eJournals Internationales Verkehrswesen 66/2

Internationales Verkehrswesen
iv
0020-9511
expert verlag Tübingen
10.24053/IV-2014-0038
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2014
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Städtische Seilbahn in La Paz

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2014
Boris Jäggi
In La Paz, dem Regierungssitz Boliviens, mitten in den Hochanden gelegen, entsteht das größte städtische Seilbahnsystem der Welt. Insgesamt werden zehn Stationen auf einer Höhe zwischen 3300 und 4100 m ü.M. mit einer Länge von über 9,5 km miteinander verbunden. Das ab Mai 2014 für die Bevölkerung offene System soll als modernstes öffentliches Verkehrsmittel die Verkehrssituation der Stadt verbessern.
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Internationales Verkehrswesen (66) 2 | 2014 22 INFRASTRUKTUR Urbaner Nahverkehr Städtische Seilbahn in La Paz In La Paz, dem Regierungssitz Boliviens, mitten in den Hochanden gelegen, entsteht das größte städtische Seilbahnsystem der Welt. Insgesamt werden zehn Stationen auf einer Höhe zwischen 3300-und-4100-m ü.M. mit einer Länge von über 9,5 km miteinander verbunden. Das ab Mai 2014 für die-Bevölkerung offene System soll als modernstes öffentliches Verkehrsmittel die Verkehrssituation der-Stadt verbessern. Der Autor: Boris Jäggi V erkehrssysteme in Großstädten von Entwicklungsländern zu organisieren, ist eine große Herausforderung für verantwortliche Verwaltungsorgane. Während in industrialisierten Ländern Wirtschaftswachstum, Straßenbau, verkehrsplanerisches Knowhow, Autobesitz und Verstädterung einigermaßen im Gleichschritt gewachsen sind, haben in Entwicklungsländern besonders Verstädterung und Autobesitz überproportional schnell zugenommen, was große Probleme verursacht. Die Ausgangslage Bolivien ist das am BIP pro Kopf gemessen ärmste Land Südamerikas. Hier leben 67 % der Menschen in Städten [1] und die Zahl der Fahrzeuge stieg von 418 000 Fahrzeugen im Jahr 2002 (50 Fahrzeuge/ 1000 Einwohner) auf 1 157 000 (115 Fzg./ 1000 E.) im Jahr 2012 [2]. Der größte Teil dieser Autos sind Gebrauchtwagen aus Japan, darunter viele Kleinbusse, die den wichtigsten Teil des informellen öffentlichen Verkehrs in La Paz bestreiten. Dies führt zur Situation, dass La Paz trotz eines ÖV-Anteils von fast 80 % am motorisierten Verkehr ein Stauproblem hat. In La Paz gibt es erst drei formelle, von einer städtischen Gesellschaft betriebene Buslinien, welche auch erst im März 2014 eröffnet wurden. Die größte Besonderheit ist jedoch die Geographie: La Paz liegt in einem Anden-Kessel am Rande der auf 4100-m ü.M. gelegenen Hochebene des Altiplanos und ist zusammengewachsen mit der auf der Hochebene gelegenen Schwesterstadt El Alto, die mit über 800 000 Einwohnern [1] größer ist als La Paz selber. El Alto liegt eben, ist bewohnt von mehrheitlich indigenen Zuwanderer vom Land, schwer regierbar mit schlechter Infrastruktur und wirtschaftlich vom informellen Sektor abhängig. La Paz hingegen liegt eng verbaut an steilen Hängen, ist Regierungssitz und Wohnort der bürgerlichen Bevölkerung und stark geprägt von Dienstleistungssektor, Gastronomie, Staat und Universitäten. Täglich strömen Tausende Pendler vom ärmeren El Alto zu den Arbeitsplätzen in La Paz. Entstehungsgeschichte des Projekts Die Idee einer Seilbahn in La Paz ist nicht neu. Schon vor über 50 Jahren wurden von damaligen Bürgermeistern verschiedene Projekte evaluiert, aber nie realisiert. Eine Seilbahn als öffentliches Verkehrsmittel zu benutzen, drängt sich in La Paz auf Grund der großen Höhenunterschiede und der sehr engen Platzverhältnisse auf. Die steilen Hänge machen zudem schienenbasierte Systeme nahezu unmöglich. Die Idee eines für Pendler ausgelegten, städtischen Seilbahnsystems wurde von der Regierung von Evo Morales 2011 wieder aufgenommen. Ziel war es, in kurzer Zeit ein modernes Seilbahnsystem für die Bevölkerung der INFRASTRUKTUR Urbaner Nahverkehr Internationales Verkehrswesen (66) 2 | 2014 23 Urbaner Nahverkehr INFRASTRUKTUR Stadt La Paz zu bauen, das die Verkehrssituation verbessern und der Stadt ein modernes Gesicht geben soll. Nach einer kurzen Evaluierungsphase wurde das Projekt direkt an die österreichisch-schweizerische Firma Doppelmayr-Garaventa vergeben, die städtische Seilbahnsysteme bereits in Algerien, Brasilien und Venezuela gebaut hat und als Generalunternehmung fungiert. Zum Zeitpunkt des Vertragsabschlusses im September 2012 war die genaue Linienführung noch nicht bekannt, und nur eine rudimentäre Vorstudie existierte. Es war Teil des Auftrages, zusammen mit dem Bauministerium als Auftraggeber die Standorte der Stationen zu definieren. Für den Auftraggeber war ein schneller Fortschritt des Projektes wichtig, damit das Seilbahnsystem im Jahr 2014, einem Wahljahr, eröffnet werden kann - eine Rekordzeit für ein Infrastrukturprojekt dieser Größenordnung. Die Kosten des Projekts belaufen sich auf 235 Mio. USD, darin inbegriffen sind Seilbahntechnik, Hoch- und Tiefbauten, Schulung, technische Begleitung für ein Jahr, Zahlungssystem, Enteignungen und begleitende Studien. Zu diesem vergleichsweise hohen Betrag haben auch allfällige Risiken, weite Transportwege, fehlendes Knowhow vor Ort und die kurze Planungs- und Bauzeit beigetragen. Obwohl Bolivien ein armes Land ist, verfügt die Regierung selbst dank der staatlichen Erdgasproduktion über beachtliche finanzielle Mittel, die sie unter anderem für Sozialprogramme, wirtschaftliche Entwicklung, Ausbau der Infrastruktur und Prestigeprojekte einsetzt. Das städtische Seilbahnsystem, das zu den letzten beiden Kategorien gezählt werden kann, wurde direkt über die allgemeinen Mittel des Staatshaushaltes finanziert. Baubeginn war März 2013. Das Seilbahnprojekt Das Seilbahnsystem besteht aus drei Linien (Bild 1): Die Rote Linie verbindet El Alto mit dem Stadtzentrum von La Paz, die Gelbe führt von El Alto zu den unterhalb am Stadtzentrum angrenzenden Quartieren. Die Grüne erschließt, als Fortsetzung davon, die tiefer gelegenen Quartiere der Ober- und Mittelschicht. Die Bergstationen der Roten und Gelben Linie liegen an der Kante zwischen dem flachen El Alto und dem Kessel von La Paz. Die Rote Linie Die Bergstation der Roten Linie in El Alto liegt in Gehdistanz zwischen dem Quartier „16 de Julio“, in dem zwei Mal pro Woche einer der größten informellen Märkte Lateinamerikas stattfindet, und dem Haupt-Umsteigeort „Ceja“, wo sich die Minibusse aus La Paz und El Alto treffen - es ist der am stärksten überlastete und chaotischste Ort der Region. Von hier geht es über eine Zwischenstation beim Zentralfriedhof zum alten Bahnhof der stillgelegten Eisenbahnlinie, nördlich und oberhalb des aus Hochhäusern bestehenden Zentrums. Diese Linie wird die stärkste Nachfrage aufweisen, wurde vorrangig geplant, zuerst gebaut und soll im Mai 2014 fürs Publikum eröffnet werden. Sie hat eine Länge von 2289 m und überwindet 401 m Höhenunterschied in 11 min Fahrzeit. Die Gelbe Linie Die Bergstation der Gelben Linie in El Alto liegt südlich der Roten Linie am Rande eines vergleichsweise wohlhabenden Quartiers von El Alto. Von hier geht es über zwei Zwischenstationen im Steilhang und im mittelständischen Geschäfts- und Ausgangviertel zur in einer Schlucht gelegenen Talstation „El Libertador“. Diese Station liegt genau zwischen höher gelegenen, älteren Stadteilen und den neueren, flussabwärts gelegenen Quartieren der wohlhabenden Süd-Zone und zudem verkehrsmäßig günstig nahe bei allen wichtigen Verbindungen zwischen den Stadtteilen. Die Gelbe Linie ist 3633 m lang und schafft einen Höhenunterschied von 665 m in 17 min. Die Eröffnung ist für Juli 2014 geplant. Die Grüne Linie Die Bergstation der Grünen Linie liegt im selben Gebäude wie die Talstation der Gelben Linie, in der Station „El Libertador“, welche auch dank der Anbindung ans Straßennetz den Charakter einer Umsteigestation hat. Von der Bergstation führt die Grüne Linie zuerst hoch zu einer Zwischenstation, dann seitlich über die am Hang gelegenen Wohnquartiere mit einer weiteren Zwischenstation und schließlich steil über Felsen hinunter zum Rande der Süd-Zone. Sie hat eine Länge von 3655 m, einen Höhenunterschied von 130 m und eine Fahrzeit von 17 min. Die Eröffnung ist für August 2014 geplant. Bild 1: Das Projekt im Überblick (Alle Abbildungen: Boris Jäggi) Bild 2: Blick von La Paz zur Kante von El Alto mit Baustelle der Bergstation der Gelben Linie oben rechts. Internationales Verkehrswesen (66) 2 | 2014 24 INFRASTRUKTUR Urbaner Nahverkehr Technische Details Alle drei Linien sind durchlaufende Gondelbahnen, ausgelegt als zwei unabhängig voneinander betriebene Teilsysteme. Die Kabinen haben jeweils eine Kapazität von 10-Personen, sind vom Tragseil lösbar, werden zum Unterhalt über Nacht abgenommen und in jeweils einer Garage abgestellt. Sie laufen mit einer Geschwindigkeit von 5- m/ s, entsprechend einer Kapazität von 3000 Personen pro Stunde pro Richtung. Alle Zwischenstationen sind mit Kontrollstelle, Ticketverkauf, Toiletten und mietbaren Verkaufsflächen ausgerüstet. Ein elektronisches Ticketsystem mit einer kontinuierlich aufladbaren Karte, von der ein fixer Fahrpreis pro Linie beim Eintreten abgezogen wird, ist vorgesehen. Die Karte wird man an den Stationen, aber auch an Kiosken oder in kleinen Läden aufladen können. Die Fahrpreise - ein wichtiger Faktor für den Erfolg des Projekts und daher auch eine politische Angelegenheit - sind zum jetzigen Zeitpunkt Anfang April noch nicht definiert, werden aber im Bereich von zwei bis fünf Bolivianos (ca. 20 bis 50 Eurocents) liegen. Der (formelle) Mindestlohn in Bolivien beträgt 1200 Bolivianos monatlich. Ausblick Die größte Herausforderung für einen langfristigen Erfolg dieses Seilbahnprojekts wird die Integration in die bestehenden und zukünftigen Verkehrsstrukturen. Zum jetzigen Zeitpunkt arbeitet die zur Oppositionspartei gehörende Stadtverwaltung von La Paz an einem modernen Bussystem, welches die informellen Minibusse ersetzen soll. Sowohl das Bussystem wie auch die Seilbahnen können ihre Wirkung am besten entfalten, wenn die Systeme gut miteinander vernetzt werden. Trotz der schwierigen politischen Konstellation zwischen Stadt und Zentralregierung haben die beiden Lager eine Absichtserklärung zur Zusammenarbeit unterschrieben. So werden z. B. die Seilbahnstationen auch Haltestellen für Busse bekommen. Welche Buslinien welche Stationen anfahren werden, steht noch nicht fest. Hier können die Planer auf die Hilfe einer ausländischen NGO und südamerikanischer Experten zählen. Die Anbindung der informellen Minibusse ist eine zusätzliche Herausforderung, weil diese Linien zwar von der Stadt reguliert werden, die Lizenzen für den Betrieb der Busse aber von Syndikaten vergeben werden; das führt immer wieder zu Spannungen zwischen den Beteiligten. Sowohl das Bauministerium wie auch die Stadt La Paz sind bemüht, eine für beide Seiten gewinnbringende Lösung zu finden, da sowohl das neue Busals auch das Seilbahnsystem prestigeträchtige und prioritäre Projekte sind. Gemäss einem baubegleitend erstellten Verkehrsmodell wird die Rote Linie schon im ersten Betriebsjahr während der Spitzenstunde voll ausgelastet sein, während die anderen Linien erst in 10 bzw. 20- Jahren die volle Belastung erfahren sollen. Es ist jedoch trotz Modell schwierig vorauszusehen, wie die Menschen reagieren werden - besonders, welche Gehzeiten bis zur nächsten Station in teils sehr steilem Gelände in Kauf genommen werden. In La Paz gibt es zur Abendspitzenstunde häufig Wartezeiten von mehr als einer Stunde, weil alle Verkehrsträger besetzt sind. In einer solchen Situation kann ein neuartiges Angebot Verhaltensveränderungen hervorrufen, die a priori schwer vorauszusehen sind. Seit der Fortschritt der Arbeiten physisch zu sehen ist, steht die Bevölkerung dem Seilbahnprojekt generell positiv gegenüber. Bei einer Umfrage gaben 70% der Befragten [3] an, das System künftig nutzen zu wollen, und wegen der wettbewerbsfähigen Preisgestaltung ist das auch wahrscheinlich. Ganz sicher werden jedoch die Touristen profitieren, da die neue Gondelbahn die aufregendste Art sein wird, diese außergewöhnliche Stadt von oben zu betrachten. ■ QUELLEN [1] Encuesta de Hogares 2011, Instituto Nacional de Estadística INE; Bolivia 2013 [2] Registro Único para la Administración Tributaria Municipal, Bolivia 2013 [3] Meinungsumfrage im Auftrag von Doppelmayr Bolivien Boris Jäggi, Dipl. Ing. ETH Wissenschaftlicher Mitarbeiter, Gruppe Verkehrsplanung am Institut für Verkehrsplanung und Transportsysteme (IVT) an der ETH Zürich; Wohn- und Arbeitsort La Paz, Bolivien boris.jaeggi@ivt.baug.ethz.ch Bild 4: Baustelle der Station „El Libertador“, an der sich Gelbe und Grüne Linie treffen. Bild 3: Blick aus den Kabinen der Roten Linie auf die Zwischenstation, links davon der Zentralfriedhof, im Hintergrund das Stadtzentrum.