eJournals Internationales Verkehrswesen 65/4

Internationales Verkehrswesen
iv
0020-9511
expert verlag Tübingen
10.24053/IV-2013-0100
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2013
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Urbane Mobilität der Zukunft

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2013
Hendrik Jansen
Jan Garde
J. Alexander Schmidt
Wie werden Lebensstile, Stadtstrukturen und neue Mobilitätsangebote das Stadtbild künftig prägen? Ein aktuelles Forschungsprojekt betrachtet urbane Mobilität am Beispiel der Stadt Essen, um neue Lösungsansätze für zukünftige Mobilitätsangebote zu entwickeln.
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MOBILITÄT Stadtplanung Internationales Verkehrswesen (65) 4 | 2013 57 Urbane Mobilität der Zukunft Wie werden Lebensstile, Stadtstrukturen und neue Mobilitätsangebote das Stadtbild künftig prägen? Ein-aktuelles Forschungsprojekt betrachtet urbane Mobilität am Beispiel der Stadt Essen, um neue Lösungsansätze für zukünftige Mobilitätsangebote zu entwickeln. Die Autoren: Hendrik Jansen, Jan Garde, J. Alexander Schmidt V erkehrs- und Stadtstrukturen beeinflussen einander seit jeher in vielfältiger Art und Weise, in den letzten Jahrzehnten jedoch meist zu Ungunsten von urbaner Lebensqualität und der Gesundheit der Stadtbewohner. Ein kürzlich abgeschlossenes Forschungsprojekt betrachtet die Mobilität in der Stadt aus drei unterschiedlichen Perspektiven, um neue Lösungsansätze für zukünftige Mobilitätsangebote zu entwickeln: Eine stadtplanerische, eine verkehrsplanerische und eine sozialwissenschaftliche Perspektive (Bild 1). Durch diesen integrierten Ansatz konnten Strategien und Maßnahmen zu einer verträglicheren urbanen Mobilität für den Referenzfall Essen dargestellt werden. 1 Wie Klimawandel und neue Mobilität, Lebensstile und Stadtraum zusammenhängen Klimawandel und Klimaschutz sind sehr komplexe und abstrakte Themen. Es wird daher immer wichtiger, in der Zivilgesellschaft persönliche Betroffenheit und anschauliche Bilder zu erzeugen, die den Bezug zum Alltag schaffen und neue Verhaltensmuster anstoßen. Insbesondere Städte müssen an dieser Stelle mit ihrer Politik agieren, denn sie sind für über 80 % der weltweit emittierten Treibhausgase verantwortlich. Man muss feststellen, dass vor allem im Bereich der Mobilität in den vergangenen 25 Jahren kaum etwas erreicht wurde: Während seit dem Jahr 1990 die Industrie (-32 %), die Energieerzeugung (-16 %) und die Haushalte (-24 %) zunehmend weniger Treibhausgase emittieren, sind die Emissionen des Verkehrs um 28 % gestiegen [1]. Die Verbrennungsmotoren sind zwar effizienter geworden, die wachsende Anzahl neu zugelassener Fahrzeuge kann allerdings den motorbezogenen Effizienzgewinn nicht ausgleichen. Doch das allein reicht nicht - es geht auch darum, die Stadtqualitäten wieder zurückgewinnen, die infolge einseitiger Planung für den motorisierten Individualverkehr verlorengegangen sind. Die in der Gesellschaft erkennbare Bereitschaft zu neuen Mobilitätsformen einerseits, ein wieder erwachtes Bewusstsein für Stadtqualität und die Rückgewinnung von Stadträumen andererseits können dazu einen wichtigen Beitrag leisten. Daher wurde in dem Projekt ein integrierter Ansatz verfolgt, der die Themenfelder Stadtentwicklung, urbane Mobilität und milieubedingte Vorstellungen zur urbanen Mobilität vernetzt. Auf dieser Grundlage konnten nachhaltige Mobilitätskonzepte entwickelt werden, die auf unterschiedliche Mobilitätspräferenzen eingehen und zugleich neue Chancen für qualitätsvolle Stadträume eröffnen. Bedeutung und Potenziale ausgewählter Mobilitätsformen im Essener Stadtraum Um Transformationspotenziale der Mobilitätsformen für den Essener Stadtraum abschätzen zu können, wurden für unterschiedliche Verkehrsträger Verkehrssimulationen und Potenzialberechnungen erstellt. Parallel dazu wurden mithilfe einer repräsentativen Umfrage mögliche Mobilitätsformen nach der Methode geäußerter Präferenzen in der Essener Bevölkerung überprüft. So konnten zugleich Potenziale für die unterschiedlichen Verkehrsträger sowie die unterschiedlichen Stadtbereiche identifiziert und Verbesserungen der urbanen Qualitäten des öffentlichen Raums aufgezeigt werden (Bild 2). Öffentlicher Personennahverkehr Im urbanen Kontext ist der ÖPNV das Massenverkehrsmittel. Es rangiert für die meisten Städte heute hinter dem MIV auf Platz zwei. Nicht ganz so positiv stellt sich die Situation im Untersuchungsbereich Essen dar. Trotz der vergleichsweise geringen Nutzung des ÖPNV hat dieser Verkehrsträger große Potenziale, wie die Simulationen nachweisen konnten: Etwa 13 % der täglichen Wege, die heute noch mit dem MIV zurückgelegt werden, können durch eine Kombination von ÖPNV und Fußverkehr zumindest gleich schnell zurückgelegt werden. Besonders groß ist dieses Potenzial entlang der radial verlaufenden Stadt- und U-Bahnlinien. Besonders von Innenstadtbewohnern wird ein kostenloser ÖPNV in der Innenstadt Bild 1: Forschungsansatz des Forschungsprojektes „Neue Mobilität für die Stadt der Zukunft“ MOBILITÄT Stadtplanung Internationales Verkehrswesen (65) 4 | 2013 58 stark befürwortet, jeder Zweite würde hierfür sogar auf sein eigenes Auto verzichten. Auch die Smartphone-Nutzung könnte dem ÖPNV in Zukunft zu einer stärkeren Rolle verhelfen: Junge und moderne Stadtbewohner sind zunehmend bereit, entsprechende Smartphone-Applikationen einzusetzen, um den ÖPNV mit anderen Verkehrsmitteln intelligenter als bisher zu kombinieren und intermodale Wegeketten zu nutzen. Elektromobilität und Car-Sharing Gesellschaftliche Trends und in Verbindung mit dem Klimawandel eine Reduzierung von CO 2 -Emissionen sowie die anhaltenden Diskussionen über postfossile Fahrzeugantriebe haben der Elektromobilität zu neuer Dynamik verholfen. In Politik und Wirtschaft wird das E-Auto als Möglichkeit nachhaltiger Mobilität diskutiert und erprobt. Doch es wird übersehen, dass das E- Auto - auch bei ausschließlicher Nutzung mit regenerativ erzeugtem Strom - nur einen Teil der Probleme löst. Fahrzeuge, die batterieelektrisch betrieben werden, tragen zwar - sofern sie mit erneuerbaren Energien aufgeladen werden - zu einer Reduktion von Lärm- und Schadstoffemissionen bei [2]. Die Flächeninanspruchnahme bleibt aber unabhängig von der Antriebsart bestehen [3]. In den Verkehrssimulationen wurde dennoch geprüft, welche Auswirkungen der Einsatz von Elektroautos als Zweitwagen auf den Gesamtverkehr hat: Während sich die Anzahl der Wege nicht ändert, ergeben Simulationen, dass 29 % aller PKW-Wege von Zweitfahrzeugen mit Elektrofahrzeugen durchgeführt werden könnten. Dies hätte neben einer beträchtlichen Reduktion von CO 2 -Emissionen vor allem auch Verringerungen von Lärmemissionen zur Folge. Die repräsentative Befragung der Essener Bevölkerung liefert in diesem Kontext interessante Erkenntnisse. Vor allem moderne, biographisch offene Lebensstiltypen stehen der Elektromobilität positiv gegenüber. Das betrifft zu großen Teilen die 18-24-Jährigen. Fast 60 % aller Befragten geben an, dass sie sich ein E-Auto kaufen würden, sofern das Ladestationsnetz ausgebaut und der Service dafür verbessert würde. Und bei steuerlichen Vergünstigungen oder Zuschüssen zu den Anschaffungskosten würden sich 60 % der Befragten ein Elektroauto anschaffen. Doch mehren sich auch Anzeichen, dass vor allem die Bewohner großer europäischer Städte ihre Mobilität neu organisieren und dabei abhängig von ihren Wegen auf mehrere Verkehrsmittel zurückgreifen [4]. Car- Sharing als vorwiegend urbanes Konzept ist dabei besonders beliebt. In der Studie Zukunft des Car-Sharing in Deutschland wird von einem Einspareffekt von 6,2 privaten PKW je stationsbasiertem Car-Sharing-Auto ausgegangen, während ein Auto innerhalb eines flexiblen Car-Sharings 2,3 Pkw ersetzen sollen [5]. Für Essen ergeben sich deutliche Car-Sharing-Potenziale vor allem in innerstädtischen Bereichen, in denen mehr als 40 % aller täglichen PKW-Wege durch Fahrten mit dem Car-Sharing-Auto ersetzt werden könnten. Zwar reduziert dieses per se nicht den Verkehr, doch es kann langfristig den Druck auf den Parkraum verringern und Chancen für Stadtraumqualität eröffnen. Radfahren und Zufußgehen Die sogenannte ‚Walkability’ - d.h. die Möglichkeit, kurze Wege in der Stadt zu Fuß oder mit dem Fahrrad zurücklegen zu können - hängt in hohem Maße von der gebauten Umwelt ab. Die Walkability eines Stadtraumes ist eng verbunden mit städtebaulichen Maßstäben, Stadtraumqualitäten, Nutzungen, Beleuchtung oder Begrünung [6]. Diese Überlegungen decken sich mit dem Ideal europäischer Städtebautradition, mit Urbanität und städtischen Qualitäten. Konservative Simulationen zeigen, dass ca. 10% aller heutigen MIV-Wege so kurz sind, dass sie bequem mit dem Fahrrad zurückgelegt werden könnten. Man geht hierbei von etwa fünf km Aktionsradius aus. In der Befragung zeigt sich, dass Kleinteiligkeit und Nutzungsmischung als wichtige Qualitätsmerkmale von Wohnstadtteilen betrachtet wer- Bild 3: Zukunftsvision für ein Quartier im Stadtteil Essen-Rüttenscheid - Neue Mobilitätsformen führen zu einer Attraktivitätssteigerung des Stadtraumes. Bild 2: Vorgehensweise und ermittelte Potenzialräume für das Zufußgehen in der Stadt Essen Internationales Verkehrswesen (65) 4 | 2013 59 den. Über 80 % der Bürger sind bereit, häufiger zu Fuß zu gehen, wenn kleinere Einkäufe in max. zehn Minuten erledigt werden können. Innovative Mobilitätskonzepte und-ihr Beitrag zur Erhöhung der Lebensqualität Stadträume einer jeden Stadt sind unterschiedlich und erfordern eine differenzierte Sichtweise, will man ihre jeweiligen „Begabungen“ für die Mobilität nutzen und- fördern. Eine typisierende Beschreibung des Stadtraumes hilft dabei, die vielfältigen baulichen, raumstrukturellen Merkmale nutzbar zu machen. Der Stadtraumtypenansatz basiert im Grundsatz auf der Annahme, dass bestimmte Gebiete des Siedlungsraumes meist durch eine weitgehend homogene Baustruktur gekennzeichnet sind. Im Fokus der Forschungsarbeit wird auf gesamtstädtischer Ebene eine Stadtraumtypologie entwickelt, die Merkmale wie stadtstrukturelle Lage, Gebäudetypologien und charakteristische Straßenkategorien sowie die Qualität des ÖPNV unterscheidet. So kann die Stadt in unterschiedliche Bereiche unterteilt werden, die jeweils bestimmte strukturelle Charakteristika aufweisen. Innerhalb dieses Forschungsprojektes wird zwischen übergeordneten Stadtraumtypologien unterschieden: • Kern- und Altstadtbereiche, • innerstädtische Gründerzeitquartiere, • Stadterweiterungsgebiete und • suburbane Bereiche. Die Stadtraumtypologie ist hierbei von doppeltem Nutzen: Zum einen lässt sich auf Grundlage der Analyseergebnisse beispielhaft an vier Interventionsbereichen untersuchen, wie die Zukunft der Mobilität auf Quartiersebene entworfen werden kann. Zum anderen kann mit einer belastbaren Typologie gewährleistet werden, dass grundsätzliche Strategien auf vergleichbare Stadträume in Essen und mit Einschränkungen auch auf andere Städte übertragbar sind. Das entspricht dem Anspruch des Projektes, Strategien nicht nur für die Stadt Essen zu entwickeln, sondern grundsätzlich übertragbare Ansätze zu entwickeln. Am Beispiel eines Gründerzeitquartiers wird urbane Mobilität im Jahr 2030 dargestellt (Bild 3). Hier treffen unterschiedliche Mobilitätsformen auf engem Raum aufeinander, Bus, Straßenbahn- und U-Bahnlinien sowie eine wichtige radiale Verkehrsachse im Stadtverkehr stellen ein attraktives Angebot für die Stadtbewohner dar. Die öffentlichen Räume sind im Vergleich zu anderen Stadtquartieren attraktiv gestaltet. Die Verkehrssimulationen weisen bis auf den ÖPNV und Elektroautos im Privatbesitz weitere Substitutionspotenziale von MIV- Wegen auf. Besonders gilt dies für Fußgänger und den Radverkehr. Auch durch Sharing-Angebote kann in diesem Bereich noch ein beträchtlicher Anteil an Wegen, die sonst mit dem MIV durchgeführt werden, ersetzt werden. Hinsichtlich der Lebensstile der Bewohner des Stadtquartiers zeigt sich ein Übergewicht von modernen Lebensstiltypen und Personen mittleren Alters, die in besonderem Maße Sharing-Angebote befürworten. Auch der Radverkehr wird von dieser Gruppe positiv bewertet. Das war die Grundlage für differenzierte Strategien: • Förderung fußgänger- und fahrradfreundlicher Strukturen, • Förderung stadtverträglicher Mobilitätsformen, • Verkehrsberuhigung und Reorganisation des ruhenden Verkehrs, • Einrichtung multimodaler Mobilitätsstation mit Sharing-Angeboten. Das große Angebot an Mobilitätsformen wird dementsprechend weiter ausgebaut und durch Sharing-Angebote ergänzt. Die dadurch entstehende Attraktivität alternativer Mobilitätsformen soll den Besitz eines eigenen Autos weitgehend überflüssig machen. Dieser Ansatz wird durch weitere Maßnahmen unterstützt: Die Einrichtung einer Sharing-Zone wird vorgeschlagen, deren Benutzung ausschließlich entsprechenden Fahrzeugen gestattet ist - der private PKW findet hier keinen Raum. Der ruhende Verkehr wird teilweise verlagert, um den öffentlichen Raum aufzuwerten. Die Rüttenscheider Straße wird zu einer urbanen Flaniermeile. Die Flaniermeile ist mit dem Fahrrad befahrbar und dient in einer ersten Phase als Verbindung zwischen der Stadtmitte und den südlichen Stadtteilen. Die Überlegungen im Rahmen des Forschungsprojektes zeigen beispielhaft, wie die Mobilitätsvisionen im Jahr 2030 in einem integrierten Ansatz von Stadtplanung, Verkehrsplanung und Sozialwissenschaften entwickelt werden und letztlich zu einem Gewinn an Lebensqualität für die Stadtbewohner beitragen können (Bild 4) 2 ■ LIterAtur [1] http: / / www.zukunft-mobilitaet.net/ thema/ treibhausgase/ [2] Baum, Herbert; Heinicke, Benjamin; Mennecke, Christina (2012): Carsharing als alternative Nutzungsform für Elektromobilität. In: Zeitschrift für Verkehrswissenschaft, Jg. 83, H. 2: 63-109 [3] Barthel, Steffen (2012): Elektroautos im Carsharing. In: Internationales Verkehrswesen, Jg. 64, H. 01: 38-42 [4] Kuhnimhof, Georg; Wirtz, Matthias (2012): Von der Generation Golf zur Generation Multimodal: Mobilitätstrends junger Erwachsener. In: Der Nahverkehr, H. 10: 7-12 [5] Wilke, Georg (2006): Zukunft des Car-Sharing in Deutschland: Schlussbericht. Wuppertal [6] Gehl, Jan (2011): Cities for People; Washington, Island Press  1 Das diesem Beitrag zugrunde liegende Forschungsprojekt „Neue Mobilität für die Stadt der Zukunft“ wurde von der Stiftung Mercator 2012/ 2013 gefördert. An dem Forschungsprojekt wirkten neben dem ISS/ Institut für Stadtplanung und Städtebau der Universität Duisburg-Essen (Jan Garde, Hendrik Jansen, J. Alexander Schmidt, Hanna Wehmeyer) noch das KWI/ Kulturwissenschaftliche Institut in Essen (Gunnar Fitzner, Ludger Heidbrink) und die TRC/ Transportation Research and Consulting GmbH (Katie Biniok, Jörg Schönharting, Artur Wessely) mit. 2 Der vollständige Ergebnisbericht des Forschungsprojektes sowie weitere Informationen sind unter www.uni-due.de/ staedtebau verfügbar. Bild 4: Die Bilder zeigen die Qualität des Verkehrsraumes bzw. Öffentlichen Raumes im Jahr 2013 (oben) und eine visionäre Darstellung für das Jahr 2030 (unten). Hendrik Jansen, Dipl.-Ing. Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Stadtplanung & Städtebau, Universität Duisburg-Essen, Essen hendrik.jansen@uni-due.de Jan Garde, Dipl.-Ing. Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Stadtplanung & Städtebau, Universität Duisburg-Essen, Essen jan.garde@uni-due.de J. Alexander Schmidt, Prof. Dr.-Ing., M. Arch Leiter des Institut für Stadtplanung & Städtebau, Sprecher des Profilschwerpunktes Urbane Systeme an der Universität Duisburg-Essen, Essen alexander.schmidt@uni-due.de