt. Während den Jedermann-Kunden jeweils multimodale Abo-Tarifvarianten vorgelegt wurden, war für Studenten eine Integration in das StudiTicket zu untersuchen. Rentner, Schüler und Azubis waren von der Befragung ausgenommen. die auswahlbasierte Conjoint-Analyse Zur Anwendung kam eine auswahlbasierte Conjoint-Analyse. Jeder Proband bekam acht zufällig gezogene Auswahlsituationen vorgelegt, in denen er sich jeweils zwischen zwei multimodalen Abo-Tarifen oder dem Nichtkauf entscheiden konnte (Beispiel in Bild 1). Je nach Ausgangslage des Probanden bedeutete der Nichtkauf die Kündigung seines bestehenden Abos bzw. StudiTickets oder den Verbleib bei seinem Produkt des Bartarifs, der von den multimodalen Zusätzen nicht betroffen wäre. Die Auswahlsituationen entstanden als Variation dreier Variablen mit jeweils drei Ausprägungen, wie sie Tabelle 2 zeigt. Beim Carsharing wurde ein monatliches Minutenbudget gewählt (analog zu bestehenden Freefloating-Tarifen), beim Leihrad ein marktübliches Kontingent pro Ausleihe. Damit verbunden war ein pauschaler monatlicher Aufpreis, der unabhängig von der Preisstufe für alle betroffenen Abo- und StudiTickets gleichermaßen galt. Daneben wurden Angaben zu Soziodemografika, heutiger Verkehrsmittelnutzung und der grundlegenden Akzeptanz von car2go und e-Call a Bike abgefragt. Alle Wahlentscheidungen der Kunden flossen in ein multinomiales Logit-Modell ein und wurden mit der Maximum-Likelihood- Methode geschätzt. So entstanden Teilnutzenwerte für die Freiminutenbudgets, die sich in Relation zum Nutzenwert des Monatspreises in Zahlungsbereitschaften umrechnen ließen. Auf dieser Basis wurden zum Schluss Kaufwahrscheinlichkeiten für beliebige Kombinationen aus den abgefragten Produkteigenschaften simuliert. Akzeptanz der tariflichen Verknüpfung Bei der Auswertung zeigt sich, dass ein Forced-Bundling-Aufschlag am Markt größtenteils durchsetzbar wäre. Die verbalen Einzelmeinungen reichten von „Ökozwang“ über die Erkenntnis, dass tatsächlich genau dieser Anreiz bisher fehle, sich genauer mit Carsharing zu befassen, bis hin zur Aussage, dass damit die sowieso anstehenden Preiserhöhungen wenigstens einen wahrnehmbaren Nutzen brächten. Immerhin 18% der Abonnenten kritisieren explizit die Preissteigerung bzw. die fehlende Möglichkeit, die Zusatzprodukte abzuwählen. 4 Die wenigsten entscheiden sich de facto in der Conjoint-Analyse für einen Nichtkauf, da das Abo weiterhin der günstigste Tarif für Vielfahrer ist. Dabei steigt die gemessene Abhängigkeit vom Abo mit zunehmender Preisstufe deutlich an. Obwohl Einpendler die multimodalen Services weniger oft nutzen können (nur am Arbeitsort, nicht am Wohnort), würden sie auf Aufpreise geringer reagieren als Stuttgarter Stadtbewohner, denen mehr Mobilitätsalternativen für kurze Wege zur Verfügung stehen. Anders als bei optionalen multimodalen Tarifen wären damit über 110 000 heutige VVS-Abonnenten (zzgl. Studenten) auf einen Schlag Carsharing- und Leihradkunden. Dagegen wurde unter den 537 Probanden nur einer gefunden, der bereits multimodal mit allen drei Verkehrsmitteln unterwegs war - und dies war kein ÖPNV- Stammkunde. Ein Forced-Bundling-Abo träfe somit auf einen noch völlig unbearbeiteten Markt. Wie würde die spätere Nutzung in diesem Falle aussehen? 34 % würden e-Call a Bike mindestens einmal ausprobieren, car2go sogar 46 %. Dagegen wollen 39 % der Befragten beide Systeme nicht nutzen - ein Gutteil der Freiminuten verfiele also, was den Verrechnungspreis im Hintergrund deutlich senken kann. Für das Pedelec-Leihrad sind 30 Freiminuten pro Ausleihe für die typischen Fahrradentfernungen offenbar ausreichend. Für car2go zeigt sich ebenfalls ein abnehmender Grenznutzen, jedoch sind auch 90 Freiminuten pro Monat ein beliebter Wert. Ein zu niedrig angesetzter Minutenbetrag stößt auf verbale Ablehnung, da er als „nicht ernst gemeintes Angebot“ verstanden wird. Zahlungsbereitschaft und Erlöse In Tabelle 3 sind die kompensatorischen Zahlungsbereitschaften zusammengefasst, also jene Aufpreise, bei denen das multimodale Abo denselben Nutzenwert erreicht wie ein Abo ohne Zusatzleistungen: • Die maximale Zahlungsbereitschaft der Abonnenten beträgt 5,10 EUR. • Inhaber klassischer Monatskarten äußern sich bedeutend weniger preissensi- Gruppe Anzahl Stichprobenanteil Verwendbare Stichprobe 537 100 % davon Abonnenten 162 30,2 % davon Monatskarteninhaber 159 29,6 % davon Gelegenheitsnutzer 94 17,5 % davon Studenten 122 22,7 % Tabelle 1: Teilnehmerstatistik Conjoint-Variable Ausprägung 1 Ausprägung 2 Ausprägung 3 Aufpreis + 1 € + 5 € + 9 € Freiminuten car2go 0 45/ Monat 90/ Monat Freiminuten e-Call a Bike 0 30/ Ausleihe 45/ Ausleihe Tabelle 2: Conjoint-Variablen und Ausprägungen (beliebig kombinierbar) Bild 1: Beispielhafte Auswahlsituation für Kunden der Preisstufe 2 MOBILITÄT Tarifmodelle Internationales Verkehrswesen (65) 4 | 2013 56 bel. Sie zeigen eine vergleichsweise hohe Wechselbereitschaft, was daran liegt, dass auch das multimodale Abo noch billiger als die Monatskarte ist. Zudem befand sich im Frühjahr 2012 das neu gestartete VVS-Abo in einem allgemeinen Aufwärtstrend mit naturgemäß vielen Wechslern aus dem Monatskartensegment. Die Ergebnisse der Monatskartennutzer sind demnach übertrieben positiv und stellen eher ein maximales Potenzial dar. • Studenten dagegen zeigen sich mit maximal 1,63 EUR als sehr preissensibel. Sie sind zwar von den neuen Services inhaltlich am stärksten begeistert, wollen aber nur selten Aufpreise hinnehmen. • Nutzer von Gelegenheitstickets reagieren so unterschiedlich auf das multimodale Abo, dass sich keine signifikanten Modellergebnisse erstellen ließen. Für diese Kundengruppe wären eher multimodale Gelegenheitstickets angebracht, doch diese befinden sich in Deutschland noch in einem sehr frühen Entwicklungsstadium. Abonnenten, die bereits heute eine hohe PKW-Nutzung aufweisen (zumeist in der Freizeit), sind für Carsharing-Dienste überdurchschnittlich zahlungsbereit. Hier handelt es sich häufig um Einpendler, deren PKW am Arbeitsort nicht zur Verfügung steht, sodass ihnen car2go als angenehme Alternative für eilige innerstädtische Wege erscheint. Unter Einbezug von Preiselastizitäten empfiehlt sich ein Aufpreis, der über der kompensatorischen Zahlungsbereitschaft liegt. Die höchsten Einnahmen auf dem Jedermann-Markt verspricht ein Preisaufschlag zwischen 6 und 8 EUR (bei Betrachtung der orangen bzw. blauen Kurve in Bild 2). Oberhalb davon übersteigen die Verluste durch Abo-Kündigungen die zusätzlichen Mehrerlöse. Fazit Das untersuchte Tarifmodell betrachten die Autoren als geeigneten Ansatz, um die dürftige Nachfragesituation vieler multimodaler Kooperationen zu verbessern. Es bietet für die Leihsystemanbieter die Chance, schneller einen großen Kundenbestand aufzubauen - den der ÖPNV als gewichtiges Pfund in die Waagschale werfen kann. Natürlich sind die Ergebnisse von der starken lokalen Wettbewerbssituation des ÖPNV in Stuttgart geprägt, sodass andernorts eventuell Abstriche bei der Aufpreisbereitschaft zu erwarten sind. Mit einem vernünftig ausgehandelten Freiminuten-Einkaufspreis, der den Solidareffekt berücksichtigt, schlummern hier jedoch Erlös- und Kundenbindungspotenziale. Dies unterstreicht die Wertigkeit des Abos als Premium-Produkt und vermeidet eine Konkurrenzsituation zu den neuen Anbietern. Ein besonderes Interesse sollte von den Kommunen ausgehen, die sich gerne als umweltfreundlich darstellen: Wer echte Veränderung in die Stadtmobilität bringen möchte, sollte verbindlicher als bisher solche Tarifmodelle fordern, um die neuen ökologischen Mobilitätsformen mit einem spürbaren Anreiz zur Erstnutzung zu versehen. Eine Forced-Bundling-Integration kann so den Umstiegsprozess und die verkehrspolitische Wirksamkeit entscheidend beschleunigen. ■ 1 Bachand-Marleau, Julie; Lee, Brian H. Y.; El-Geneidy, Ahmed M. (2012): „Towards a better understanding of the factors influencing the likelihood of using shared bicycle systems and frequency of use“. Präsentiert beim Transportation Research Board 91st Annual Meeting, Washington D.C., 22.-26.01.2012. 2 Firnkorn, Jörg; Müller, Martin (2012): „Selling mobility instead of cars: New business strategies of automakers and the impact on private vehicle holding“. In: Business Strate-gy and the Environment. 21 (4), S. 273. 3 Röhrleef, Martin (2012): „HANNOVERmobil geht in die zweite Runde: Lessons learned und neue Ansätze für die Weiterentwicklung“. Präsentiert auf der DECOMM, Hannover, 22.-23.11.2012. 4 Stadter, Christoph (2012): „Empirische Untersuchung zur Tarifgestaltung im Rahmen von ‚Smart Mobility’. Ermittlung der Akzeptanz und der Zahlungsbereitschaft bei ÖP- NV-Stammkunden für ergänzende Mobilitätsleistungen“. Diplomarbeit an der TU Dresden. Christoph Stadter Consultant, Probst & Consorten Marketing-Beratung, Dresden c.stadter@probst-consorten.de Gerhard Probst Geschäftsführer, Probst & Consorten Marketing-Beratung, Dresden g.probst@probst-consorten.de Stefan Lämmer, Dr.-Ing. Lehrstuhlvertretung, Professur für Verkehrsökonometrie und -statistik, Technische Universität Dresden stefan.laemmer@tu-dresden.de Zahlungsbereitschaft für: Abonnenten Monatskarteninhaber Studenten 45 Freiminuten car2go pro Monat 2,34 € 5,88 € 1,06 € 90 Freiminuten car2go pro Monat 3,58 € 11,17 € 1,52 € 30 Freiminuten e-Call a Bike pro Ausleihe 1,38 € 2,00 € 0,11 € 45 Freiminuten e-Call a Bike pro Ausleihe 1,62 € kein Mehrnutzen kein Mehrnutzen Tabelle 3: Kompensatorische Zahlungsbereitschaften für Freiminutenpakete Bild 2: Erlössimulation bei maximalem Freiminutennutzen (90 Auto- und 30-Rad-Freiminuten)
