Internationales Verkehrswesen
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0020-9511
expert verlag Tübingen
10.24053/IV-2014-0052
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2014
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Züge über Grenzen
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2014
Holger Jansen
Martin Schiefelbusch
Eine Reise mit der Eisenbahn durch Europa sollte so einfach sein wie eine Fahrt im eigenen Land. Ganz so leicht ist das in vielen Fällen aber nicht. Die Eisenbahnen sind in besonderem Maß von nationalen Entwicklungen geprägt, wobei sich technische, organisatorische und kulturelle Unterschiede überlagern.
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Internationales Verkehrswesen (66) 2 | 2014 67 Grenzüberschreitender Verkehr MOBILITÄT Züge über Grenzen Wege und Umwege zu einem grenzenlosen Bahn-Europa Eine Reise mit der Eisenbahn durch Europa sollte so einfach sein wie eine Fahrt im eigenen Land. Ganz-so-leicht ist das in vielen Fällen aber nicht. Die Eisenbahnen sind in besonderem Maß von nationalen Entwicklungen geprägt, wobei sich technische, organisatorische und kulturelle Unterschiede überlagern. Die Autoren: Holger Jansen, Martin Schiefelbusch E ine historische Betrachtung ist hilfreich, um den langen Weg von der nationalen zur europäischen Perspektive zu verstehen [1]. Als im 19. Jahrhundert ein alle wichtigen Relationen abdeckendes Eisenbahnnetz in Europa entstand, waren viele Grenzen zu überwinden. Dabei ging es zunächst mehr um Unternehmensgrenzen als um politische: Da sich die vertikale Integration von Infrastruktur und Betrieb schnell etablierte, entstanden zahlreiche „integrierte“ Netze, die von den einzelnen Gesellschaften eigenständig betrieben wurden. Umgekehrt bedeutete dies, dass die Zusammenarbeit mit anderen Bahnen zwingend erforderlich war, um auch übergreifende Verkehrsströme bedienen zu können. So entstand ein umfangreiches System technischer Standards, aber auch betrieblicher, administrativer und tarifärer Regelungen, das beginnend schon in den 1840er Jahren sukzessive weiterentwickelt wurde. Erst in einem zweiten Schritt wurde diese Integration ab etwa 1880 auch zu einer politischen Aufgabe, der sich Regierungen und von diesen geschaffene inter- und supranationale Einrichtungen widmeten. Visionen über Grenzen Frühe Eisenbahnvisionäre wie Friedrich List formulierten schon bald die Vorstellung von einem den Kontinent erschließenden Schienennetz. Die Bedeutung solcher Ideen trat jedoch bei der Netzentwicklung gegenüber der strecken- und bestenfalls gebietsbezogenen Perspektive zurück. Die Entwicklung der internationalen Zusammenarbeit im 19. Jahrhundert lässt sich vielmehr als pragmatische, inkrementelle Vorgehensweise beschreiben. Die Akteure waren sich über den Sinn einer Zusammenarbeit im Groben einig, mussten aber den für die jeweilige Sachfrage richtigen Weg erst finden - denn Vorbilder gab es auch in anderen Bereichen oft noch nicht. Getragen wurde dies vom kontinuierlichen Interesse an neuen Reise- und Transportmöglichkeiten in der Bevölkerung. Dieses Muster wird umso deutlicher, vergleicht man es mit der Entwicklung nach dem 2. Weltkrieg. An der von Politik und weiten Teilen der Gesellschaft geteilten Idee eines friedlich vereinten Europas versuchten die Bahnen, mit dem TEE-Fernverkehrszug oder dem europäischen Güterwagenpool teilzuhaben. Diesen Maßnahmen standen aber Zukunftsängste, Besitzstandsinteressen und der zunehmende Einsatz der Bahnen als nationalen politischen Interessen dienendes Instrument gegenüber - und gewannen oft die Oberhand. Den Visionen einer weitergehenden Integration, wie sie von einzelnen Bahndirektoren und manchen Politikern formuliert wurden, wurde daher hinter den Kulissen Widerstand entgegengesetzt, sodass es keine „Visionäre“ gab, die sie umsetzen wollten. Auch die in den 1970er Jahren einsetzenden Überlegungen zur Revitalisierung der Schiene wurden von den Ländern in der Regel separat entwickelt und oft mit dem Wunsch nach nationalen Industrie-Schaufensterprojekten verknüpft; der internationale Verkehr war bestenfalls im Ausblick kurz erwähnt. Bild 1: Vogelfluglinie mit geplanter Fehmarnbeltquerung (Quelle: Wikipedia) Internationales Verkehrswesen (66) 2 | 2014 68 MOBILITÄT Grenzüberschreitender Verkehr Infrastruktur über Grenzen Internationaler Verkehr erfordert grenzüberschreitende Infrastruktur, die in Abstimmung beider Seiten entwickelt werden muss. Ein Beispiel für die Zusammenarbeit von Staaten und Bahnverwaltungen ist die Vogelfluglinie, also die Schienenstrecke zwischen Hamburg und Kopenhagen (Bild-1). In der Gegenwart geht es vor allem um die feste Fehmarnbeltquerung. Die Weichen von dänischer Seite sind gestellt, auf deutscher Seite steht die Anpassung der Infrastruktur von Schiene und Straße in der politischen Diskussion. Wie viele Güter- und Personenzüge müssen über die teilweise eingleisige Strecke geführt werden? Wie steht es um den Knoten im Lübecker Hauptbahnhof? Wie kann der Engpass Fehmarnsundbrücke (Bild 2) beseitigt werden? Ähnliche Überlegungen waren schon bei Realisierung der bestehenden Bahn- und Straßenfährverbindung auf dieser Relation erforderlich. Sie führten zu kontroversen Debatten. Die Vogelfluglinie mit ihrer heutigen Infrastruktur entstand Ende der 1950er Jahre und wurde am 14. Mai 1963 eröffnet. Erste Ideen für die Route gab es schon vor dem Zweiten Weltkrieg. In den 1950er Jahren nahmen Deutschland und Dänemark die Gedanken wieder auf. Zunächst berieten Vertreter der Deutschen Bundesbahn und Dänischen Staatsbahn über technische Einzelheiten. Dabei standen Fragen zur Streckenführung, Finanzierung und Bauzeit im Mittelpunkt. Im Juni 1957 entstand eine „Kommission Vogelfluglinie“ mit Vertretern der beiden Staaten. Im Juni 1958 unterzeichneten die Verkehrsminister aus Deutschland und Dänemark den interministeriellen Vertrag, so dass dem Bau nichts mehr im Wege stand. Die Fahrt zwischen Hamburg und Kopenhagen dauerte zuvor über die Fährverbindung von Großenbrode nach Gedser rund acht Stunden - nach Eröffnung der neuen Verbindung waren es etwa fünf (Bild 3). Bei der Vogelfluglinie ging und geht es vor allem um den Ausbau der Infrastruktur. Doch Integration bei der Eisenbahn bedeutet mehr: Fahrzeugbau, Betriebsvorschriften, Leit- und Sicherungstechnik, Energieversorgung, Dokumentation, Abrechnung der Verkehrsleistungen und eine überzeugende Preis- und Angebotsgestaltung sind weitere Aspekte. Die Investition in teure Infrastruktur nützt wenig, wenn nicht dem Kunden - ob nun im Personen- oder Güterverkehr - ein überzeugendes Angebot aus einer Hand unterbreitet wird. Grenzen in der Gegenwart Integration ist ein Thema, solange die Eisenbahn über Grenzen fährt (Bild 4). Die Grenzen der Nationalstaaten haben sich seit Einführung der Eisenbahn im 19. Jahrhundert mehrfach verschoben. Mit Gründung der Europäischen Gemeinschaft im Jahr 1957 und ihrer stetigen Erweiterung stehen die Bahnen in Europa unter erheblichem Anpassungsdruck. Reisen enden längst nicht mehr an Grenzen der Nationalstaaten; die verladende Wirtschaft erwartet einen durchgehenden und zuverlässigen Transport von Gütern. Heute kann das Internet als Indikator für das Maß an Integration gelten. Praktisch jeder junge Mensch ist heute im Netz aktiv. Und wie steht es mit der Präsenz der Bahnen? Fluglinien geben nach wenigen Klicks einen Preis an. Airlines haben sich mit neuen Marken nach und nach ihren Markt erobert. Bei den europäischen Bahnen funktioniert auf vielen Verbindungen immerhin die Fahrplanauskunft. Bei den Tarifen ist aber die Angabe „unbekannter Auslandstarif“ oder „Preisauskunft nicht möglich“ eher die Regel als die Ausnahme. Eine Reise von Köln nach London wird so auch künftig eher mit dem Flugzeug als mit der Bahn stattfinden. Woran scheitert die Integration der Tarife? Einzelne Bahnen sind nicht bereit oder nicht in der Lage, ihre Tarifdatensätze in einem Format aufzubereiten, das mit anderen Bahnen kompatibel ist. In anderen Ländern wird der Tarif von staatlichen Organisationen verwaltet. In Deutschland sind seit der Bahnreform Nah- und Fernverkehr getrennt. Das nationale Tarifsystem ist so noch einmal komplexer geworden. So müssen auf der Bahnstrecke zwischen München und Salzburg seit Anfang 2014 nationale Tarife in Nah- und Fernverkehr zwischen zwei Betreibern verknüpft werden. Die Wünsche der Kunden, die über Salzburg hinaus reisen möchten, müssen ebenso berücksichtigt werden. Verschiedene Versuche, mit dem „Railteam“ eine engere Kooperation zu etablieren, waren bisher nur begrenzt erfolgreich. Aus dem Thalys-Konsortium ist die Deutsche Bahn inzwischen ganz ausgestiegen. So hat sie keinen direkten Einfluss mehr auf die Tarifgestaltung und verkauft keine Tha- Bild 2: Die 1963 eröffnete Fehmarnsundbrücke im Bau (Foto: Archiv Dänische Staatsbahnen DSB) Bild 3: Ankunft der auch für den Transport von Reisezügen geeigneten DB-Fähre „Deutschland“ im Hafen Rødby. (Foto: Archiv Dänische Staatsbahnen DSB) Internationales Verkehrswesen (66) 2 | 2014 69 Grenzüberschreitender Verkehr MOBILITÄT lys-Tickets mehr. Für eine Fahrt mit dem Thalys von Köln nach Brüssel zeigt die DB- Homepage nur den Hinweis „Preisauskunft nicht möglich“. Nur bei den eigenen ICE- Zügen nennt die Deutsche Bahn den Fahrpreis. Die Beispiele machen deutlich, dass die oft national geprägte Bahnkultur sich zu einer europäischen Bahnkultur entwickeln muss. Kooperation statt Konkurrenz muss hier der Maßstab lauten. Denn der Schienenverkehr muss sich am Wettbewerb und an der Präsentation der Wettbewerber messen lassen. Der Wettbewerb auf der Straße oder in der Luft nutzt seine Chancen. Und die Schiene? Bis zu einer echten europäischen Bahnkultur wird es noch ein weiter Weg sein. Eine solche Kultur entsteht nicht zuletzt durch Engagement und Zusammenarbeit vor Ort oder in den Grenzregionen. Ob Fehrmarnbelt, Fahrscheinhefte oder Interrail - Bemühungen für eine Zusammenarbeit über Grenzen hinweg waren und sind zahlreich. Aber sie müssen noch viel weiter führen, und sie müssen flächendeckend sein. Vor einigen Jahren schrieb die EU-Kommission zu Transeuropäischen Netzen: „Die Benutzer erhalten dank der Kontinuität und Interoperabilität einen hohen Qualitäts- und Sicherheitsstandard.“ [2]. Im Schienenverkehr beginnt die Qualität mit einer verlässlichen Auskunft vor der Reise, einem durchgehenden Fahrschein und einer attraktiven Reisezeit. Das politische Ziel der Integration kann daher nur von den europäischen Bahngesellschaften umgesetzt werden. Was im 19. Jahrhundert begann, sollte heute stärker denn je im Blickpunkt stehen. ■ LITERATUR [1] Martin Schiefelbusch: Trains across borders, Nomos-Verlag Baden- Baden 2013, ISBN 978-3-8487-0855-0. 1 [2] EU-Leitlinien für den Aufbau eines transeuropäischen Verkehrsnetzes, http: / / europa.eu/ legislation_summaries/ regional_policy/ management/ transeuropean_networks/ tr0043_de.htm vom 31.1.2011; letzter Abruf 24.2.2014 1 Das Buch in englischer Sprache greift aus verschiedenen Themen jeweils ein Beispiel der Eisenbahngeschichte aus dem 19. und 20. Jahrhundert (Zeitraum 1950-75) auf. Die Vogelfluglinie wird mit der im 19. Jahrhundert entstandenen Gotthardbahn verknüpft. Fahrscheinheft und Interrail bilden ein weiteres Paar. Eingebettet sind die Analysen in eine Betrachtung der jeweiligen politischen Rahmenbedingungen. Ferner werden Unternehmens- und Politik-Visionen für den Personenverkehr behandelt. Das Buch entstand im Rahmen eines Projektes der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG), in dem neben der Bahn noch andere Infrastrukturbereiche wie Telefon-, Post- und Mobilfunkdienste sowie die Nutzung von Pipelines untersucht wurden (www.infrastrukturintegration.de). Holger Jansen, Dr. nexus Institut für Kooperationsmanagement und interdisziplinäre Forschung GmbH, Berlin jansen@nexusinstitut.de Martin Schiefelbusch, Dr. Technische Universität Berlin, Institut für Berufliche Bildung und Arbeitslehre, Berlin martin.schiefelbusch@alumni. tu-berlin.de Bild 4: Bis heute müssen Reisende an der schweizerisch-italienischen Grenze in Chiasso immer wieder außerplanmäßig umsteigen, weil nicht genügend für beide Länder zugelassene Züge vorhanden sind. (Foto: Martin Schiefelbusch) 23-25 June 2014 4 th UIC Global Rail Freight Conference Hilton Stadtpark Vienna, Austria n www.GRFC2014.Com n SeAmleSS tRAnSpoRt CHAInS tHRoUGH HARmonISAtIon Succes stories and global perspectives for rail freight n Two day Conference n Trade show n Technical visit Official Media Partners: Conference & Exhibition Secretariat: Goldsponsor: Organisers:
