eJournals Internationales Verkehrswesen 66/1

Internationales Verkehrswesen
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0020-9511
expert verlag Tübingen
10.24053/IV-2014-0021
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2014
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Nachtzug 2.0

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2014
Thomas Sauter-Servaes
Steven Olma
Das traditionelle Geschäftsmodell des Nachtzugbetriebs steht weltweit vor großen Herausforderungen. Eine Studie der DB International GmbH im Auftrag des Internationalen Eisenbahnverbands (UIC) hatte das Ziel, neue Entwicklungspfade für den Nachtzugverkehr aufzuzeigen. Im Zentrum der Untersuchung stand die zukünftige Nutzung von Hochgeschwindigkeitsstrecken und -fahrzeugen bei Nachtzügen.
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Internationales Verkehrswesen (66) 1 | 2014 68 Nachtzug 2.0 Neue Chancen durch Hochgeschwindigkeitsangebote Das traditionelle Geschäftsmodell des Nachtzugbetriebs steht weltweit vor großen Herausforderungen. Eine Studie der DB International GmbH im Auftrag des Internationalen Eisenbahnverbands (UIC) hatte das Ziel, neue Entwicklungspfade für den Nachtzugverkehr aufzuzeigen. Im Zentrum der Untersuchung stand die zukünftige Nutzung von Hochgeschwindigkeitsstrecken und -fahrzeugen bei Nachtzügen. Die Autoren: Thomas Sauter-Servaes, Steven Olma D er Nachtzugverkehr sieht sich seit einigen Jahren mit einem steigenden Wettbewerbsdruck konfrontiert. Dies gilt vor allem für das traditionelle Nachtzuggeschäft, dessen Züge neben Sitzwagen je nach Qualitätsniveau auch Liegeund/ oder Schlafwagen anbieten. Diese Züge verlassen abends den Ausgangsbahnhof und erreichen ihren Zielbahnhof am Vormittag des Folgetages. In einem anderen Marktsegment agieren mehrtägige Bahnreisen und Luxuszüge, die stärker touristisch geprägt sind und bei denen die Zugfahrt selbst einen Erlebniswert darstellt. Standardtageszüge, die nur aus Sitzwagen bestehend auf Nachtverbindungen eingesetzt werden, sind eher als intramodale Low-Budget-Konkurrenz anzusehen. Nicht selten ist ihr Einsatz den Umlaufplanungen des Tagesverkehrs geschuldet. Sandwichposition zwischen HGV- Tageszügen und Low-Cost Carriern Als bedeutendere intramodale Konkurrenz verbinden Hochgeschwindigkeitszüge im Tagesverkehr immer mehr Städte, die zuvor schwerpunktmäßig von Nachtzügen bedient wurden. Aufgrund des kontinuierlich weiter wachsenden Hochgeschwindigkeitsnetzes und neuer Fahrzeuggenerationen mit stärkerer Beschleunigung und höheren Höchst- und Durchschnittsgeschwindigkeiten wird sich dieser Trend in Zukunft fortsetzen. Gleichzeitig hat die Liberalisierung des Luftverkehrs zum Markteinstieg vieler neuer Luftverkehrsgesellschaften geführt. Die neuen Low-Cost-Fluggesellschaften haben auf der Kurz- und Mittelstrecke eine starke Ausdehnung des Flugstreckennetzes und der angebotenen Kapazitäten bewirkt [DLR 2006; DLR 2013]. Damit ist der Luftverkehr nicht nur auf immer mehr Städteverbindungen mit relevanten Kapazitäten im Markt vertreten. Er hat zudem einen teilweise ruinösen Preiswettbewerb ausgelöst, der sich auch verkehrsträgerübergreifend auf die Zahlungsbereitschaft im Nachtzugverkehr auswirkt. Angesichts dieser Herausforderungen stellt sich die Frage nach einer Neuausrichtung des Nachtzugverkehrs. In der Vergangenheit haben die Bahngesellschaften vor allem mit Angebotskürzungen und Kostenoptimierungen im Bestandsnetz auf die wachsende intramodale und intermodale Konkurrenz reagiert [Manthei 2005]. Alternativ kann der Ausbau des Hochgeschwindigkeitsnetzes als Chance angesehen werden, mit altem oder neuem Fahrzeugmaterial deutlich höhere Durchschnittsge- Foto: Ivanikova/ Fotolia MOBILITÄT Nachtzüge Internationales Verkehrswesen (66) 1 | 2014 69 Nachtzüge MOBILITÄT schwindigkeiten zu erzielen. Hierdurch ließen sich einerseits spätere Abfahrtzeiten, frühere Ankünfte oder eine robusterer Fahrplan realisieren. Bedeutend interessanter ist es jedoch innerhalb der bestehenden Zeitfenster erheblich größere Entfernungsbereiche abzudecken [Sauter-Servaes 2012]. Neues Nachtzugprodukt als Antwort auf veränderten Markt Bislang agiert der traditionelle Nachtzugverkehr mit Höchstgeschwindigkeiten von maximal 200 km/ h und überwiegenden Reiseentfernungen von rund 1000 km. Diese Werte können je nach betrachteter Weltregion stark variieren. Durch eine Erhöhung der Spitzengeschwindigkeit auf etwa 300 km/ h werden Reiseweiten von über 2000 km innerhalb eines 12-h-Zeitfensters realisierbar. Geeignetes Rollmaterial ist mit dem Bombardier Zeiro CRH1 als Nachtzugversion in China bereits im Einsatz. Das Streckennetz kann somit signiikant ausgedehnt und neue nachfragestarke Destinationen eingebunden werden. Das entsprechende Angebot wurde als Very Long Distance Night Train (VLDNT) deiniert (siehe Bild- 1). Damit dringt der Nachtzug in ein Marktsegment vor, das bislang stark vom Luftverkehr dominiert wird. Auto, Bus und Tageszug sind über Distanzen von rund 2000 km aufgrund der langen Reisezeiten für einen Großteil der Reisenden zu unkomfortabel und stellen daher überwiegend keine relevanten Alternativen dar (siehe Bild-2). Fokussiert sich der Wettbewerb auf den Luftverkehr, kann der Nachtzug zukünftig von seinem elektrischen Antrieb und seiner bedeutend höheren Klimaverträglichkeit proitieren. In weit geringerem Maße wird seine Kostenstruktur von dem prognostizierten Ölpreisanstieg betrofen sein als der Luftverkehr. Zudem könnten weitere politische Klimaschutzregulierungen den Luftverkehr empindlich trefen und zu kostenintensiven Ausgleichsmaßnahmen (z. B. Emissionsrechtehandel) oder gar Verkehrsbeschränkungen führen. Im Zeitraum bis 2025 ist daher zu erwarten, dass die Attraktivität des VLDNT für Privatreisende (Preis), Geschäftsreisen induzierende Unternehmen (CSR-Ziele, Image) und Politik (Klimaschutzziele) tendenziell steigen wird. Unter strategischen Gesichtspunkten stellt die Aufnahme besonders langer Städteverbindungen demnach ein attraktives neues Geschäftsfeld dar. In der von DB International im Auftrag der UIC durchgeführten Studie [UIC 2013] sollte daher untersucht werden, inwieweit die bahnseitig systemimmanenten Charakteristika den wirtschaftlichen Betrieb derartiger Verkehre ermöglichen. Entsprechend sollte geprüft werden, ob die notwendigen Trassenkapazitäten auf den Hochgeschwindigkeitsstrecken in der Nacht tatsächlich zur Verfügung stehen und die Kostenstruktur durch das neue Betriebsschema beeinlusst wird. Ausgehend von der betrieblichen Machbarkeit des VLDNT-Angebots war das nachfrageseitige Reisendenpotenzial für das neue Angebot zu ermitteln. Dabei wurde ein äußerst konservativer Berechnungsansatz angewendet. Die Abschätzung des Gesamtaukommens der jeweiligen VLDNT- Route basiert ausschließlich auf den Passagierzahlen der substituierbaren Nonstop- Flugverbindungen. Mögliche Verlagerungen vom Tageszugverkehr, Bus oder Auto zum VLDNT wurden nicht betrachtet, da ihr Marktanteil verhältnismäßig gering ist und die Datengrundlagen im Vergleich zum Luftverkehr nur sehr unvollständig zur Verfügung stehen. Durch das innovative Angebot induzierte Neuverkehre wurden bewusst nicht berücksichtigt. Globale Identifikation von Streckenpotenzialen Die Studie untersucht die Chancen neuer Nachtzugangebote nach dem VLDNT-Modell in insgesamt fünf Weltregionen: China, Indien, USA, Japan und Europa. Auf der Grundlage eines Gravitationsmodells werden für jede Region Nachfrageschwerpunkte identiiziert und potenziell aukommensstarke Korridore skizziert. Anhand des speziischen Betriebsprogramms von qualitativ hochwertigen Nachtzügen (Boardingzone, Nachtruhe, De-Boardingzone, vgl. Sauter- Servaes 2007 und Bild 3) werden innerhalb der Korridore geeignete VLDNT-Strecken konstruiert. Für die jeweils substituierbaren Nonstop-Flugstrecken konnte dann das existierende Fluggastaukommen ermittelt und per Trendprognose für 2025 berechnet werden. Die so streckenspeziisch erhobene Gesamtnachfrage wurde ins Verhältnis zur Kapazität des geplanten Nachtzuges gesetzt. Daraus abgeleitet wird die notwendige Substitutionsrate, also der prozentuale Anteil aller relevanten Flugreisenden, die zur Erzielung eines marktüblichen Auslastungsgrades auf den Nachtzug verlagert werden müssten. Je kleiner diese Rate ist, desto größer ist Chance am Markt zu reüssieren. An die Analyse der nachfrageseitigen Machbarkeit (Potenzialanalyse) schloss sich Untersuchung der wirtschaftlichen Machbarkeit (Kostenanalyse) an. Die Studie geht davon aus, dass ein wirtschaftlicher Betrieb Bild 1: Traditionelles und innovatives Nachtzugangebot im Vergleich Bild 2: Konkurrierende Verkehrsträger im Entfernungsbereich 2000 km Internationales Verkehrswesen (66) 1 | 2014 70 MOBILITÄT Nachtzüge des VLDNT nur möglich ist, wenn das Produkt bezogen auf die Kosten pro verfügbaren Sitzplatzkilometer (ASK) 2025 ein ähnliches Niveau wie die Low-Cost-Fluggesellschaften erzielt. Aufgrund der aktuellen Datenverfügbarkeit beschränkt sich die vergleichende Kostenbetrachtung von Luftverkehr und VLDNT auf das Untersuchungsgebiet Europa. Als zusätzliche Orientierungshilfe wurde zudem für ausgewählte Routen eine aktuelle Preisanalyse durchgeführt. Die ermittelten Preisspektren dienten der Abschätzung des gegenwärtig zu erzielenden Ertrags pro Kilometer eines zukünftig konkurrierenden Nachtzugangebots. Attraktive Wettbewerbsposition - aber hemmende Infrastrukturkosten Das aktuelle Passagieraukommen ist überwiegend so hoch, dass überwiegend bereits die Verlagerung von rund zehn Prozent der für 2025 prognostizierten Flugpassagiere auf den VLDNT den für einen wirtschaftlichen Betrieb erforderlichen Auslastungsfaktor von 75 Prozent gewährleisten würde. Insbesondere in China wurden mehrere Nachtzugkorridore mit hohem Reisendenpotenzial identiiziert. Aber auch die europäische Achse Madrid-Barcelona-Paris- London (bzw. Paris-Brüssel-Amsterdam) erzielte aussichtsreiche Resultate. Aufgrund der prognostizierten Ölpreissteigerungen und zu erwartenden härteren Klimaschutzregulierungen wird sich die Wettbewerbssituation bis 2025 voraussichtlich weiter verbessern. Für 2025 kommt die Studie zu dem Schluss, dass sich der Kostenvorteil pro Sitzbzw. Bettkilometer des Luftverkehrs gegenüber dem Nachtzug deutlich verringert. Aufgrund der bedeutend höheren Lauleistung des Nachtzugs (Streckenführung über aukommensrelevante Unterwegshalte plus allgemeiner Umwegfaktor) und der voraussichtlich weiterhin geringeren Auslastung als beim Flugzeug bleibt der Kostennachteil bezogen auf die Reisekosten pro Sitz/ Bett allerdings signiikant (siehe Beispielrelation London - Madrid in Bild 4). Zwar bestehen grundsätzlich Einschränkungen bei der nächtlichen Nutzung der Hochgeschwindigkeitsinfrastruktur durch Wartungsarbeiten, hohes Gütertransportaukommen und Kapazitätsengpässe in den abendlichen und morgendlichen Verkehrsspitzen. Diese werden jedoch nicht als unüberwindbares Hindernis eingestuft. Die entscheidende Hürde für einen wirtschaftlichen Betrieb stellen jedoch die Trassengebühren dar. Bei der auf Europa beschränkten Kostenbetrachtung wurden sie als der mit Abstand größte Kostentreiber für das innovative Angebot identiiziert. Teilweise betragen sie über 60 Prozent der Gesamtkosten - und können vom Nachtzuganbieter nicht beeinlusst werden. Nur wenn es gelingt, ein spezielles Gebührenmodell für Nachtzüge zu implementieren, kann sich diese besonders klimafreundliche Reiseform langfristig zu einer ökonomisch tragfähigen Alternative zu Mittelstreckenlügen entwickeln. ■ Die vollständige Untersuchung unter: http: / / www.uic.org/ IMG/ pdf/ study_night_trains_2.0.pdf (Broschüre) http: / / www.uic.org/ IMG/ pdf/ 2013-04-30_uic_study_night_trains_2.02. pdf (Studie) LITERATUR DLR (2006): Low Cost Monitor 1/ 2006. Der aktuelle Low Cost Carrier Markt in Deutschland. Köln, Berlin. Im Internet: http: / / www.dlr.de/ fw/ Portaldata/ 42/ Resources/ dokumente/ aktuelles/ Low_Cost_ Monitor_I_2006.pdf DLR (2013): Low Cost Monitor 1/ 2013. Der aktuelle Low Cost Carrier Markt in Deutschland. Köln. Im Internet: http: / / www.dlr.de/ fw/ Portaldat a / 4 2 / R e s o u r c e s / d o k u m e n t e / a k t u e l l e s / L o w _ C o s t _ Monitor_I_2013_final.pdf Manthei, Thomas (2005): Die Zukunft des Nachtzugverkehrs in Europa. In: ZEVrail, Vol. 125, Heft 4, S. 2-9. Sauter-Servaes, Thomas (2007): Nutzungsanreize und -hemmnisse innovativer multimodaler Kooperationsmodelle im Personenfernverkehr anhand des Fallbeispiels Night&Flight. Berlin. Im Internet: Sauter-Servaes, Thomas (2012): Per Nachtzug durch Europa. In: Welzer/ Rammler (Hrsg.): Der FUTURZWEI Zukunftsalmanach 2013. Geschichten vom guten Umgang mit der Welt. Schwerpunkt Mobilität. S. 410-418. UIC (Hrsg., 2013): UIC-Study Night Trains 2.0. New opportunities by HSR? Full report. Im Internet: http: / / www.uic.org/ IMG/ pdf/ study_night_ trains_2.0.pdf Thomas Sauter-Servaes, Dr.-Ing. Mobilitätsforscher & Studiengangleiter „Verkehrssysteme“ ZHAW School of Engineering thomas.sauter-servaes@zhaw.ch Steven Olma, Dipl.-Ing. Senior Consultant DB International GmbH, Berlin steven.olma@db-international.de Bild 4: Verkehrsträgerübergreifender Kostenvergleich - Prognose 2025 Bild 3: Betriebsmuster qualitativ hochwertiger Nachtzüge