Internationales Verkehrswesen
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expert verlag Tübingen
10.24053/IV-2013-0107
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Unterwegs in die Zukunft
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Günter Murr
Rückblick: Auf dem 1. deutscher Mobilitätskongress in Frankfurt am Main diskutierten rund 250 Teilnehmer über neue Ansätze in der Verkehrsbranche und die Finanzierung der Infrastruktur.
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SERVICE Veranstaltungen Internationales Verkehrswesen (65) 4 | 2013 84 Unterwegs in die Zukunft Rückblick: Auf dem 1. deutscher Mobilitätskongress in Frankfurt am Main diskutierten rund 250 Teilnehmer über neue Ansätze in der Verkehrsbranche und die Finanzierung der Infrastruktur. I nvestitionsstau bei der Infrastruktur, neue Herausforderungen durch den Klimawandel, Änderungen im Nutzerverhalten: Es gibt viele Zukunftsthemen, die in der Verkehrsbranche derzeit diskutiert werden. Auf dem 1. Deutscher Mobilitätskongress am 7. November in Frankfurt am Main, veranstaltet von der Deutschen Verkehrswissenschaftliche Gesellschaft (DVWG) mit ihren Partnern Rhein-Main-Verkehrsverbund GmbH (RMV), International School of Management GmbH (ISM), House of Logistics & Mobility GmbH (HOLM) und Messe Frankfurt GmbH (Messe), wurden die verschiedenen Ansätze erstmals branchen- und verkehrsträgerübergreifend zusammengeführt. „Energie und Mobilität - unterwegs in eine nachhaltige Gesellschaft“ lautete das Motto des Kongresses. Zum Auftakt kamen rund 250 Verkehrsexperten - ein viel versprechender Start, findet Prof. Knut Ringat, Geschäftsführer des Rhein-Main-Verkehrsverbunds und DVWG-Präsident. Ihm geht es darum, über die Zukunft der Mobilität nicht wie sonst oft üblich getrennt nach Sparten zu diskutieren, sondern umfassend. Ringat: „Wir kommen nicht weiter, wenn jeder Verkehrsträger im eigenen Saft schmort.“ Aber auch das Thema Infrastruktur-Finanzierung spielte eine große Rolle. In einem „Frankfurter Appell“ forderten die Teilnehmer des Mobilitätskongresses von der künftigen Bundesregierung, den „Substanzverlust der Infrastruktur“ zu stoppen. Es müssten neue Prioritäten gesetzt werden, die sich nicht nach politischen Wünschen, sondern nach den tatsächlichen Notwendigkeiten im Verkehrsnetz richten, erläuterte Prof. Dr. Andreas Knie, Geschäftsführer des Innovationszentrums für Mobilität und gesellschaftlichen Wandel InnoZ: „Große Teile Ostdeutschlands brauchen keine neuen Autobahnen mehr.“ Der für das Ressort Personenverkehr zuständige Bahn-Vorstand Ulrich Homburg wies darauf hin, dass die zusätzlichen Fahrgäste, die sein Konzern erwartet, vor allem in den Ballungsräumen auftauchen werden. „Wir sind fest davon überzeugt, dass öffentliche Verkehrsmittel noch nie eine so gute Zukunftsperspektive hatten wie heute“, sagte er. Auf Schienen und Bahnhöfen sei aber nicht genügend Platz. Die Beseitigung von Engpässen müsse deshalb Vorrang haben vor dem Neu- und Ausbau. Und schneller soll es gehen. Planungszeiten von 15 oder 20 Jahren für den Bau von Infrastrukturprojekten seien „nicht vermittelbar“, heißt es im „Frankfurter Appell“. Dr. Heiner Geißler, ehemaliger Bundesminister und einer der Hauptredner des Kongresses, zieht daraus vor allem eine Konsequenz: „Wir brauchen ein neues Bau- und Planungsrecht.“ Dieses müsse vor allem eine umfassende Bürgerbeteiligung vorsehen. Seiner Ansicht führt das nicht zu Zeitverlust. „Im Gegenteil: Damit können wir sogar schneller bauen.“ Hingegen warnte Ralph Beisel, Hauptgeschäftsführer des Flughafenverbandes ADV, vor „weiteren Schleifen“ bei der Bürgerbeteiligung. „Sonst dauern Genehmigungsverfahren nicht zehn bis 15, sondern 20 bis 25 Jahre.“ Skeptisch zeigte sich auch Steffen Saebisch, Staatssekretär im hessischen Verkehrsministerium: „Man muss sich fragen, ob tatsächlich die Bürger beteiligt werden oder ob es sich um eine Beteiligung von Veranstaltungsort des Deutschen Mobilitätskongresses: Gesellschaftshaus im Palmengarten (Alle Fotos: Stefanie Kösling) Viel versprechender Start: Rund 250 Teilnehmer im Plenum des 1.-Deutschen Mobilitätskongresses SERVICE Veranstaltungen Internationales Verkehrswesen (65) 4 | 2013 85 Verbänden und Lobbygruppen handelt.“ Außerdem könne auf die Verfahren wenig Einfluss genommen werden, „da wir eine Rechtsordnung haben, die das Ergebnis bis ins Detail vorgibt.“ Saebisch wies zudem auf ein anderes Problem hin: „Es fließt viel Geld in Planungen, die gar nicht realisiert werden.“ Es reiche nicht, mehr Geld zu fordern; man müsse auch die Strukturen schaffen, um es ausgeben zu können. Betroffen seien vor allem die Landesstraßenverwaltungen, die heute schon Schwierigkeiten hätten, Fachkräfte zu bekommen. In verschiedenen Panels diskutierten die Teilnehmer über die Zukunft des Automobils, über Fragen von Energie und Umwelt und zukunftsweisende Mobilitätskonzepte. So stellte Prof. Dr. Arnd Stephan Optimierungspotenziale im Bahnverkehr vor 1 - er sieht die Zeit reif für einen „Ein-Liter-Zug“. Der Autoverkehr wird nach Ansicht mehrere Experten künftig verstärkt von Elektrofahrzeugen und Car-Sharing-Modellen geprägt sein. Es ging aber auch um ganz grundsätzliche Fragen zur Zukunft der Mobilität. „Wir können es uns nicht mehr leisten, alle Wünsche zu erfüllen“, sagte etwa InnoZ- Geschäftsführer Knie. Seiner Ansicht nach sind wir dabei, das Maximum an Verkehrsleistung zu erreichen - gewissermaßen „Peak Mobility“ in Analogie zum globalen Ölfördermaximum „Peak Oil“. Die derzeitige „raumintensive Lebensweise“ sei nicht zukunftsfähig. Dem widersprach Dr. Georg Teichmann, Senior Manager bei der Wirtschaftsprüfungsgesellschaft PricewaterhouseCoopers. „Keiner will sich begrenzen lassen“, sagte er. „Wir müssen auf den Verbraucher hören.“ Das betonte auch Roland Koch, Vorstandsvorsitzender des Dienstleistungs- und Baukonzerns Bilfinger SE und einer der Hauptredner: Die Wahrscheinlichkeit, dass die Mobilität abnimmt, sei für die aktuelle Generation „gleich Null“. Dr. Karlheinz Steinmüller, Wissenschaftlicher Direktor der Z_Punkt GmbH in Berlin, teilt diese Einschätzung. Lege man die aktuellen Wachstumsraten zugrunde, könnte sich bis 2050 die weltweite Verkehrsleistung verdoppeln. Bei Konzepten zur Verkehrsvermeidung sei Skepsis angebracht. „Eine generelle Entschleunigung der Gesellschaft scheint auf absehbare Zeit ein utopischer Wunsch zu bleiben.“ Das gilt aber offenbar nicht in jedem Fall. Fernbusse etwa sind sehr erfolgreich, obwohl die Fahrzeiten länger sind als bei der Bahn. „Manchmal ist Zeit gar nicht so wichtig“, stellte Panya Putsathit fest, Geschäftsführer der MeinFernbus GmbH. Man habe viele Kunden vom Auto gewonnen, rund sieben Prozent der Fahrgäste seien Geschäftsreisende. Die neigen sonst eher dazu, das Flugzeug zu nutzen. Was das für die Infrastruktur heißt, ist umstritten. Koch verteidigte den Ausbau der Regionalflughäfen. So seien zum Beispiel die Unternehmen der Region Rhein-Neckar trotz der Nähe zum Flughafen Frankfurt darauf angewiesen, von Mannheim aus starten zu können. „Sonst würden viele abwandern. Mobilität ist nicht nur eine Massenveranstaltung von Millionen.“ Zur Förderung der regionalen Wirtschaft wurde noch in Roland Kochs Zeit als hessischer Ministerpräsident damit begonnen, den Flughafen in Kassel-Calden auszubauen. Der wird momentan noch nicht wie erwartet genutzt. „Man sollte diesem Projekt eine Chance geben“, warb Staatssekretär Saebisch. „Wir haben uns zum Ziel gesetzt, bis 2018 eine schwarze Null zu erreichen.“ Erfolgreicher ist der größte deutsche Flughafen in Frankfurt. Dessen Chef Dr. Stefan Schulte rechnet mit weiterem Wachstum und bekannte sich zum Bau des politisch umstrittenen dritten Terminals - „so klein und so spät wie möglich“. Drohen Engpässe auch im Luftverkehr? ADV-Geschäftsführer Beisel plädierte dafür, die Flughäfen in Deutschland stärker zu vernetzen, damit sie sich gegenseitig entlasten können. Vernetzung war eines der wichtigen Themen des Kongresses. „Aber 1 Siehe auch Interview auf Seite 64 wer vernetzt uns denn? “, fragte Andreas Knie. „Keiner denkt über den Tellerrand hinaus, keiner geht auf den anderen zu.“ Beim nächsten Mobilitätskongress am 13. November 2014 in Frankfurt sollen weitere Schritte unternommen werden, um dieses Defizit zu beheben. „Wir müssen die Kräfte der Mobilitätsbranche zusammenführen“, forderte DVWG-Präsident Ringat. Wie das bei der Auftaktveranstaltung gelungen ist, lässt sich in der Dokumentation nachlesen, die voraussichtlich Ende 2013 in der DVWG-Geschäftsstelle erhältlich ist. Günter Murr, Journalist, Frankfurt am Main ■ DVGW-Präsident Prof. Knut Ringat: Die Kräfte der Mobilitätsbranche zusammenführen Fazit aus den Statements, Vorträgen und Diskussionen: Über den Tellerrand hinaus denken Dr. Heiner Geißler: Umfassende Bürgerbeteiligung von Anfang an beschleunigt große Bauprojekte
