Internationales Verkehrswesen
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0020-9511
expert verlag Tübingen
10.24053/IV-2014-0049
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2014
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Beschaffungslogistik - Konzept, Bedeutung und Potenziale
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Paul Wittenbrink
Beschaffungslogistik als Subsystem der Logistik bildet das Bindeglied zwischen dem Beschaffungsmarkt, also der Distributionslogistik des Lieferanten, und der Produktionslogistik eines Unternehmens. In einer gemeinsam mit dem Bundesverband Materialwirtschaft, Einkauf und Logistik e.V. (BME) durchgeführten Umfrage ging der Autor der Frage nach, wie Unternehmen die Bedeutung der Beschaffungslogistik tatsächlich einschätzen.
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Internationales Verkehrswesen (66) 2 | 2014 57 Beschaffung LOGISTIK Beschaffungslogistik - Konzept, Bedeutung und Potenziale Beschaffungslogistik als Subsystem der Logistik bildet das Bindeglied zwischen dem Beschaffungsmarkt, also der Distributionslogistik des Lieferanten, und der Produktionslogistik eines Unternehmens. In einer gemeinsam mit dem Bundesverband Materialwirtschaft, Einkauf und Logistik e.V. (BME) durchgeführten Umfrage ging der Autor der Frage nach, wie Unternehmen die Bedeutung der Beschaffungslogistik tatsächlich einschätzen. Der Autor: Paul Wittenbrink D ie Aufgabe der Beschaffungslogistik besteht darin, dem Unternehmen alle benötigten, aber nicht selbst erstellten Güter und Leistungen verfügbar zu machen und bedarfsgerecht zur Verfügung zu stellen. 1 Hingegen beschäftigt sich die Distributionslogistik mit den Prozessen der Warenverteilung zur jeweils nachgelagerten Wirtschaftsstufe bzw. zum Endverbraucher. 2 Stand in der Vergangenheit die Optimierung der Distributionslogistik im Vordergrund, während die Lieferungen in vielen Fällen „frei Haus“ eingekauft und die Logistik von der Quelle aus organisiert wurde, zeigt sich seit einigen Jahren ein Trend, die Versorgung verstärkt von der Quelle aus zu organisieren. Vorreiter Automobilindustrie In der Automobilindustrie wurde schon sehr früh von einer Distributionslogistik auf eine vom Automobilhersteller gesteuerte Beschaffungslogistik umgestellt. Häufig kommt es zur Anwendung von Gebietsspediteurkonzepten. 3 Hier holt der Spediteur die Sendungen bei verschiedenen Lieferanten ab und konsolidiert diese Lieferungen für die einzelnen Werke. Bei der internationalen Variante wird von Consolidation Centers gesprochen, bei dem z. B. in einem chinesischen Hafen die Lieferungen verschiedener Lieferanten für den Seetransport gebündelt werden. 4 Ein weiteres Konzept, welches in der Automobilindustrie eingesetzt wird, ist das sogenannte Milk-Run-Konzept. Hier fährt ein LKW verschiedene Lieferanten einer Region ab, um Teilladungen zu bündeln. 5 Ansätze und Vorteile Zunehmend setzt sich das Konzept der Beschaffungslogistik auch für weitere Branchen, insbesondere im Handel, durch. Hier werden die Bündelungseffekte insbesondere darin gesehen, dass bei der i. d. R. stattfindenden Einbeziehung von Handelsregionallagern eine sehr hohe Anzahl von Lieferanten auf eine überschaubare Anzahl von Empfangspunkten trifft, sodass vieles für eine Organisation der Transporte von der Senke aus spricht. 6 Schließlich liegt die Attraktivität des Ansatzes auch darin, dass die Unternehmen die Distributionslogistik in den letzten Jahrzehnten als weitgehend optimiert haben und nun neue Kostensenkungspotenziale in der Beschaffungslogistik suchen. Ziel aller dieser Ansätze ist es, die Bündelung zu erhöhen und damit die Transportkosten zu senken. Nebenbei wird auch die Emission von Treibhausgasen reduziert. Darüber hinaus besteht ein wesentlicher Vorteil der Organisation von der Senke aus darin, die Supply Chain Visibility zu erhöhen, sodass immer „sichtbar“ ist, wo sich die Ware gerade befindet, und Planungs- und Steuerungsprozesse innerhalb der Supply Chain wesentlich erleichtert werden. Hinzu kommen durch die tendenziell höheren Sendungsgrößen und die dadurch reduzierte Anzahl anliefernder LKW im Empfang potenziell geringere Wartezeiten an den Rampen der Empfänger. 7 Differenzierte Analyse notwendig Auch wenn vieles für erhebliche Bündelungs- und Kostendegressionseffekte durch die Beschaffungslogistik spricht, ist für die Identifikation der tatsächlichen Effekte eine differenzierte Analyse notwendig: Zusätzliche Bündelungspotenziale in der Beschaffungslogistik stehen nicht selten reduzierte Bündelungsmöglichkeiten in der Distributi- Wir kümmern uns sehr intensiv darum (strategisch wichtig). 44,0% Wir wollen in Zukunft deutlich mehr machen. 33,6% Wir wissen, dass wir mehr machen könnten, setzen es aber nicht um. 12,7% Wir kümmern uns nicht wirklich darum. 3,0% Es ist für uns kein Thema. 6,7% Verlader: Welchen Stellenwert hat die Beschaffungslogistik für Ihr Unternehmen? % der Unternehmen © BME e.V./ Prof. Dr. Paul Wittenbrink Bild 1: Bedeutung der Beschaffungslogistik Quelle: Wittenbrink, Gburek 2013 Internationales Verkehrswesen (66) 2 | 2014 58 LOGISTIK Beschaffung onslogistik gegenüber. Insofern gilt es sehr genau zu analysieren, ob die Bündelungspotenziale beim Versender oder beim Empfänger größer sind. Die Erfahrung des Autors aus entsprechenden Projekten zeigt, dass es hier kein „entweder oder“, sondern ein „sowohl als auch“ gibt, also eine differenzierte Analyse notwendig ist. Da die Bündelungsmöglichkeiten für Komplettladungen (FTL) eher begrenzt sind, macht es in der Regel kaum Sinn, diese Transporte neu zu organisieren. Ansatzpunkt ist vielmehr der Stückgut- und Teilladungsbereich (LTL). Zudem ist eine Umstellung nicht trivial, besteht bei den Empfängern doch nicht selten eine unbefriedigende Datenlage sowohl über transportkostenrelevante Sendungsdaten (Volumen, Gewichte, Entfernungen, …) als auch die Transportkostenanteile in den Frei-Haus- Preisen. 8 Hinzu kommt der zusätzliche Koordinationsaufwand, der für viele Unternehmen abschreckend wirkt. Potenziale, aber auch Vorbehalte Aber auch von Seiten der Versender bestehen Vorbehalte, besteht doch die Befürchtung, eigene Bündelungsvorteile zu verlieren und darüber hinaus im Zuge der notwendigen Neuverhandlung der Konditionen in „unerwünschte Preisdiskussionen“ zu kommen, was insbesondere gegenüber dem Handel befürchtet wird. Obwohl die Beschaffungslogistik neue Potenziale für Transport- und Logistikunternehmen eröffnen kann, befürchten viele Transportunternehmen eine Marktkonzentration auf wenige große Netzwerkspeditionen. 9 Die BME-Umfrage Um die tatsächliche Bedeutung der Beschaffungslogistik näher zu untersuchen, hat der Bundesverband Materialwirtschaft, Einkauf und Logistik (BME) e.V. gemeinsam mit dem Autor dieses Beitrages im Herbst 2013 eine Umfrage zum Thema Beschaffungslogistik durchgeführt, an der sich 229 Unternehmen aus Industrie, Handel und Logistik beteiligt haben - davon ca. 75 % Einkäufer/ Verlader und ca. 25 % Transport- und Logistik-Dienstleister. 10 Zunehmende Bedeutung der Beschaffungslogistik Nach der Umfrage kümmern sich heute schon 44 % der Unternehmen sehr intensiv um das Thema Beschaffungslogistik. Knapp ein weiteres Drittel (33,6 %) der Verlader gibt hier an, in Zukunft deutlich mehr machen zu wollen. Weitere 12,7 % sehen noch Potenziale. Das Thema Beschaffungslogistik scheint demnach an Bedeutung zu gewinnen (Bild 1). Zu Beginn dieses Beitrages wurde die These vertreten, dass die Übernahme der Beschaffungslogistik nicht für alle Sendungen sinnvoll ist, was sich nun auch in den Ergebnissen der Umfrage zeigt. Demnach gibt es für die Unternehmen kaum die Strategie, sämtliche Eingangstransporte selbst zu organisieren. Diesem Ansatz folgen nur 9,2 % der befragten Industrie- und Handelsunternehmen. Auch geben nur 14,5 % der Firmen an, alles „frei Haus“ zu erhalten, sich also überhaupt nicht um die Beschaffungslogistik zu kümmern. Bei ausgewählten Lieferanten hat bereits mehr als die Hälfte der Betriebe die Beschaffungslogistik selbst übernommen (Bild 2). Darüber hinaus zeigt sich, dass bei den Unternehmen mit zunehmender Entfernung zu den Lieferanten die Bereitschaft sinkt, die Steuerung der Wareneingänge selbst zu steuern. Der Grund hierfür dürfte in der zunehmenden Komplexität der Transportabläufe liegen, die von den Firmen hohes fachliches und überregionales Know-how verlangen. So geben 35,1 % der Unternehmen an, für nahezu alle Wareneingänge von Lieferanten aus Deutschland die Beschaffungslogistik selbst zu übernehmen. Bei Lieferanten aus Europa liegt dieser Wert mit 29,8 % schon etwas niedriger, während der Wert bei Lieferungen aus Übersee noch weiter auf 21,4 % sinkt. In einer weiteren Frage wurden die Unternehmen nach dem Anteil der „Frei- 50,4% 35,1% 29,8% 21,4% 14,5% 9,2% 0% 10% 20% 30% 40% 50% 60% für einzelne ausgewählte Lieferanten für nahezu alle Wareneingänge von Lieferanten aus Deutschland für nahezu alle Wareneingänge von Lieferanten aus der EU für nahezu alle Wareneingänge von Lieferanten aus Übersee wir bekommen alles "frei Haus/ DDP" für alle unsere Wareneingänge Verlader: Für welche Wareneingänge organisieren Sie die gesamte Beschaffungslogistik (Abholung beim Lieferanten, Transport, Verzollung etc.)? % der Unternehmen Mehrfachnennung möglch © BME e.V./ Prof. Dr. Paul Wittenbrink Bild 2: Ansatzpunkte der Beschaffungslogistik 0 bis 5% 11,0% 6% bis 10% 5,5% 11% bis 15% 1,8% 16% bis 20% 9,2% 21% bis 25% 1,8% 26% bis 30% 2,8% 31% bis 40% 4,6% 41% bis 50% 8,3% 51% bis 60% 2,8% 61% bis 70% 5,5% 71% bis 80% 12,8% 81% bis 90% 19,3% 91% bis 100% 14,7% Verlader: Wie viel Prozent Ihres Aufkommens versenden Sie heute "frei Haus" bzw. DDP? % der Unternehmen © BME e.V./ Prof. Dr. Paul Wittenbrink % der Unternehmen Bild 3: Anteil der Sendungen frei Haus bzw. DDP im Versand Quelle: Wittenbrink, Gburek 2013 Internationales Verkehrswesen (66) 2 | 2014 59 Beschaffung LOGISTIK Haus-Sendungen“ im Versand bzw. Empfang befragt. Dabei zeigt sich, dass der Anteil der „Frei-Haus-Lieferungen“ weitaus geringer ist als erwartet: Nur knapp die Hälfte der Verlader versendet mindestens 60 % der Sendungen frei Haus. Im Empfang zeigt sich eine vergleichbare Situation (Bild-3 und Bild 4). Potenziale aus Sicht der Dienstleister Nach den Folgen durch die zunehmende Tendenz der Verlader, die Eingangstransporte selbst zu organisieren, gefragt, geben 77,5 % der Transport- und Logistikdienstleister an, hier noch erhebliche Potenziale durch eine empfangsseitige Bündelung zu sehen. Darüber hinaus halten 66,5 % der befragten Dienstleister die Beschaffungslogistik für einen guten Ansatz, durch eine empfangsseitige Bündelung der Sendungen die Wartezeiten an den Rampen zu reduzieren. Die Gefahr steigender Marktkonzentration infolge neuer Beschaffungslogistikkonzepte sehen nur 7,5 % der Dienstleister, was aber auch hier damit zusammenhängen kann, dass sich an der Umfrage traditionell vermehrt größere Dienstleister beteiligen. Die insgesamt zunehmende Bedeutung der Beschaffungslogistik bleibt auch aufseiten der Dienstleister nicht ohne Folgen. Knapp ein Drittel (32,5 %) der Dienstleister spricht von deutlich gestiegenen und immerhin 52,5 % von leicht steigenden Anfragen und Aufträgen im Bereich der Beschaffungslogistik (Bild 5). Zusammenfassung und Fazit Stand bei den Unternehmen in der Vergangenheit die Optimierung der Distributionslogistik im Vordergrund, gewinnt in den letzten Jahren die Beschaffungslogistik, d. h. die Steuerung der Logistik von der Senke aus, zunehmend an Bedeutung. Dies ist eines der Ergebnisse einer aktuellen Umfrage zur Beschaffungslogistik, die nach einer kurzen Einführung in das Konzept in diesem Beitrag vorgestellt wird. Weiterhin werden im Rahmen einer Optimierung der Beschaffungslogistik noch erhebliche Bündelungs- und Kostensenkungspotenziale gesehen. Um die Potenziale jedoch auszuschöpfen, ist eine sehr differenzierte Analyse notwendig. ■ 1 Vgl. Essig, Michael (2012), Beschaffungslogistik, in: Klaus, Peter, Krieger, Winfried, Krupp, Michael (2012) Gabler-Lexikon Logistik, Management logistischer Netzwerke und Flüsse, 5. Auflage, Wiesbaden., S. 62ff. 2 Gleißner, Harald (2012), Distributionslogistik, in: Klaus, Peter, Krieger, Winfried, Krupp, Michael (2012) Gabler-Lexikon Logistik, Management logistischer Netzwerke und Flüsse, 5. Auflage, Wiesbaden., S. 125. 3 Vgl. Bretzke, Wolf-Rüdiger, Barkawi, Karim (2012) Nachhaltige Logistik - Antworten auf eine globale Herausforderung, 2. Auflage, Berlin, Heidelberg, S. 258f. 4 Vgl. Seeck, Stephan (2010) Erfolgsfaktor Logistik - Klassische Fehler erkennen und vermeiden, Wiesbaden, S. 108. 5 Vgl. Ebenda, S. 109. 6 Vgl. Bretzke, Wolf-Rüdiger, Barkawi, Karim (2012) Nachhaltige Logistik - Antworten auf eine globale Herausforderung, 2. Auflage, Berlin, Heidelberg, S. 283. 7 Vgl. Wittenbrink, Paul (2014), Transportmanagement - Kostenoptimierung, Green Logistics und Herausforderungen und Lösungen an der Schnittstelle Rampe, Wiesbaden, Veröffentlichung in Vorbereitung, S. 263ff. 8 Vgl. Bretzke, W.-R. (2010) Logistische Netzwerke, 2. Auflage, Heidelberg, Dordrecht, London, New York, S. 266. 9 Vgl. Wittenbrink, Paul (2014), a.a.O., S. 266ff. 10 Vgl. Wittenbrink, Paul, Gburek, Gunnar (2013) Marktvolatilität in Transport und Logistik, Ergebnisse einer Befragung der Dualen Hochschule Baden-Württemberg mit dem Bundesverband Materialwirtschaft, Einkauf und Logistik (BME), Frankfurt/ Lörrach. Paul Wittenbrink, Prof. Dr. Professor für Transport- und Logistik an der Dualen Hochschule Baden- Württemberg Lörrach (DHBW), Gesellschafter hwh Gesellschaft für Transport- und Unternehmensberatung mbH, www.hwh-transport.de, Karlsruhe wittenbrink@dhbw-loerrach.de 0 bis 5% 9,1% 6% bis 10% 6,4% 11% bis 15% 2,7% 16% bis 20% 5,5% 21% bis 25% 2,7% 26% bis 30% 3,6% 31% bis 40% 3,6% 41% bis 50% 10,0% 51% bis 60% 6,4% 61% bis 70% 10,9% 71% bis 80% 10,9% 81% bis 90% 13,6% 91% bis 100% 14,5% Verlader: Wie viel Prozent Ihres Aufkommens erhalten Sie heute "frei Haus" bzw. DDP? % der Unternehmen © BME e.V./ Prof. Dr. Paul Wittenbrink % der Unternehmen % der Unternehmen % der Unternehmen % der Unternehmen 77,5% 65,0% 7,5% 5,0% 0% 10% 20% 30% 40% 50% 60% 70% 80% Es bestehen erhebliche Potenziale durch eine empfangsseitige Bündelung. Die Beschaffungslogistik ist ein guter Ansatz, die Wartezeiten an den Rampen zu reduzieren. Wir sehen die Tendenz zur Übernahme der Beschaffungslogistik durch die Empfänger mit großer Sorge, da hierdurch die Gefahr einer steigenden Marktkonzentration besteht. Es bestehen kaum Potenziale durch eine empfangsseitige Bündelung. TuL-Dienstleister: Wie beurteilen Sie die Tendenz der Verlader, sich um die Organisation der Beschaffungslogistik (empfangsseitige Bündelung) zu kümmern? Mehrfachnennung möglich % der Unternehmen © BME e.V./ Prof. Dr. Paul Wittenbrink Bild 4: Anteil der Sendungen frei Haus bzw. DDP im Empfang Quelle: Wittenbrink, Gburek 2013 Bild 5: Einschätzung der Entwicklungen bei der Beschaffungslogistik durch TuL-Dienstleister Quelle: Wittenbrink, Gburek 2013
