eJournals Internationales Verkehrswesen 66/3

Internationales Verkehrswesen
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0020-9511
expert verlag Tübingen
10.24053/IV-2014-0067
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2014
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„Straße als Lebensraum begreifen“

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Was macht Städte attraktiv und lebenswert? Kann es die ideale Stadt geben, wie sie seit Jahrhunderten immer wieder gefordert wird? Und wie lässt sich in bestehenden Stadtstrukturen und bei wachsenden Einwohnerzahlen das zunehmende Bedürfnis nach Mobilität umsetzen? Ein Gespräch mit dem Frankfurter Architekten und Stadtplaner Albert Speer über mögliche Lösungen – und wie sich Städte auf die anstehenden Veränderungen einstellen können.
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Internationales Verkehrswesen (66) 3 | 2014 12 POLITIK Luftverkehrsrechte Emirates Direktflüge durch Emirates zwischen Deutschland und den USA Wirtschaftliche Potenzialanalyse unter Beachtung rechtlicher und operativer Rahmenbedingungen Seit Oktober 2013 nutzt die in Dubai ansässige Fluggesellschaft Emirates internationale Verkehrsrechte, sogenannte Freiheiten der Luft, für Nonstop-Flüge von Mailand nach New York. Eine weitere Netzexpansion der Fluggesellschaft ist angesichts der Zahl der georderten Flugzeuge zu erwarten. Der Beitrag untersucht das wirtschaftliche Potenzial von Emirates-Flügen zwischen Deutschland und den Vereinigten Staaten unter Beachtung der rechtlichen und technisch-operativen Rahmenbedingungen und nennt mögliche Zielorte für solche Flugstrecken. Die Potenzialanalyse zeigt, dass selbst bei weiter liberalisierten Luftverkehrsabkommen das Angebot von Emirates-Flügen auf Nordatlantik-Strecken voraussichtlich begrenzt bleibt. Dieses Ergebnis kann bedeutsam sein für die Luftverkehrspolitik der Europäischen Union und national für die Entscheidung, ob Emirates Verkehrsrechte für die deutsche Hauptstadt erhalten soll. Der Autor: Richard Klophaus E mirates als mit Abstand größte Fluggesellschaft der Golfregion konnte im letzten Jahrzehnt ein enormes Passagierwachstum verzeichnen. Zunächst stand die Verkehrsentwicklung zwischen Europa und Zielorten im Fernen Osten, Indien, Afrika und Australasien über das Emirates-Drehkreuz in Dubai (DXB) im Vordergrund. Später folgte eine Netzexpansion nach Westen, um Passagiere von China und Indien nach Amerika zu fliegen. Seit Oktober 2013 ist Emirates mit einer Flugroute von DXB über Mailand- Malpensa (MXP) nach New York-John F. Kennedy (JFK) auch in den Wettbewerb um den transatlantischen Markt zwischen den Vereinigten Staaten (US) und der Europäischen Union (EU) eingetreten. Emirates ist kein Mitglied einer globalen Airline-Allianz und hat in Deutschland keine regionale Netzkooperation mit einer anderen Fluggesellschaft etabliert. Die Europäische Kommission beschreibt in ihrer Mitteilung „Luftfahrtaußenpolitik der EU - Bewältigung zukünftiger Herausforderungen“ [1] den Wandel der Wettbewerbsstrukturen im internationalen Luftverkehr. Hervorgehoben wird darin der Aufstieg von Fluggesellschaften aus den Golfstaaten, die internationale Umsteigeverbindungen über ihre Drehkreuze anbieten. Europäische Politiker und Luftfahrtbehörden haben ihre Aufmerksamkeit bislang auf Verkehre der 6. Freiheit der Luft gerichtet, also auf Umsteigeverkehre über die Drehkreuze in der Golfregion, die durch eine Kombination von Nachbarschaftsverkehren der 3. und 4. Freiheit der Luft entstehen und zu Marktanteilsverlusten der europäischen Foto Alexander Dreher_pixelio.de Internationales Verkehrswesen (66) 3 | 2014 13 Luftverkehrsrechte Emirates POLITIK Drehkreuze im interkontinentalen Luftverkehr geführt haben. Der vorliegende Beitrag beschäftigt sich dagegen mit bislang vergleichsweise wenig beachteten 5. Freiheitsverkehren, konkret mit Nordatlantik-Flügen der Emirates. Allerdings führten Emirates-Flüge zwischen Mailand (MXP) und New York (JFK) schon kurz nach der Einführung zu einer rechtlichen Auseinandersetzung mit dem Zwischenergebnis, dass ein italienisches Gericht angeordnet hat, die Flüge wieder einzustellen [2]. Das Ergebnis des Berufungsverfahrens steht noch aus, Emirates setzt die MXP-JFK-Flüge so lange fort. Der Aufstieg der Golf-Carrier ist Gegenstand wissenschaftlicher Veröfentlichungen, etwa zum Geschäftsmodell von Emirates [3] oder der Entwicklung des Streckennetzes [4]. Die Auswirkungen neuer Umsteigeverbindungen über die Drehkreuze der Golfregion auf die Verkehrsströme zwischen Deutschland und Asien hat Grimme [5] untersucht, De Wit [6] analysierte die komparativen Kostenvorteile der Golf-Carrier. Die volkswirtschaftlichen Auswirkungen von Verkehrsrechten der 5. Freiheit waren Gegenstand einer Studie von Intervistas Consulting [7]. Das Beratungsunternehmen CAPA untersuchte die von Emirates angebotenen 5. Freiheitsverkehre mittels Flugplandaten: Danach konzentriert sich die Fluggesellschaft bislang auf Strecken von und nach Australien [8]. Prognosen zu einem künftigen Angebot an 5. Freiheitsverkehren durch Emirates sind bisher nicht veröfentlicht worden. Wichtige Daten hierzu sind nur den Netzplanern der Fluggesellschaft bekannt. Die folgende Potenzialanalyse für Emirates- Flüge zwischen Deutschland und den USA führt zu Aussagen in Form von Vermutungen zur weiteren Netzexpansion von Emirates, die so nicht eintrefen müssen, aber dennoch die Informationsbasis für politische Entscheidungsträger und Luftfahrtbehörden verbessern. Rechtliche Rahmenbedingungen Jeder Staat besitzt Souveränität über seinen Luftraum. Die Errichtung internationaler Luftverkehre hängt daher von der Erlaubnis des Landes ab, dessen Luftraum genutzt werden soll. Kommerzielle Verkehrsrechte werden dabei in Luftverkehrsabkommen zwischen Staaten wechselseitig gewährt. Die Verkehrsrechte werden als Freiheiten der Luft bezeichnet und sind von der International Civil Aviation Organization im „Manual on the Regulation of International Air Transport“ deiniert [9]. Die hier vor allem bedeutsame 5. Freiheit ist deiniert als Recht, Passagiere und Fracht zwischen zwei ausländischen Staaten zu transportieren, so lange der Start- oder Endpunkt solcher Flugketten im registrierten Heimatstaat der Fluggesellschaft liegt [10]. Dabei müssen alle an der Flugkette beteiligten Staaten diese Freiheit gewähren. Voraussetzung für durch Emirates ausgeführte Flüge zwischen MXP und JFK war daher eine Genehmigung durch die Vereinigten Arabischen Emirate (VAE), durch die USA sowie durch Italien. Seit den 1980er Jahren wurden weltweit restriktive Luftverkehrsabkommen durch liberalere Open-Skies-Abkommen ersetzt, in denen auch 5. Freiheitsrechte gewährt werden. Heute existieren solche Open-Skies-Abkommen zwischen den USA und der EU sowie zwischen den USA und den VAE. Jedoch hat weder die EU noch jeder einzelne Mitgliedstaat der EU ein Open-Skies-Abkommen mit den VAE. Italienische Behörden haben die Emirates- Direktlüge zwischen MXP und JFK daher in einem speziellen Verfahren bewilligt. Fehlende 5. Freiheitsrechte können von einer Fluggesellschaft grundsätzlich durch eine Kombination von 3. und 4. Freiheitsrechten umgangen werden. So befördert Lufthansa ihre Passagiere zwischen Italien und den USA durch das Angebot von Umsteigeverbindungen über Deutschland. Hauptnachteil solcher Umsteigeverbindungen gegenüber Direktverbindungen sind längere Reisezeiten für die Fluggäste. Durch die geographische Lage des Emirates-Drehkreuzes in Dubai kann der Golf-Carrier fehlende 5. Freiheitsrechte für Nordatlantikstrecken nicht ausgleichen. Auch wenn die 5. Freiheit prinzipiell gewährt ist, können Rechtsklauseln in die zwischenstaatlichen Luftverkehrsabkommen aufgenommen werden, die eine kommerzielle Ausübung der 5. Freiheit einschränken. In diesem Zusammenhang sind die Benennung („Designation“) von Fluggesellschaften sowie Vorgaben zu Frequenzen, Kapazitäten, Flugzeugtypen, Flugplänen und Tarifen zu nennen (vgl. [9]). Ferner sind 5. Freiheitsrechte regelmäßig auf bestimmte Städte-bzw. Flughafen-Paare beschränkt. Restriktive Luftverkehrsabkommen der VAE mit den meisten Mitgliedstaaten der EU schränken die Möglichkeiten von Emirates ein, Linienverkehre auf EU-US-Strecken zu etablieren. Deutschland hat von den großen EU-Staaten das liberalste Luftverkehrsabkommen mit den VAE. Artikel 2 des am 2. März 1994 in Abu Dhabi unterschriebenen Luftverkehrsabkommens zwischen Deutschland und den VAE erlaubt den 5. Freiheitsverkehr. Allerdings können Fluggesellschaften der VAE nur bestimmte Flughäfen in Deutschland anliegen. So kann Emirates heute von und nach Frankfurt (FRA), München (MUC), Düsseldorf (DUS) sowie Hamburg (HAM) liegen, nicht aber in die Hauptstadt Berlin. Technisch-operative Einflussfaktoren Ein wesentlicher Punkt, der bei der Entwicklung neuer Interkontinentalstrecken mit Großraumlugzeugen berücksichtigt werden muss, ist eine ausreichende Flughafeninfrastruktur. Das bezieht sich nicht nur auf eine ausreichende Länge der Start- und Landebahn, sondern auch auf weitere wichtige Flughafeneinrichtungen. Derzeit operiert Emirates auf 5. Freiheitsstrecken mit einer Distanz von mehr als 6000 km mit der Boeing 777-300ER, dem größten zweistrahligen Flugzeug der Welt [8]. Dies gilt auch für die MXP-JFK-Strecke. Selbst an Flughä- Bild 1: Emirates-Zielorte in Europa und den Vereinigten Staaten 2014 (Datenquelle: Emirates) POLITIK Luftverkehrsrechte Emirates Internationales Verkehrswesen (66) 3 | 2014 14 fen, die nur wenig über der Meereshöhe liegen, ist für eine Boeing 777-300ER im Langstreckeneinsatz und mit Höchstabluggewicht eine Startbahnlänge von ca. 3000 m erforderlich. Bild 1 zeigt alle Emirates-Zielorte in Europa und den Vereinigten Staaten. Ab August 2014 wird Chicago (ORD) der neunte US-Zielort des Carriers. Die Flugrouten der Emirates-Nonstop-Flüge zwischen DXB und Los Angeles (LAX) bzw. San Francisco (SFO) verlaufen über Asien, die Flugrouten nach Seattle (SEA) und zu den anderen US- Zielorten dagegen über Europa. Für die in Bild 1 genannten Flughäfen hat Emirates die Frage ausreichend vorhandener Infrastruktur für Langstreckenlüge mit einer Boeing 777 positiv beantwortet. Allerdings können bei Langstreckenlügen mit diesem Gerät zwischen weit auseinander liegenden Flughäfen Nutzlasteinschränkungen auftreten, wenn die Startbahnlänge weniger als 3000-m beträgt. In der EU umfasste das Emirates-Streckennetz im April 2014 in Großbritannien fünf Städte bzw. sechs Flughäfen, in Deutschland vier Flughäfen und damit die maximale von der deutschen Regierung erlaubte Zahl, jeweils drei Städte in Frankreich und Italien, zwei in Spanien und weitere elf Zielorte in den 23 anderen EU-Mitgliedsstaaten. Von den 28 europäischen Städten, die Emirates durch Nonstop-Verbindungen mit seinem Heimatlughafen und Drehkreuz verbindet, beinden sich 17 in den fünf nach der Einwohnerzahl größten EU-Ländern. Der auf diese fünf Länder entfallende Anteil an den Flugfrequenzen ist noch größer. Dies gilt besonders für Großbritannien mit täglich sieben Emirates-Flügen zwischen DXB und London- Heathrow (LHR) bzw. London-Gatwick (LGW). An allen von Emirates in Deutschland angelogenen Flughäfen bestehen Nachtlugverbote. Dadurch resultiert eine zusätzliche planerische Herausforderung für Emirates, wenn Flüge zwischen Dubai und Deutschland mit Nordatlantik-Flügen zeitlich zu koordinieren sind. Im Folgenden wird aber angenommen, dass Emirates für kommerziell aussichtsreiche Nordatlantik- Flüge keine unüberwindbaren Beschränkungen von Flugzeug- und Crew-Rotationen an den deutschen Flughäfen vorindet. Das soll auch im Hinblick auf verfügbare Start- und Landezeitfenster (Slots) und Kapazitäten für die Flugzeugwartung gelten. Wirtschaftliche Einflussfaktoren Erst wenn die rechtlichen und technischoperativen Rahmenbedingungen kommerzielle Entscheidungen über die Nutzung von 5. Freiheitsrechten ermöglichen, werden die folgenden wirtschaftlichen Überlegungen rund um die „3 Ks“ (Kosten, Kunden, Konkurrenz) des Netzmanagements von Fluggesellschaften relevant. Kosten Jede zusätzliche Landung und jeder zusätzliche Ablug ist für eine Fluggesellschaft mit Kosten verbunden. Kommerzielle Zwischenstopps führen zu längeren Rotationen von Flugzeug und Crew, erhöhen also die Abwesenheitszeiten von der Heimatbasis einer Fluggesellschaft. Mit zusätzlichen Stopps steigt zudem das Risiko von Störungen im Flugbetrieb. Für einen stabilen Flugplan müssen größere Puferzeiten eingeplant werden. Andererseits sind gerade bei Nonstop-Flügen von mehr als 15 Stunden auch Kostenersparnisse durch Zwischenstopps möglich, etwa durch die Vermeidung einer erweiterten Cockpit-Besatzung. Bei ultralangen Nonstop-Flügen können außerdem Einschränkungen bei der beförderbaren Nutzlast auftreten. Leere Economy-Sitze oder eine beschränkte Frachtzuladung führen in der Konsequenz neben Erlösverlusten auch zu höheren Stückkosten. Die Aufteilung solcher Nonstop-Flüge auf zwei Flugsegmente wirkt dann in Richtung niedrigerer Stückkosten. Entsprechend kann es für Emirates gerade bei ultralangen Linienlügen zwischen DXB und Los Angeles (LAX), San Francisco (SFO) und Seattle (SEA) von Vorteil sein, zumindest einen Teil der bislang angebotenen Nonstop-Dienste durch zwei kürzere Flugsegmente mit einem kommerziellen Stopp in Europa zu ersetzen. Die Eröfnung einer neuen Flughafenstation ist für eine Fluggesellschaft kostspielig. Kosteneinsparungen sind durch die Konzentration auf eine beschränkte Zahl von Stationen möglich. Aus diesem Grund ist es wenig wahrscheinlich, dass Emirates für Direktlüge zwischen Deutschland und den Vereinigten Staaten solche Zielorte wählt, die von der Fluggesellschaft bisher nicht bedient werden. Dafür spricht auch das Beispiel der MXP-JFK-Route. Hier wurden zwei im Emirates-Streckennetz schon vorhandene Flugziele miteinander verbunden. Kunden Der Großraum London ist das mit Abstand größte europäische Gateway für transatlantische Passagiere, gefolgt von Frankfurt und Paris (Tabelle 1). Wenn es um Städtepaare geht, sind Nordatlantik-Routen von bzw. nach New York die mit Abstand verkehrsreichsten (Tabelle 2). Zwischen der EU und den VAE ist London-Dubai die mit Abstand verkehrsreichste Strecke, gefolgt von Paris- Dubai und Frankfurt-Dubai. Die Mehrzahl der Passagiere auf den genannten Strecken sind Umsteiger. So enthalten auch die Passagierzahlen zwischen London, Paris oder Frankfurt und New York in einem erheblichen Umfang Umsteiger mit anderen Reiseursprüngen und -zielen. Tabelle 1 und Tabelle 2 beziehen sich auf einzelne Flugsegmente, also auf Nonstop- Flüge zwischen zwei Flughäfen, die nicht mit dem Ausgangs- oder Endpunkt (Origin & Destination, O&D) der Flugreisen von Passagieren zusammenfallen müssen. Nur auf den verkehrsreichsten EU-US-Strecken ist die lokale Nachfrage so groß, dass das ganze Jahr über Nonstop-Flüge mit mehr als einer täglichen Frequenz angeboten werden können. Dies gilt zum Beispiel für die Strecken zwischen New York und den europäischen Metropolen London und Paris, da diese Städte ein sehr großes Einzugsgebiet (Catchment) und einen erheblichen Anteil von Geschäftsreisenden aufweisen. Die tatsächlichen Passagierzahlen können sich deutlich vom Nachfragepotenzial für eine Flugverbindung unterscheiden. Die Nachfrage für bestimmte Flugverbindungen kann durch nur begrenzt vorhandene Sitzplatzkapazitäten oder hohe Ticketpreise beschränkt sein, etwa bei einem unzureichenden Angebot an Linienlügen. Eine solche Annahme bestehender, aber unbefriedigter Nachfrage kann die Entscheidung von Emirates beeinlusst haben, Direktlüge zwischen MXP und NYC anzubieten. Die Aufnahme kommerzieller Stopps in Europa kann die Gesamtauslastung von Emirates-Flügen im Vergleich zu Nonstop- Flügen von DXB in die Vereinigten Staaten erhöhen. Allerdings ist auch der Efekt auf den erzielbaren Durchschnittserlös (Yield) zu berücksichtigen. Im Vergleich zu einer Nonstop-Verbindung nimmt die Zahlungsbereitschaft zeitsensitiver Reisender durch zusätzliche Landungen und Starts sowie verlängerte Reisezeiten aufgrund von Umwegen bei Umsteigeverbindungen ab. Umsteigeverbindungen sind im Allgemeinen Rang Großraum Passagiere 1 London 7 454 271 2 Frankfurt 3 099 317 3 Paris 3 038 558 4 Amsterdam 2 252 515 5 München 955 595 6 Rom 902 498 7 Madrid 898 080 8 Dublin 828 322 9 Manchester 609 138 10 Brüssel 537 007 Tabelle 1: Die zehn EU-Großräume mit den meisten Passagieren in die USA 2013 (einfache Strecke) Datenquelle: DLR Internationales Verkehrswesen (66) 3 | 2014 15 Luftverkehrsrechte Emirates POLITIK bei Passagieren weniger beliebt als Nonstop-Verbindungen. Allerdings kann es auch Passagiere geben, die bei einem sehr langen Flug die Reiseunterbrechung durch einen Zwischenstopp positiv beurteilen. Die (theoretische) Flugdistanz DXB- MXP-JFK beträgt 11 120 km, die Nonstop- Flugdistanz DXB-JFK 11 002 km. Für Passagiere ist die Gesamtreisedauer wichtiger als die reine Flugzeit, die unmittelbar mit der zurückzulegenden Flugdistanz zusammenhängt. Im Gegensatz zu einem Nonstop-Flug DXB-JFK wird die Gesamtreisedauer bei DXB-MXP-JFK in Richtung Osten um 3 Stunden (+ 24 %) und in Richtung Westen um 4,5 Stunden (+ 32 %) verlängert. Eine Verringerung der Gesamtreisedauer bei diesen Umsteigeverbindungen ist schwierig, zumal ein geplanter Zeitbedarf für den Turnaround eines Langstreckenlugzeugs von weniger als zwei Stunden es fast unmöglich macht, auftretende Unregelmäßigkeiten im Betrieb zu kompensieren, selbst an nicht überlasteten Flughäfen. Eine Herausforderung für die Planung von Direktlügen durch Emirates besteht in der Verknüpfung der beiden Endpunkte des transatlantischen Segmentes mit Anschlusslügen, die der Nachfrage nach solchen Anschlusslügen entsprechen. Jede Nachfrageprognose für neue DE-US-Direktlüge durch Emirates ist schwierig. Die aktuellen und angekündigten US-Destinationen (Stand: April 2014), die nonstop durch die drei großen Golf-Carrier angeboten werden, geben einen Hinweis zur vorhandenen Nachfrage auf diesen Strecken. Emirates, Etihad und Qatar Airways bedienen alle JFK von ihren jeweiligen Heimatlughäfen. Bei vollständiger Umsetzung der angekündigten neuen Flugverbindungen werden diese drei Carrier bis Ende 2014 auch Verbindungen nach Dallas (DFW) und Chicago (ORD) anbieten. Damit werden insgesamt drei US-Zielorte durch alle drei Golf-Carrier angelogen. Los Angeles (LAX), Washington-Dulles (IAD) und Houston (IAH) werden von zwei dieser drei Carrier bedient, Boston (BOS), Seattle (SEA) und San Francisco (SFO) nur von Emirates, Miami (MIA) und Philadelphia (PHL) nur von Qatar Airways. Nachfrage nach DFW und IAH kommt insbesondere aus der Öl- und Gasbranche. Golf-Carrier wie Emirates können Langstreckenlüge nach DFW oder IAH trotzdem nicht alleine durch lokale Verkehre aufrechterhalten. Sie benötigen Umsteigeverkehre über ihre Drehkreuze von/ nach Fernost, Indien und Afrika. Konkurrenz Deutschland und die USA sind entwickelte Luftverkehrsmärkte mit einem im globalen Vergleich künftig eher geringen Verkehrswachstum. Starken Wettbewerb für DE-US- Direktlüge durch Emirates gäbe es an den beiden größten deutschen Flughäfen Frankfurt (FRA) und München (MUC) durch Lufthansa und deren Star Alliance-Partner. Ähnlich würden Flüge in die großen US- Drehkreuze vermutlich zu einer starken Wettbewerbsreaktion beim jeweils betrofenen US-Carrier führen. So wird das Delta- Drehkreuz in Atlanta (ATL) heute nicht von Emirates angelogen, wohl auch, weil Emirates dort über keine geeignete Partner-Airline für Anschlusslüge zu Zielen über ATL hinaus verfügt. Im Gegensatz dazu besteht am Flughafen JFK eine Kooperation mit Jetblue Airways. Der Flugplan von Emirates beinhaltet allerdings auch IAH. Nach dem Zusammenschluss von United und Continental ist IAH nunmehr das größte United- Drehkreuz und hat damit ORD abgelöst. Außerdem beinhaltet der Emirates-Flugplan auch DFW, eines der wichtigsten Drehkreuze für American, sowie IAD mit einem großen Kapazitätsangebot durch United auf Strecken nach Europa. IAD ist zudem ein United-Drehkreuz. In Deutschland hat Emirates 5. Freiheitsrechte in der Vergangenheit für eine Direktverbindung von Hamburg (HAM) nach JFK genutzt. Damals stand der Carrier in Konkurrenz zu den von Continental angebotenen Linienlügen zwischen Hamburg (HAM) und New York-Newark (EWR). Emirates setzte auf der Strecke eine Boeing 777- 300ER ein. Die Flüge waren so getaktet, dass die Verbindung DXB-HAM unverändert beibehalten werden konnte. Emirates bot die Strecke HAM-JFK zwischen 2006 und 2008 an. Trotz des wirtschaftlich starken Einzugsgebietes von Hamburg scheiterte die Strecke. Die Auslastung für HAM- JFK blieb hinter den Erwartungen zurück. Ein Grund waren fehlende Anschlussverbindungen an beiden Endpunkten, die Continental anbieten konnte. Im Gegensatz dazu kann Emirates heute auf der Strecke MXP-JFK auch Anschlusslüge ab JFK über ein Codesharing mit Jetblue Airways anbieten. Beim Codesharing werden von einer anderen Airline durchgeführte Flüge unter der eigenen Flugnummer vermarktet. Bei MXP-JFK kommt hinzu, dass Alitalia über eine relativ schwache Marktposition als Heimatluggesellschaft (Home Carrier) in Italien verfügt. Der künftige Erfolg von DE-US-Direktlügen durch Emirates ist wesentlich von der Kooperation mit anderen Fluggesellschaften in der EU und den USA abhängig. Codesharing fördert den Zugang zu Auslandsmärkten, etwa durch die regionale Zu- und Abbringung von Passagieren zu den von Emirates mit Langstreckenlugzeugen angelogenen Flughäfen. Mit Jetblue Airways wurde Codesharing im US-Markt etabliert. Kommerzielle Vereinbarungen zwischen Emirates und Partner-Airlines kön- Rang Strecke Passagiere 1 London (LHR) - New York (JFK) 1 435 621 2 London (LHR) - Los Angeles (LAX) 710 226 3 Paris (CDG) - New York (JFK) 650 289 4 London (LHR) - New York (EWR) 555 958 5 London (LHR) - Chicago (ORD) 544 715 6 London (LHR) - Miami (MIA) 464 382 7 London (LHR) - San Francisco (SFO) 457 736 8 London (LHR) - Washington (IAD) 447 122 9 London (LHR) - Boston (BOS) 417 642 10 Frankfurt (FRA) - New York (JFK) 354 082 11 London (LGW) - Orlando (MCO) 326 761 12 Amsterdam (AMS) - Detroit (DTW) 312 232 13 Madrid (MAD) - New York (JFK) 299 178 14 Frankfurt (FRA) - Chicago (ORD) 295 530 15 Frankfurt (FRA) - San Francisco (SFO) 295 366 16 Amsterdam (AMS) - New York (JFK) 294 413 17 London (LHR) - Houston (IAH) 280 230 18 Paris (CDG) - Atlanta (ATL) 274 872 19 Dublin (DUB) - New York (JFK) 273 336 20 Paris (CDG) - Los Angeles (LAX) 271 891 Tabelle 2: Die 20 verkehrsreichsten EU-US-Flughafenpaare 2013 (einfache Strecke) Datenquelle: DLR POLITIK Luftverkehrsrechte Emirates Internationales Verkehrswesen (66) 3 | 2014 16 nen zudem die Kooperation bei Vielliegerprogrammen, eine abgestimmte Flugplanung oder die gemeinsame Nutzung von Flughafeneinrichtungen beinhalten. Denkbar ist auch ein strategisches Investment, z.B. durch den Teilerwerb einer Fluggesellschaft. Die Suche nach einem geeigneten Partner in Deutschland könnte sich für Emirates als schwierig erweisen. Air Berlin ist als zweitgrößte deutsche Fluggesellschaft mit Etihad verbunden, Germanwings als drittgrößte deutsche Fluggesellschaft ist eine Lufthansa-Tochter. Von den drei großen Golf-Carriern hat Etihad die Führung bei der Entwicklung regionaler Zubringerverkehre für sein Langstreckennetz übernommen, etwa durch den Kauf eines Anteils von 33,3 % der Darwin Airlines, die Flüge mit Turboprop-Flugzeugen zwischen europäischen Städten anbietet. Zwischenzeitlich wurde Darwin Airlines in Etihad Regional umbenannt. Emirates könnte dieser Vorgehensweise folgen, um seinen Zugang zu regionalen Luftverkehrsmärkten zu sichern und diese mit 5. Freiheitsverkehren zu verknüpfen. Mögliche Zielorte für DE-US Direktflüge der Emirates Trotz bestehender 5. Freiheitsrechte sind FRA und MUC für Emirates keine geeigneten Kandidaten, um Direktverbindungen in die USA anzubieten. Es kann davon ausgegangen werden, dass Emirates einen Kopfan-Kopf-Wettbewerb an diesen beiden Drehkreuzen der deutschen Heimatluggesellschaft Lufthansa meiden wird. FRA, MUC und zu einem geringeren Maße auch DUS sind Hochburgen der Lufthansa und der Star Alliance. DUS ist außerdem die Hauptbasis für Air Berlin-Langstreckenlüge. Da Etihad knapp 30 % der Anteile von Air Berlin besitzt, steigen Asien-Reisende der Air Berlin heute meist in Abu Dhabi auf von Etihad durchgeführte Flüge um. Der Langstreckenfokus von Air Berlin liegt deshalb auf Amerika. Für Berlin als mit Abstand größte Stadt Deutschlands besitzt Emirates keine Verkehrsrechte. Die Wiederaufnahme von US-Flügen von/ nach HAM ist damit die einzige derzeit realistische Möglichkeit für Emirates, um überhaupt US-Direktverbindungen aus Deutschland anzubieten. Unter der Annahme, dass nur lokaler Verkehr aus einem Einzugsgebiet eines Flughafens verfügbar wäre, um die Sitzkapazitäten auszulasten, wäre New York die wahrscheinlichste Stadt in den USA, als ganzjährig nachgefragtes Ziel mit einem signiikanten Anteil Premium-Passagiere. In New York würde Emirates aller Voraussicht nach JFK und nicht EWR als Ziellughafen wählen, da Emirates durch die Kooperation mit Jetblue von JFK aus Anschlusslüge innerhalb der USA anbieten kann. Boston (BOS) ist auch ein wichtiger Standort von Jetblue. Obwohl alle großen US-Gesellschaften BOS anliegen, nutzt keine davon BOS als primäres oder sekundäres Drehkreuz. Das macht BOS zu einem potenziellen Kandidaten, um Emirates als Zielort für 5. Freiheitsverkehre von und nach Europa zu dienen. Bei Ultra-Langstreckenlügen von DXB zu Städten wie LAX und SFO kann ein Zwischenstopp in Deutschland zu Kosteneinsparungen führen. Dies macht LAX und SFO zu denkbaren Flughäfen für 5. Freiheitsverkehre über Deutschland. Die Nonstop-Flugdistanz zwischen DXB und Miami (MIA) beträgt etwa 12 500 km mit einer Flugzeit von rund 16 Stunden. Auch hier verspräche der Zwischenstopp in Deutschland einige Kosteneinsparungen. MIA wird heute von Emirates aber nicht angelogen. Alternativlughäfen zu MIA wären Orlando (MCO) und Fort Lauderdale (FLL). Ein gemeinsames Problem aller Routen nach Florida ist eine touristisch geprägte und saisonal schwankende Nachfrage. Diese eignet sich weniger für das Emirates-Produkt mit z. B. dem Angebot einer First-Class-Kabine. Fazit Das künftige Wachstum von Emirates wird verstärkt von 5. Freiheitsverkehren abhängig, wenn die bestellten Langstreckenlugzeuge nicht durch Passagiere der 3. und 4.- Freiheit ausgelastet werden können. Die meisten Luftverkehrsabkommen zwischen den EU-Mitgliedsstaaten und den VAE gestatten keine 5. Freiheitsverkehre. Deutschland stellt in dieser Hinsicht eine Ausnahme dar. Jedoch können nationale Behörden ausländischen Fluggesellschaften auch fallweise die 5. Freiheit der Luft gewähren, um die Streckennetze der Heimatluggesellschaften zu ergänzen. Die Anbindung an das globale Luftverkehrsnetz und eine bessere Auslastung vorhandener Flughafeninfrastruktur sind Argumente, die für eine solche Genehmigung von 5. Freiheitsverkehren sprechen. Ein Beispiel ist die Gewährung von Verkehrsrechten für Emirates auf der Strecke MXP-JFK. Allerdings hat ein italienisches Gericht im April 2014 angeordnet, die erst im Oktober 2013 eingeführte Strecke wieder einzustellen. Emirates setzt den Dienst bis zum Ergebnis der Berufung fort, das Urteil macht aber deutlich, dass eine Netzexpansion über die 5. Freiheit bei konkurrierenden Fluggesellschaften zu Protesten führt. Industrieverbände und Gewerkschaften fordern ihre Regierungen dann auf, die Verkehrsrechte für ausländische Carrier zu begrenzen. Aufgrund des regulatorischen Rahmens und aus wirtschaftlichen Gründen ist es unwahrscheinlich, dass Emirates in den kommenden Jahren mehr als eine Handvoll direkter Verbindungen zwischen der EU und den USA anbieten wird. UK repräsentiert den kommerziell wichtigsten Markt für solche Strecken. In Deutschland ist derzeit wohl nur die Wiederbelebung der Strecke von und nach HAM möglich, obwohl Emirates auch Verkehrsrechte der 5. Freiheit von und nach FRA, MUC und DUS besitzt. Der Erfolg aller künftig von Emirates durchgeführten DE-US-Direktlüge hängt wesentlich von Partnerschaften mit anderen Fluggesellschaften ab. Deren Aufgabe wäre es, die Nachfrage an den beiden Endpunkten der Nordatlantik-Strecke über das Einzugsgebiet der von Emirates angelogenen Flughäfen hinaus zu bedienen. Unter den Golf-Carriern ist bei der Entwicklung solcher Partnerschaften bislang Etihad führend, nicht Emirates. ■ LITERATUR [1] Europäische Kommission (2012): The EU’s External Aviation Policy - Addressing Future Challenges, http: / / ec.europa.eu/ transport/ modes/ air/ international_aviation/ external_aviation_policy/ doc/ comm(2012)556_en.pdf , September 2012 [2] Cameron, D. (2014): Italian Court Rules Against Emirates’ Milan-New York Route. In: The Wall Street Journal, http: / / online.wsj.com, April 2014 [3] O’Connell, J. F. (2011): The rise of the Arabian Gulf carriers: An insight into the business model of Emirates Airline, in: Journal of Air Transport Management, 17. Jg., S. 339-346 [4] Hooper, P., Walker, S., Moore. C., und Al Zubaidi, Z. (2011): The development of the Gulf region’s air transport networks - The first century, in: Journal of Air Transport Management, 17. Jg., S. 325-332 [5] Grimme, W. (2011): The growth of Arabian airlines from a German perspective - A study of the impacts of new air services to Asia, in: Journal of Air Transport Management, 17. Jg., S. 333-338 [6] De Wit, J. G. (2014): Unlevel playing field? Ah yes, you mean protectionism, in: Journal of Air Transport Management, 20. Jg., im Druck [7] Intervistas Consulting (2009): The Impact of International Air Service Liberalization on the United Arab Emirates, Juli 2009 [8] CAPA (2013): Emirates Airline considers expanding fifth freedom flights - with mixed success so far, http: / / centreforaviation.com, August 2013 [9] ICAO (2004): Manual on the Regulation of International Air Transport (Doc 9626), Montreal [10] Lufthansa (2012): Sicherheit für faire und ausgewogene Marktzugänge, in: LH-Politikbrief, http: / / www.lufthansagroup.com/ fileadmin/ downloads/ de/ politikbrief/ 10_2012/ LH-Politikbrief-Oktober- 2012-Verkehrsrechte-Freiheiten.png, Oktober 2012 Richard Klophaus, Prof. Dr. Competence Center Aviation Management (CCAM), Hochschule Worms klophaus@fh-worms.de *Attendance at the European Rail Summit will be limited to invited delegates only. For more details, and to register your interest in participating or in watching the proceedings online, visit www.europeanrailsummit.com Register now for the European Rail Summit Hosted in Brussels by Railway Gazette and Eurailpress, the European Rail Summit Commission and Council, along with senior railway representatives and across the Single Market, helping to reduce greenhouse gas emissions, But how is this to be achieved in practice? can European companies harness opportunities around the world? Register now Don’t miss this high-level event for the rail industry. Register today at www.europeanrailsummit.com* Key topics: Presidency Global Perspective the Single European Transport Area include: Lutz Bertling Joachim Herrmann Michael Hinterdobler Christian Kern Libor Lochman Guillaume Pepy Marcel Verslype 4 November 2014 Networking Cocktail Michael Hinterdobler, Head of Bavarian Representation to the EU 5 November 2014 Welcome Joachim Herrmann, Bavarian State Minister of the Interior, Building & Transport Keynote address Priorities of the incumbent EU Presidency Maurizio Lupi, Italian Minister for Infrastructure & Transport Session I A Vision for Rail in Europe Alexander Dobrindt, German Minister for Transport & Digital Infrastructure (invited) Jo-o Aguiar Machado, Director-General, DG MOVE (invited) Christian Kern, CEO, ÖBB, and Chairman, CER Guillaume Pepy, President, SNCF Session II Impulse Speech Masaki Ogata, Executive Vice Chairman, JR East (invited) Round table discussion Frédéric Cuvillier, French Secretary of State for Transport, Sea & Fisheries (invited) Rüdiger Grube, CEO, DB AG Clare Moriarty, Director General Rail Executive, UK Department of Transport Luc Lallemand, CEO, Infrabel Case Study Dr Johannes Niggl, CEO, Bayerischen Eisenbahngesellschaft Session III Impulse Speech Jim Squires, President, Norfolk Southern Round table discussion Communication (invited) Dr Alexander Hedderich, CEO, DB Schenker Rail (invited) Jakub Karnowski, President, PKP SA (invited) Session IV Impulse Speech Lutz Bertling, COO & President Bombardier Transportation Round table discussion Marcel Verslype, Executive Director, ERA Libor Lochman, Executive Director, CER Philippe Citroën, Director General, UNIFE Dr Jochen Eickholt, CEO Siemens Rail Systems (invited) Closing Panel Priorities of the forthcoming EU Presidency *Attendance at the European Rail Summit will be limited to invited delegates only. For more details, and to register your interest in participating or in watching the proceedings online, visit www.europeanrailsummit.com Register now Sponsors Supported by Supporters POLITIK Eisenbahnreform Frankreich Internationales Verkehrswesen (66) 3 | 2014 18 Reform des französischen Eisenbahnwesens 2014 Am 22. Juli 2014 hat der Senat, die zweite Kammer des französischen Parlaments, dem Gesetz über die Eisenbahnreform zugestimmt und damit den Weg zu einer seit mehreren Jahren geplanten, erneuten Eisenbahnreform in Frankreich geebnet. Die Reform soll in der Reform von 1997 angelegte Deizite beseitigen und Lösungen für altbekannte Herausforderungen wie die Verschuldung und die Öfnung der Eisenbahnmärkte bringen. Der Autor: Ralf Schnieders H intergrund der erneuten Eisenbahnreform 1 sind die großen Herausforderungen, vor denen das französische Eisenbahnsystem steht: Die Verschuldung lag 2012 bei ca. 41,5 Mrd. EUR und droht um 1,5 - 2 Mrd. EUR jährlich weiter anzusteigen 2 . Mehrere Eisenbahnunfälle 3 haben in das öffentliche Bewusstsein gerückt, dass die Instandhaltung des französischen konventionellen Schienennetzes jahrelang vernachlässigt wurde. Zudem hat die SNCF (Société Nationale des Chemins de fer Français) seit der Marktöfnung im Schienengüterverkehr im Jahr 2006 in Rekordzeit Marktanteile verloren 4 . Im Schienenpersonenverkehr könnte im Falle einer Marktöfnung Ähnliches bevorstehen. Die jetzige Reform korrigiert die französische Eisenbahnreform von 1997: Die erste Säule der Reform von 1997 war die Trennung der Schieneninfrastruktur von der SNCF und ihre Übertragung auf die neu gegründete öfentliche Anstalt Réseau ferré de France (RFF). Bei der SNCF verblieben die Fahrzeuge sowie die Bahnhöfe und Depots. Diese Trennung war insofern halbherzig, als die SNCF weiterhin praktisch den Betrieb und die Instandhaltung der Infrastruktur im Auftrag von RFF, d. h. für die Rechnung von RFF und gegen entsprechendes Entgelt ausführt. Die zweite Stoßrichtung der Reform war die Übertragung eines Großteils der Altschulden der SNCF (Ende 1996 bei ca. 35,9 Mrd. EUR) 5 auf RFF (in Höhe von ca. 20,5 Mrd. EUR) im Gegenzug zur Übertragung des Infrastruktureigentums. Schließlich leitete die Reform von 1997 als drittes Element die Regionalisierung des Schienenpersonennahverkehrs ein. Mit der Gründung von RFF und der Übertragung eines großen Teils der Altschulden von der SNCF auf RFF konnte zum einen die vom europäischen Gemeinschaftsrecht geforderte Trennung der sogenannten wesentlichen Funktionen - Zugtrassenvergabe und Festsetzung der Wegeentgelte - von den Verkehrsunternehmen vollzogen werden 6 , zum anderen die geforderte Entschuldung des Verkehrsunternehmens 7 SNCF, ohne die Schulden in den allgemeinen Staatshaushalt zu überführen. Inhalte der Reform Eckpunkte der Reform hatte der französische Verkehrsminister Frédéric de Cuvillier erstmals im Oktober 2012 präsentiert 8 . Integration von SNCF und RFF in eine Holding-Struktur Die komplizierte Aufgabenteilung von SNCF und RFF hat sich immer mehr als kostspielig und nicht praxisgerecht erwiesen. Kritisiert wurden die Mehrkosten, eine generell schlechte Abstimmung zwischen SNCF und RFF und insbesondere die wenig berechenbare Planung und Durchführung der Gleisbauarbeiten durch RFF und SNCF 9 . Die Reform sieht nun eine Holdingstruktur ähnlich derjenigen der Deutschen Bahn AG vor (Bild 1): Der öfentlichen Holding-Anstalt „SNCF“ unterstehen künftig der Netzbetreiber „SNCF Réseau“ („SNCF Netz“) und die Eisenbahnverkehrsunternehmen „SNCF Mobilités“. SNCF Réseau vereinigt die bisherige RFF (mitsamt dem Eigentum an der Schieneninfrastruktur) sowie die bisherigen SNCF-Direktionen Direction des circulations ferroviaires (Netzbetrieb) und SNCF Infra (Netzinstandhaltung). Leitungsorgane der SNCF sind der Aufsichtsrat und das Direktorium: Das Direktorium der SNCF besteht künftig aus zwei Personen, die nur einvernehmlich entscheiden können: Der Präsident der SNCF ist gleichzeitig Präsident von SNCF Mobilités, der Vize-Präsident der SNCF ist gleichzeitig Präsident von SNCF Réseau. Die Bestellung und Abberufung des letzteren unterliegt dem Genehmigungsvorbehalt der Regulierungsbehörde. Bei Uneinigkeit der beiden Direktoriumsmitglieder entscheidet der vom Staat ernannte Vorsitzende des Aufsichtsrats der Gruppe SNCF, in dem der Staat über die Mehrheit verfügt. Die Rege- Französischer Staat SNCF Holding-Anstalt SNCF Réseau Eisenbahninfrastrukturunternehmen SNCF Mobilités Eisenbahnverkehrsunternehmen, Transporteur Bild 1 Internationales Verkehrswesen (66) 3 | 2014 19 Eisenbahnreform Frankreich POLITIK lung enthält zusätzliche Vorkehrungen zur personellen Unabhängigkeit des Leitungspersonals von SNCF Réseau von den Eisenbahnverkehrsunternehmen. Ein Dekret normiert weitere Sicherungen durch örtliche Trennung sowie eine Trennung der IT- Systeme. SNCF Réseau übt die sog. wesentlichen Funktionen aus und betreibt die Infrastruktur, hält sie instand und baut sie aus. Es schließt mit dem Staat eine zehnjährige Leistungsvereinbarung ab. Darin werden Leistungsziele und -kennzahlen festgelegt, ebenso wie die Ziele hinsichtlich der Infrastrukturentgelte und ihrer geplanten Entwicklung, ferner die Finanzierung der Instandhaltung der Infrastruktur und ihrer Erneuerung. Auch die Gruppe SNCF und SNCF Moblilities schließen zehnjährige Ziel-Vereinbarungen mit dem Staat. Begrenzung der Neuverschuldung des Eisenbahnsystems Die Leistungsvereinbarung mit SNCF Réseau soll auch eine weitere Beschleunigung des Anstiegs der Neuverschuldung aufgrund von Infrastrukturinvestitionen verhindern. SNCF Réseau darf künftig Infrastrukturgroßprojekte mit Eigenmitteln nur noch bis zu bestimmten Grenzwerten inanzieren. Oberhalb der Grenze müssen der Staat bzw. die Regionen die Finanzierung tragen. Ferner wird künftig die Gruppe SNCF einen Teil der Dividende, die sie bislang komplett an den französischen Staat abführen musste, einbehalten bzw. SNCF Réseau zur Verfügung stellen können. Zusätzlich erhoft man sich Eizienzsteigerungen infolge der neuen Holding-Struktur des französischen Eisenbahnwesens und allgemein im Eisenbahnunternehmen. Weiterhin hat der Staat in Aussicht gestellt, künftig mehr Geld für die Instandhaltung und für Investitionen in den Ausbau der Infrastruktur zur Verfügung zu stellen. Schließlich wird eine regionale Unternehmensteuer eingeführt, die den regionalen Aufgabenträgern für den SPNV zugutekommen und einen Betrag von ca. 450 Mio. EUR p. a. einbringen soll. Rechtsverordnung zur Arbeitszeit und Branchentarifvertrag Die Rechte der französischen Eisenbahner regeln derzeit zwei parallele Rechtsregime: das traditionelle Regime der Eisenbahner der SNCF, das demjenigen eines Beamten vergleichbar ist und sehr günstige Regelungen zu Arbeits- und Ruhezeiten, Kündigungsschutz sowie Sozialleistungen enthält auf der einen Seite und ein Branchentarifvertrag für nach dem Arbeitsgesetzbuch Beschäftigte auf der anderen Seite. Dies ermöglicht es den Wettbewerbern der SNCF, wesentlich lexibler und produktiver am Markt zu agieren als die SNCF 10 . Das Reformgesetz sieht nun den Erlass einer Rechtsverordnung zu Fragen der Arbeitszeit vor, die sowohl auf die Eisenbahner der SNCF Anwendung indet als auch auf die privaten Wettbewerber. Sodann beauftragt das Gesetz die Sozialpartner, in einer Branchenvereinbarung die sozialen Arbeitsbedingungen für den gesamten Eisenbahnsektor festzulegen. Inwieweit sich diese Regelwerke in der Zukunft nachteilig auf den intramodalen bzw. den intermodalen Wettbewerb auswirken werden, wird maßgeblich von den konkreten Regelungen abhängen, die hier gefunden werden. In der Vergangenheit hat es sich jedenfalls als äußerst schwierig erwiesen, Besitzstände der Beschäftigten der SNCF zu beschneiden. Stärkung der Kompetenzen der Eisenbahn- Regulierungsbehörde Dem Genehmigungsvorbehalt der Eisenbahnregulierungsbehörde unterliegen künftig die Infrastrukturnutzungsentgelte hinsichtlich der Einhaltung der gesetzlichen Entgeltbildungsgrundsätze und der Entgelthöhen ebenso wie die Nutzungsentgelte für die Personenbahnhöfe und Serviceeinrichtungen. Die Regulierungsbehörde wird angehört vor dem Abschluss des zehnjährigen Rahmenvertrages zwischen dem Staat und der Gruppe SNCF über die zu erreichenden Entwicklungsziele, vor dem Abschluss der zehnjährigen Leistungsvereinbarung des Staates mit SNCF Réseau, vor der jährlichen Berichterstattung über die Umsetzung dieses Vertrages durch SNCF Réseau und vor der Aufstellung des Jahresbudgets von SNCF Réseau. Ferner muss die Regulierungsbehörde eine begründete Stellungnahme über die Finanzierung von Infrastrukturgroßprojekten und die notwendigen Finanzierungszuschüsse an SNCF Réseau abgeben. Ausblick Der französische Staat schaft mit der Reform die Instrumente, um seinen strategischen Einluss auf die SNCF zu stärken, vor allem durch den Abschluss der zehnjährigen Leistungs- und Entwicklungsvereinbarungen mit den drei öfentlichen Anstalten, aber auch durch seine Rolle im Aufsichtsrat der SNCF. Zahlreiche Elemente der Reform müssen indes erst noch durch Dekrete konkretisiert werden. Die EU überarbeitet derzeit mit dem Vierten EU-Eisenbahnpaket die Trennungsanforderungen für Eisenbahnen und will dabei insbesondere die Anforderungen an Holding-Modelle verschärfen 11 . Die französische Regierung hat sich mit der Reform für ein eben solches Modell entschieden, dabei allerdings zahlreiche Vorkehrungen zur Sicherung der Unabhängigkeit von SNCF Réseau und der Transparenz der Finanzströme vorgesehen. Der (noch amtierende) Verkehrskommissar Siim Kallas hat indes bereits wissen lassen, die französische Reform „gehe in die richtige Richtung“ 12 . Keine dauerhafte Lösung dürfte die Reform für die Verschuldungsfrage bringen: Die Maßnahmen sollen gewährleisten, dass die Verschuldung bis 2025 „lediglich“ auf 60- Mrd. EUR ansteigen soll statt auf 80- Mrd.- EUR bei einem Szenario ohne die Reform 13 . Aus diesem Grund hatten die Abgeordneten der konservativen Opposition der UMP der Reform die Zustimmung versagt. Die hohe Verschuldung wird weiterhin die intermodale Wettbewerbsfähigkeit des französischen Schienenverkehrs beeinträchtigen. ■  1 Loi n° 2014-872 du 4 août 2014 portant réforme ferroviaire, veröfentlicht im Journal oiciel vom 5. August 2014.  2 Assemblée nationale Dok.nr. 1468, Projet de loi portant réforme ferroviaire, étude d’impact, 15 octobre 2013, Seite 27 f.  3 Entgleisung im Bahnhof von Brétigny-sur-Orge im Jahre 2013 mit 7 Toten und zahlreichen Verletzten, im Juli 2014 der Aufahrunfall von Denguin mit 40 Verletzten.  4 Der Marktanteil der SNCF betrug im Jahr 2013 noch 67% (Quelle: Autorité de régulation des activités ferroviaires: Rapport d’activité 2013, S. 26).  5 Conseil supérieur du service public ferroviaire: Rapport d’évaluation de la réforme du secteur du transport ferroviaire vom 28.11.2001, S. 15.  6 Vgl. Art. 7 RL 2012/ 34/ EU.  7 Vgl. Art. 9 RL 2012/ 34/ EU.  8 S. auch die vorbereitenden Berichte: Jean Louis Bianco: Réussir la réforme du système ferroviaire, April 2013 sowie Jacques Auxiette: Un nouveau destin pour le service public ferroviaire français: Les propositions des Régions, April 2013.  9 Vgl. den Bericht des französischen Rechnungshofes: Le réseau ferroviaire - une réforme inachevée, une stratégie incertaine, Paris 2008 sowie zuletzt als Beispiel für mangelnde Koordination die Großbestellung von Regionalzügen durch SNCF, die für viele Bahnsteige zu breit sind, vgl. Canard enchainé vom 21.5.2014 und FAZ vom 22.5.2014. 10 Auch die SNCF-Schienengüterverkehrstochter VFLI beschäftigt ihre Angestellten allerdings nach dem Branchentarifvertrag und behauptet sich erfolgreich am Markt. 11 Vgl. den Vorschlag der Europäischen Kommission zur Änderung der RL 2012/ 34/ EU, Dokumentennr. KOM(2013) 29 inal. 12 Siim Kallas in: Les Echos vom 17.7.2014. 13 Lemonde.fr vom 23.7.2014: La réforme ferroviaire passe l‘étape de l‘Assemblée, http: / / www.lemonde.fr/ economie/ article/ 2014/ 07/ 22/ la-reforme-ferroviaire-deinitivementadoptee-par-l-assemblee_4460836_3234.html Ralf Schnieders, Dr. iur. Fachbereichsleiter Europäische Eisenbahnangelegenheiten, Verband Deutscher Verkehrsunternehmen e. V., Berlin schnieders@vdv.de Internationales Verkehrswesen (66) 3 | 2014 20 Wettbewerb bei Metros, Stadt- und Straßenbahnen - Option für deutsche Großstädte? Die Marktöfnungsabsichten der EU-Verkehrspolitik sind im deutschen kommunalen Verkehrsmarkt nicht angekommen. Anders als im Schienenpersonennahverkehr oder bei regionalen Busangeboten ist der ÖPNV der meisten deutschen Großstädte bislang ein wettbewerbsfreier Raum geblieben. Die Direktvergabe an kommunale Unternehmen ist die Regel. Dass Wettbewerb bei kommunalen Bahnen möglich ist, zeigen zahlreiche Beispiele aus dem Ausland. Dabei werden auch Vor- und Nachteile der Inhouse-Lösung und integrierter Verkehrsunternehmen deutlich. Eine Marktöfnung bei kommunalen Bahnsystemen in Großstädten würde die kommunale Nahverkehrsplanung grundlegend verändern. Der Autor: Florian Krummheuer W ettbewerb um den kommunalen Metro-, Stadt- und Straßenbahnverkehr scheint derzeit nicht auf der politischen Agenda zu stehen. Weder Bund- und Landesgesetzgeber noch die kommunalen Aufgabenträger scheinen diese Option forcieren zu wollen. Damit ist die in der Verordnung 1370/ 2007 lediglich als Ausnahme vorgesehene In-House-Vergabe in Deutschland zur Regel geworden. Die deutschen Kommunen und ihre Unternehmen betonen bei städtischen ÖPNV- Systemen mit Schieneninfrastruktur die technischen und betriebswirtschaftlichen Vorzüge integrierter Verkehrsunternehmen und verweisen auf die in der BOStrab begründete Systemeinheit von Fahrweg und Betrieb 1 . Jedoch zeigen Lösungen im Ausland, dass externe, nicht vom Aufgabenträger beherrschte Verkehrsunternehmen in der Lage sind, solche Bahnen zu betreiben. Im Folgenden werden die Erfahrungen mit Ausschreibungswettbewerb in großstädtischen Systemen betrachtet. Grundlage ist eine an der TU Dortmund abgeschlossene Dissertation 2 des Autoren. Bei einer externen Vergabe wird das Verkehrsunternehmen nicht - wie bei der Inhouse-Vergabe - „beherrscht wie eine eigene Dienststelle“, sondern am Markt ausgewählt. Dafür müssen organisatorische Voraussetzungen geschafen werden. Gegenüber der internen Vergabe verändern sich die Akteursstrukturen, Wertschöpfungsstufen werden aufgeteilt. Dieses sogenannte Unbundling gilt bei technischen Infrastrukturen als Voraussetzung für eine Marktöfnung 3 . Dabei entsteht Aufwand. In den Wirtschaftswissenschaften, insbesondere in der Neuen Institutionenökonomik, wird hierbei von Transaktionskosten gesprochen 4 . Prinzipiell unterscheiden sich die Modelle „Inhouse“ und „externer Betreiber“ durch den Abstimmungsaufwand. In der Logik der Transaktionskostentheorie liegen diese Kosten bei komplexen, speziisch abgestimmten Systemen höher als bei weniger komplexen Systemen. 5 Die Transaktionskosten werden häuig als Argumente gegen die Einführung von Wettbewerb im ÖPNV angeführt 6 . Oft sind POLITIK Marktöfnung ÖPNV Foto: Florian Krummheuer Internationales Verkehrswesen (66) 3 | 2014 21 Marktöfnung ÖPNV POLITIK die entsprechenden ökonomischen Untersuchungen abstrakt. Aus einer stärker planungswissenschaftlichen Sicht interessiert, welche Folgewirkungen Transaktionen und Interaktionen in der Nahverkehrsplanung haben. Statt einer monetarisierten Bewertung der Modelle interessiert, welche Interaktionen hohen Abstimmungsaufwand verursachen. Empirische Grundlage Es wurden in Europa rund 40 Beispiele mit externen Betreibern bei kommunalen Bahnen identiiziert. In einer webbasierten Expertenbefragung von Aufgabenträgern und Verkehrsunternehmen wurde rund die Hälfte aller Systeme erfasst. Vertieft wurde dies durch Fallstudien in Lyon, der Tyneand Wear-Region und Stockholm. Die folgenden qualitativen Befunde basieren auf einem recht einheitlichen Bild müssen angesichts der Vielzahl von dokumentierten Organisationsformens aber abstrakte Tendenzaussagen bleiben. Route- und Network-Contracting Die Unterscheidung zwischen der Vergabe von Verkehrsleistungen in Linienbündeln (Route-Contracting) und kompletten integrierten und ggf. multimodalen Netzen (Network-Contracting) lässt sich mit unterschiedlicher Gewichtung in der Praxis nachvollziehen (vgl. Tabelle 1). Beim Route-Contracting sind die Aufgabenträger stärker für die planerische Integration verantwortlich. Sie erlangen eine hohe Routine bei der zeitlich gestafelten Ausschreibung ihrer Teilsysteme. Denn wer jedes Jahr ausschreibt, weiß worauf zu achten ist. Sie müssen zudem stärker koordinieren, damit ein integriertes Gesamtsystem entsteht. Das geht zwangsläuig zu Lasten der Gestaltungsfreiheit bei den Verkehrsunternehmen und verschiebt die planerischen Ressourcen zu den Bestellerorganisationen. Kompetenzaufbau bei Aufgabenträgern Insgesamt zeigt sich, dass für externe Vergaben bei den Bestellern mehr Kompetenzen vorgehalten werden. Aufgabenträger, die ein komplexes großstädtisches Verkehrssystem mit Bahnsystemen vergeben, haben folgende Eigenschaften: • Eigene Organisation: In fast allen Fällen werden die weitreichenden Aufgabenträgerfunktionen nicht von den Gebietskörperschaften selber, sondern von eigenständigen Rechtspersonen wahrgenommen (Regieorganisationen), deren originäre und alleinige Aufgabe die Sicherstellung des ÖPNV ist. • Erhebliche personelle Ressourcen: Die Organisationen beschäftigen sowohl Fachleute für die Netz- und Angebotsplanung und Vergabespezialisten. Hinzu kommen auf der Bestellerseite Techniker, die sich mit der Bahninfrastruktur und den Fahrzeugen befassen. • Tools und Daten: Verkehrsplanung als Abfolge aus Analyse und Konzeptentwicklung benötigt Datengrundlagen. Das Daten- und Auswertungs-Know-how liegen bei den Aufgabenträgern. • Auftrag und Legitimation: Die Aufgabenträgerorganisationen werden politisch kontrolliert. In den Fallstudien haben die Aufgabenträgerorganisationen zwar eine privatwirtschaftliche Rechtsform, sie werden aber eng durch politische Kräfte gesteuert. Verkehrsunternehmen vor Ort: Schlanke Töchter großer Konzerne Auf der Seite der Verkehrsunternehmen zeigt sich ein gegensätzliches Bild. Es dominieren als Betreiber große Konzerne einschließlich der Wettbewerbstöchter der Staatsbahnen. Für konzeptionelle Fragen stehen den Verkehrsunternehmen vor Ort wenig Personal und kaum einschlägige Tools zu Verfügung. Vereinzelt werden Ressourcen der Konzerne genutzt. Zu den Eigenheiten kommunaler Bahnsysteme gehört die hohe Humankapitalspeziität. Die Verkehrsunternehmen werden regelmäßig verplichtet, Fahr- und Werkstattpersonal vom vorherigen Betreiber zu übernehmen. Ein Betreiberwechsel führt dann nur zum Austausch des ohnehin kleinen lokalen Overheads der Verkehrsunternehmen. Stadt/ Region bzw. System Land Route/ Network- Contracting Netzlänge nur Bahn (km) Anzahl Tram/ Metro Fahrzeuge Kopenhagen (Metro) Dänemark Route 21 34 Görlitz Deutschland Network 15 15 Bordeaux Frankreich Network 41 74 Lille Frankreich Network 68 k.A. Lyon Frankreich Network 79 145 Mulhouse Frankreich Network 19 22 Nizza Frankreich Network 9 28 Rouen Frankreich Network 15 28 Saint Etienne Frankreich Network 12 35 Dublin (Luas Tram) Irland Route 40 66 Uttrecht Niederlande Network 23 39 (Sneltram) Bergen (Bybanen) Norwegen Route 10 15 Porto (Metro) Portugal Route 70 120 Norrköping Tram Schweden Route 19 k.A. Stockholm Tunnelbanan Schweden Route 106 471 Stockholm Tvärbanan/ Nockebybanan Schweden Route 17 31 Barcelona (Trambaix und Trambesòs) Spanien Route 29 41 Madrid (Parla-Straßenbahn) Spanien Route 36 44 Zaragoza Spanien Route k.A. 12 Birmingham (Midland Metro) Vereinigtes Königreich Route k.A. 16 London (Croydon Tramlink) Vereinigtes Königreich Route 28 24 London (Docklands) Vereinigtes Königreich Route 33 149 Manchester (Metrolink) Vereinigtes Königreich Route 36 47 Newcastle (Tyne and Wear) Vereinigtes Königreich Route 72 90 Nottingham Vereinigtes Königreich Route 15 15 Sheield Vereinigtes Königreich Route 29 25 Tabelle 1: Untersuchte Fallbeispiele POLITIK Marktöfnung ÖPNV Internationales Verkehrswesen (66) 3 | 2014 22 Die wettbewerblichen Vergaben von kommunalen Bahnsystemen zeichnen sich alle durch enge vertragliche Vorgaben aus. Das ist teilweise den technischen Speziika dieser Systeme geschuldet: Die Ausschreibungen sind in der Regel konstruktiv gestaltet, die Linienwege sind nun einmal durch die Infrastruktur vorgegeben. Auch die Flotte ist gesetzt. Kaum Steuerung über Nachfrage und Risiken Eine überraschend geringe Rolle als Anreizinstrument spielt die Kundennachfrage. Insbesondere im Route-Contracting zeigt sich, dass der Fahrgastzuspruch nur sehr begrenzt als Steuerungsimpuls für die Verkehrsunternehmen eingesetzt werden kann. In großstädtischen Systemen hängt der Kundenzuspruch von Qualität und Funktionsfähigkeit des von mehreren Unternehmen erbrachten Gesamtsystems ab. Daher wird das Erlösrisiko in der Regel nicht von den Unternehmen getragen (Brutto-Verträge). Dieses Ausschreibungsdesign und die umfangreiche Risikoübernahme durch die Besteller wird den an Ausschreibungen teilnehmenden Verkehrsunternehmen die Kalkulation der Leistung erleichtert. Insbesondere wird ihnen die Abschätzung der Nachfrageentwicklung über den Vergabezeitraum erspart. Die Nachfragemacht des Fahrgastes wird allerdings kaum zur Steuerung genutzt. Langfristige Infrastrukturverantwortung bleibt bei Aufgabenträgern Überwiegend wurde in den Betreibermodellen nur der Betrieb im Wettbewerb vergeben. Verantwortung für Infrastruktur und Fahrzeuge bleibt fast immer bei den Aufgabenträgern. Teilweise wird die Reinigung oder die leichte Instandhaltung von Stationen und Strecken durch die Verkehrsunternehmen erbracht. Die schwere Instandsetzung, die Planung und Umsetzung von Erneuerungs- und Ersatzinvestitionen hingegen obliegt den Bestellerorganisationen. Vielfach bedauern die Experten in den Verkehrsunternehmen, dass Sie hier ihr Knowhow und aus der Betriebserfahrung resultierendes Optimierungspotenzial nicht einbringen können. Ähnlich verhält es sich mit den Fahrzeugen. Regelmäßig überschreitet die Lebenserwartung der U-, Stadt- oder Straßenbahnfahrzeuge die Vertragslaufzeiten der Verkehrsverträge. Diese hochspeziischen Fahrzeuge werden daher von den Aufgabenträgerorganisationen vorgehalten und den Verkehrsunternehmen für den Betrieb überlassen. Diese Übertragung von Verfügungsrechten geht einher mit einer umfangreichen Begutachtung des Fahrzeug- und Infrastrukturbestandes. Obwohl die Aufgabenträgerorganisationen den Betrieb an die Verkehrsunternehmen abgegeben haben, können Sie nicht auf Kompetenzen hierzu verzichten. Sie begutachten den Zustand der Anlagen in der Regel ständig und kontrollieren die beauftragten Unternehmen auf diese Weise. Im Rahmen von Vertragsaufnahmen und gegen Ende der Vertragslaufzeit setzt jeweils ein intensives Monitoring der Infrastruktur ein. Es wird begleitet von - aus Sicht einiger Experten als schwierig bezeichneten - Verhandlungen über deren Erhaltungszustand. Hier geht es um die zentralen Produktionsmittel der Verkehrsunternehmen. Von deren zuverlässiger Verfügbarkeit hängt ab, ob die Kalkulation mit aufgeht. Neben den verfügungsrechtlichen Grenzen - die Aufgabenträger und Fahrzeugeigentümer erlauben keine Veränderungen - verhindern die langfristigen Investitionszyklen unternehmensseitige Investitionen oder Innovationen. Selbst wenn die Fahrzeuge verändert werden dürften, lohnen sich regelmäßig keine Umbauten für die Verkehrsunternehmen. Denn derartige Investitionen rentieren sich erst in Zeiträumen, welche die Dauer der jeweiligen Verkehrsverträge deutlich übersteigen. Hier können die international agierenden Verkehrskonzerne ihr unter Umständen vorhandenes Know-how und ihre Erfahrung nicht einbringen. Es zeigt sich: Werden Verfügungsrechte an Infrastruktur und Fahrzeugen auf verschiedene Akteure aufgeteilt, erschwert dies Innovationen bei den zentralen Betriebsmitteln. Politische Steuerung sichergestellt Im Rahmen der Privatisierungspolitik der letzten Jahrzehnte entzündeten sich Debatten um die Legitimation der öfentlichen Daseinsvorsorge. Nicht zuletzt resultiert der Widerstand gegen die Privatisierungspolitik aus der Befürchtung, dass Dienstleistungen und Güter der Daseinsvorsorge zum Spielball internationaler Konzerninteressen werden und die kommunale Politik ihre sozialpolitische Funktionen nicht mehr im Sinne der Bürger steuern kann. Im Falle der untersuchten Betreibermodelle scheint sich diese Befürchtung im Wettbewerb um kommunale Bahnsysteme nicht zu bestätigen. Die vertraglichen Konstellationen setzen den Unternehmen, wie geschildert, sehr enge Vorgaben, und das Anlagevermögen bleibt in der Regel in öfentlicher Hand. Die Verkehrsunternehmen können weder das Angebot auf lukrative Strecken zusammenstreichen noch die Ticketpreise verändern. Wesentliche Eigenschaften des Verkehrsangebotes werden durch die Bestellerorganisationen festgelegt. Deren Organe werden kommunalpolitisch kontrolliert und demokratisch legitimiert. Wettbewerb bei kommunalen Bahnen möglich, aber aufwändig Die große Zahl funktionierender Modelle zeigt: Eine Trennung zwischen Gewährleistungsverantwortung und Leistungserbringung lässt sich wie im Schienenpersonennahverkehr auch im Bereich kommunaler Bahnsysteme umsetzen. Insofern gibt es keine Begründung dafür, diesen Bereich der kommunalen Daseinsvorsorge von einer Marktöfnung und einem Wettbewerb der Anbieter auszunehmen. Angesichts der oftmals genannten Ziele für den Wettbewerb (Kostenreduktion, mehr Kundenorientierung und Innovationen) kann möglicherweise sogar eine gewisse Wettbewerbsrendite erzielt werden. Nicht erreicht werden dagegen mit einer Marktöfnung ein Mehr an Kundenorientierung und auch nicht Innovationen für eine zukunftsfähige Weiterentwicklung der komplexen technischen Verkehrssysteme in den Großstädten. Vielmehr erscheint in umgekehrter Hinsicht die Gefahr groß, dass wegen aufgegebener Verbundvorteile einer Inhouse-Vergabe mit dem Auftrag an den externen Wettbewerber eine innovative Weiterentwicklung der Systeme erschwert wird. Denn viele Ressourcen und Knowhow werden transaktionskostenintensiv bei der Abstimmung und wechselseitigen Kontrolle der Akteure gebunden. Die deutschen Großstädte können als Aufgabenträger und Gesellschafter weiterhin die In-House-Vergabe wählen. Angesichts der Bedeutung ihrer Verkehrsunternehmen für die Stadtentwicklung, sozialpolitische Fragen und für die Funktionsfähig- In Lyon umfasst das Network-Contracting neben den Bahnsystemen auch Bus- und O-Buslinien. Foto: Krummheuer keit der Städte werden sich die Unternehmen und ihre Produktionsmittel weiterentwickeln müssen. Für die Inhouse-Vergabe an kommunalen Unternehmen sprechen daher insgesamt: • Es ergeben sich Synergien aus der Gesamtverantwortung für das integrierte Gesamtsystem. • Die Investitionsgüter können von langfristig eingebundenen Verkehrsunternehmen besser entwickelt werden. • Anreizinstrumente über den Kundenzuspruch funktionieren bei einer umfassenden Leistungserstellung durch das Verkehrsunternehmen, wenn es - mittelbar - das Erlösrisiko trägt. Der lange auch von den kommunalen Verkehrsunternehmen erwartete Wettbewerb hat bereits im Vorhinein Wirkungen entfaltet und zu Kostensenkungen, mehr Kundenorientierung und verbesserten Organisationsformen geführt 7 . Mit der „In-House-Vergabe“ sind die kommunalen Unternehmen allerdings von diesem Restrukturierungsdruck befreit. Gleichwohl sollten die kommunalen Verkehrsunternehmen aber ihre Optimierungs-Prozesse weiter fortführen. Im Spannungsfeld zwischen politischer Einlussnahme, Fahrgastorientierung, ökonomischer Eizienz und ökologischer Verantwortung stehen sie vor anspruchsvollen Aufgabenstellungen. Wenn die kommunalen Verkehrsunternehmen diesen gesellschaftlichen Verplichtungen gerecht werden, lassen sich In- House-Vergaben als Ausnahme-Regelungen weiterhin rechtfertigen. Die Marktöfnung ist in jedem Fall aber eine Option, die von der Politik gezogen werden kann. Hieran werden sich die kommunalen Verkehrsunternehmen messen lassen müssen. ■ 1 König, Herbert; Sieg, Ulrich 2009: Systemeinheit oder Trennung? Organisation von Tram und U-Bahn: Argumentationspapier des Verwaltungsrates TRAM des VDV-zur Organisation von Betrieb und Infrastruktur bei Bahnen nach BOStrab. In: Der Nahverkehr - Öfentlicher Personennahverkehr in Stadt und Region, Jg. 27, H.-1/ 2: -7-10 Und: VDV [Verband Deutscher Verkehrsunternehmen] 2001: Funktion des Betriebsleiters nach BOStrab bei Umstrukturierungen der Verkehrsunternehmen. VDV Mitteilungen,-Nr. 7013. o.O. 2 Krummheuer, Florian 2014: Marktöfnung bei kommunalen Bahnen. Metros, Stadt- und Straßenbahnen im Wettbewerb. Wiesbaden Springer VS. Betreut wurde die Arbeit von Prof. Dr.-Ing. Christian Holz-Rau, Dortmund und Prof. Dr. Jörg Bogumil, Bochum 3 Mayntz, Renate 2009: Über Governance: Institutionen und Prozesse politischer Regelung. Frankfurt, New York: Campus Verlag Seite 129: „To create a market unbundling and deconcentration must come together“. - Oder aus ökonomischer Perspektive: Knieps, Günter; Weiß, Hans-Jörg (Hg.) 2009: Fallstudien zur Netzökonomie. Wiesbaden: Gabler oder: Hedderich, Alexander 1996: Vertikale Desintegration in Schienenverkehr: Theoretische Basisüberlegungen und Diskussion der Bahnstrukturreform in Deutschland. Hamburg: Deutscher Verkehrsverlag 4 Vgl. dazu im Wesentlichen: Williamson, Oliver E. 1990a: Die ökonomischen Institutionen des Kapitalismus: Unternehmen, Märkte, Kooperationen. Tübingen: Mohr 5 Die von Williamson (a.a.O.) eingeführten und stark ausdiferenzierten Kriterien ‚Häuigkeit’ und ‚Speziität’ werden hier nicht näher erläutert. Sie dienten als Grundlage für die empirische Untersuchung. 6 vgl. Szabo, Oliver 1999: „Nachhaltigkeit“ als Leitbild für den öfentlichen Personennahverkehr: Systemtheoretische und institutionenökonomische Beiregionaler ÖPNV-Netzwerke. Dissertationen,- Bd. 87. Berlin: dissertation.de. Seite 97; Hedderich (a.ao.: 70); Resch 2008: 22 und Resch, Hubert; Neth, Dieter 2008: Direktvergabe oder Ausschreibungen in ÖPNV- Systemen: Aktualisierung der vergleichenden Studie zu Transaktionskosten aus 2004 um die Jahre 2005 und 2006 - Kurzfassung. Ein Projekt der Hans-Böckler-Stiftung. Bremen, Mössingen 7 Hirschhausen, Christian von; Cullmann, Astrid 2008: Next Stop Restructuring? : A Nonparametric Eiciency Analysis of German Public Transport Companies. Discussion Papers, Nr. 831. Berlin Florian Krummheuer, Dr. ehem. Mitarbeiter des Fachgebiets für Verkehrswesen und Verkehrsplanung der TU Dortmund. florian.krummheuer@ tu-dortmund.de Die ganze Welt setzt auf die Schiene. Setzen Sie auf uns. DB International Für Menschen. Für Märkte. Für morgen. www.db-international.de Abu Dhabi Metro, © atelier4d Architekten Berlin Engineering. System Consulting. Business Consulting. Wir entwickeln weltweit intelligente Verkehrssysteme für dynamische Wirtschaftsregionen. Von der Idee bis zur Realisierung, für Projekte jeder Größenordnung - made by Deutsche Bahn. Wir freuen uns auf Ihren Besuch auf dem DB-Stand im neuen CityCube Berlin InnoTrans Berlin, 23. - 26. September 2014 POLITIK ÖPNV-Nulltarif Internationales Verkehrswesen (66) 3 | 2014 24 Kostenloser ÖPNV: Utopie oder plausible Zukunft? Das Thema „kostenloser ÖPNV“, „fahrscheinfreier ÖPNV“ oder „Nulltarif im ÖPNV“ kann aus verschiedenen Blickwinkeln gesehen werden. Im Zentrum dieses Beitrags stehen unterschiedliche Umsetzungen des Nulltarifs und die Frage der Finanzierung. Der Text basiert auf der zukunftswissenschaftlichen Masterarbeit des Autors, für die Experteninterviews mit ÖPNV-Stakeholdern geführt wurden, sowie den aktuellen Entwicklungen auf dem Gebiet. Diskutiert wird, ob und unter welchen Voraussetzungen kostenloser ÖPNV plausibel ist. Im Ergebnis wird der beitragsinanzierte Nulltarif als plausibles Szenario erörtert. Der Autor: Kai Gondlach D er Anteil des Öfentlichen Personennahverkehrs (ÖPNV) am gesamten Personenverkehrsaukommen ist seit den 1980ern konstant auf niedrigem Niveau bei etwa 10 %. Im selben Zeitraum hat der Anteil des motorisierten Individualverkehrs (MIV) von 50 auf 59 % zugelegt. Nicht umsonst ist Deutschland als Autofahrernation bekannt; der „Autoverkehr [ist] immer noch rechtlich, iskalisch und personell wesentlich besser auf der kommunalen und regionalen Ebene verankert als der ÖV.“ [1] Individualverkehr verspricht - der Name lässt es bereits vermuten - den Nutzern ein hohes Maß an Individualität, Spontaneität, Komfort, Freiheit und Status. Schließlich entscheiden sie selbst, wann sie wohin fahren und wer auf dem Nachbarsitz Platz nimmt - wenn überhaupt. Jedoch sind die durch den MIV verursachten externen Kosten, zum Beispiel durch Staus, Verkehrsunfälle und Umweltverschmutzung, ungleich höher als beim ÖPNV [2]. Aus dieser Ausganglage ergibt sich das Urteil, dass der MIV zumindest in Gebieten mit einer funktionierenden ÖPNV-Infrastruktur objektiv gesehen viele Nachteile mit sich bringt. Der ÖPNV schneidet in den Kategorien Freiheit, Unabhängigkeit und Flexibilität [3] relativ schlecht ab. Dafür haben Busse und Bahnen eine deutlich bessere Bilanz in puncto „Lärm- und Schadstofemissionen, der Unfallhäuigkeit und der Flächenbeanspruchung“ [4]. Leider ist der ÖPNV in seiner aktuellen Verfassung ofensichtlich keine ernst zu nehmende Konkurrenz für den MIV. Eine traditionell starke Autolobby und die mangelhafte Attraktivität des ÖPNV sind nur zwei Ursachen von vielen. Objektiv gesehen spricht alles für eine Verkehrsverlagerung im Modal Split vom MIV zum Umweltverbund (ÖPNV, Fahrrad, Fußgänger). Dennoch bleibt die Verkehrsmittelnutzung seit vielen Jahren mehr oder weniger konstant. Lösung „Kostenloser ÖPNV“? Der Nulltarif im ÖPNV ist immer wieder Gesprächsthema, beispielsweise in Form einer „Nutzerinanzierung durch [ein] Deutschlandticket (wie BahnCard 100 mit City plus) für Alle“ [5]. Gefordert wird von unterschiedlichen Fraktionen mit unterschiedlichen Motiven, keine Fahrgelder mehr für die Nutzung des ÖPNV zu erheben. In der Regel wird damit mindestens eines der folgenden Ziele verfolgt: • „Veränderung des Modal Split (Zusammensetzung der Anteile der verschiedenen Verkehrsmittel an der Verkehrsmittelnutzung im Personenverkehr) zugunsten des ÖV • Senkung der Treibhausgas- und Lärmemissionen im Verkehrssektor • Optimierung der Verkehrs- und Stadtplanung • Verbesserung der Verkehrssicherheit“ [6] • Sozialpolitische und iskalische Motive Verschiedene Städte haben weltweit Modelle entwickelt oder unterschiedliche Konzepte ausprobiert. Tabelle 1 stellt ausgewählte Beispiele vergleichend gegenüber. Grundsätzlich hat sich bei der Einführung verschiedener Konzepte des Nulltarifs gezeigt, dass die Nutzerzahlen im ÖPNV in der Folge stark gestiegen sind. Das verkehrspoliti- Dauer Geltungsbereich Finanzierung Hasselt 1997-2013 Stadt Hasselt (ca. 70 000 Einwohner, EW) Umwidmung Haushaltsmittel, fahrscheinfrei für Fahrgäste Tallinn 2013- Stadt Tallinn (ca. 420 000 EW) Umwidmung Haushaltsmittel, kostenlos nur für Bürger/ innen Templin 1997-2003 2013- Stadt (ca. 14 000 EW) + Touristen; Touristen + optional Bürger/ innen Kurgebühr; Kurgebühr + optionale ÖPNV-Gebühr Lübben 1998-2002 Stadt (ca. 14 000 EW) Umwidmung Haushaltsmittel, fahrscheinfrei für Fahrgäste „Bürgerticket“ (Modell) - Heidelberg (ca. 150 000 EW) ÖPNV-Abgabe 180-240 EUR pro Jahr (p. a.) - Rheinland-Pfalz (ca. 4 Mio. EW) ÖPNV-Abgabe 192 EUR p. a. - Potsdam (ca. 160 000 EW) ÖPNV-Abgabe 100 EUR p. a. - Tübingen (ca. 90 000 EW) ÖPNV-Abgabe 100-150 EUR p. a. - Darmstadt (ca. 148 000 EW) Kostenlos für Fahrgäste - Marburg (ca. 70 000 EW) ÖPNV-Abgabe 50-100 EUR p. a. - Hamburg (ca. 1,7 Mio. EW) ÖPNV-Abgabe 170 EUR p. a. - Berlin (ca. 3,4 Mio. EW) ÖPNV-Abgabe 120-130 EUR p. a. + PKW-Abgabe Tabelle 1: Eigene Darstellung. [6] S. 55f. Internationales Verkehrswesen (66) 3 | 2014 25 ÖPNV-Nulltarif POLITIK sche Ziel einer Verkehrsverlagerung zugunsten des ÖPNV wurde also erreicht. In den vier betrachteten Modellstädten wurden ergänzend zur „Scheinfreiheit“ lankierende Maßnahmen ergrifen, um den erwarteten Ansturm von Fahrgästen bewältigen zu können; es wurden unter anderem Takte verdichtet, neue Fahrzeuge angeschaft, neue Strecken eingeführt und Straßen für den ÖPNV umgewidmet. Doch auch ein zentraler negativer Efekt darf nicht unberücksichtigt bleiben: so fand nicht nur eine Verlagerung vom MIV statt, sondern auch ehemalige Fußgänger/ innen und Radfahrer/ innen fuhren nun mit Bus und Bahn. Zusätzlich kann davon ausgegangen werden, dass viel „unnötiger“ Verkehr induziert würde, sobald die Fahrt „kostenfrei“ wäre. Auch befürchten Kritiker, dass Verkehrsunternehmen ohne Fahrentgelte weniger Anreiz hätten, Qualität zu liefern. Das zeigt, dass der reine Wegfall der Fahrscheine nicht ausreicht, um die gewünschte Verkehrsverlagerung zu erreichen (siehe [7], [8], [9]). Vielmehr verlangt ein ausgewogenes Konzept nach einem umfangreichen Maßnahmen-Mix aus Push-and-pull-Instrumenten, um einerseits die Attraktivität des ÖPNV zu erhöhen, auf der anderen Seite den MIV zu schwächen (z. B. durch Anpassungen im Parkraummanagement, Steuererhöhungen usw.) und gleichsam andere Umweltverbund-Teilnehmer/ innen am Umsteigen zu hindern. Denn, wie es vielleicht der Verkehrsclub Deutschland ausdrücken würde: Der beste Verkehr ist der, der gar nicht motorisiert stattindet. Dazu gesellt sich ein grundlegendes Problem des ÖPNV: Jede Region ist anders, sowohl bezogen auf die Verkehrsmittelnutzung als auch auf die Voraussetzungen für den Betrieb. Großstädte eignen sich grundsätzlich gut für den Nulltarif, da die ÖPNV- Akzeptanz hoch, die Straßen überfüllt, die Luftemissionen an der Grenze sind und eine gut ausgebaute Infrastruktur vorliegt. In manchen ländlichen Regionen lohnt sich demgegenüber schon heute kein Busbetrieb mehr. Hier sind vielmehr innovative Alternativkonzepte gefragt, die die Mobilität der Bevölkerung sicherstellen - als Beispiele sei hier nur kurz auf den Rubus, Bürgerbus und Kombibus (alle in Brandenburg) hingewiesen. Aktuell arbeiten unter anderem Potsdam (Stadtverwaltung), Berlin (Die Grünen), Erfurt, Leipzig und Bremen an Umsetzungsstrategien für den Nulltarif [10]. Finanzierung Die zentrale Schwierigkeit des Nulltarifs besteht in der Finanzierung. Immerhin müssen die Kosten kompensiert werden, die durch den Betrieb, die Erhaltung und den Ausbau der Infrastruktur entstehen. Aktuell geschieht dies durch ein hochgradig komplexes Gelecht aus Nutzerentgelten, Landes-, Bundes- und EU-Zuschüssen. Da aber die aktuellen rechtlichen Rahmenbedingungen kaum Spielraum lassen, haben die o. g. Modellstädte durchweg auf eine Umwidmung von Haushaltsmitteln bzw. erhobenen Kurgebühren zurückgegrifen. Diese Einnahmen sind allerdings nur schwer anpassbar, weshalb die Kosten in fast allen betrachteten Städten irgendwann nicht mehr getragen werden konnten. Stattdessen wurden einige Konzepte erarbeitet, die eine Mobilitätsabgabe in Form einer allgemein verplichtenden Gebühr - analog zur Rundfunkgebühr - vorschlagen. Eine derartige ÖPNV-Abgabe, die von allen Bürger/ innen gezahlt werden müsste, könnte zweckgebundene Mittel in den Haushalt spielen und sowohl Betrieb als auch Investitionen decken. Die Höhe der ÖPNV-Gebühr liegt nach unterschiedlichen Berechnungen bei 8-20 EUR im Monat pro Bürger/ in (siehe Tabelle 1). Dies erscheint als vertretbare Summe. Bei jeder Berechnung darf allerdings nicht vergessen werden, die voraussichtlichen Kosten für (Erst-)Investitionen und lankierende Maßnahmen mitzudenken, damit das Angebot auch tatsächlich für alle Teilnehmer/ innen des Umweltverbundes attraktiv gestaltet wird. Auch die Befragungen von zentralen ÖP- NV-Stakeholdern im Verkehrsverbund Berlin-Brandenburg haben ergeben, dass die ÖPNV-Gebühr ein durchaus plausibles Modell darstellt. Die befürwortenden Argumente zielen vor allem auf den sozialen und ökologischen Vorteil einer Mehrnutzung des ÖPNV sowie die Vorteile aus Sicht der Verkehrsplanung. Gegenargumente stellen die Finanzierung von Investitionen in den Mittelpunkt, was darauf hindeutet, dass ein funktionierender Nulltarif sich vor allem dieser Thematik widmen und die Höhe der Gebühr entsprechend bemessen müsste (siehe [6], S. 62 f). Auf die Verkehrsunternehmen hätte eine Systemumstellung ambivalente Auswirkungen: Vertrieb, Tariierung und Fahrgeldmanagement wären dann nicht mehr nötig. Die Arbeitsplätze in diesen Bereichen würden wegfallen. Da allein der Vertrieb ca. 8-15% des Etats von Verkehrsunternehmen ausmacht, würde dies jedoch auch eine immense Kosteneinsparung bedeuten. Gleichzeitig werden viele neue Jobs geschafen durch einen erhöhten Bedarf an Fahrzeugführern und Beschäftigten für den Ausbau und Erhalt der Infrastruktur. Fazit und Ausblick Ein Nulltarif ohne intelligente Gegeninanzierung ist eine Utopie. Es ist auch fraglich, ob er die Lösung des Problems im Verkehrsmittelmix ist oder ob dafür andere verkehrspolitische Maßnahmen besser geeignet sind. Wer nur einen Hammer als Werkzeug hat, sieht in jedem Problem einen Nagel. Deshalb sollte genau überprüft werden, Zugkräftige Produkte ... 2014 e-ketten ® der E2 micro Familie für kleinste Bauräume, z. 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Die Gebührenberechnung muss sowohl die Betriebskosten als auch voraussichtliche Investitionen abdecken. • Push-and-pull: Zusätzlich zur Abschaffung des Tickets sind ergänzende Maßnahmen erforderlich, um das Ziel einer Verkehrsverlagerung auf den Umweltverbund zu erreichen. Auf der einen Seite können durch eine Schwächung des MIV Haushaltsmittel für den Umweltverbund frei werden, wobei die Kosten dieser Maßnahmen im Blick behalten werden müssen. Auf der anderen Seite sollten Fußgänger/ innen und Radfahrer/ innen Anreize für das „Nicht-Einsteigen“ erhalten, wie beispielsweise durch privilegierte Strecken (Beispiel „Fahrradschlange“ in Kopenhagen oder die geplante Fahrradautobahn in London). Darüber hinaus könnten inanzielle Anreize für den bewussten Verzicht auf motorisierte Fortbewegung die Fußgänger/ innen und Radfahrer/ innen davon abhalten, ihre bisherigen Gewohnheiten zu verändern (Beispiel Pendlerpauschale auch für diese Personengruppen oder stärkere inanzielle Belastung der MIV- Nutzer/ innen). Unterm Strich bedarf es einer umfangreichen wissenschaftlichen Widmung in Form einer Machbarkeitsstudie, um die erhoften positiven Efekte weiter zu beleuchten und potenzielle Fallstricke zu erkennen. ■ LITERATUR  [1] Monheim, Heiner / Schroll, Karl Georg (2005): Von der Defensive zur Ofensive - mehr Akzeptanz für innovative Konzepte im Öfentlichen Verkehr bei professionellen Akteuren. In: Verkehrszeichen, Jg. 21, Nr. 2; S. 2.  [2] Becker, Udo J. / Becker, Thilo / Gerlach, Julia (2012): Externe Autokosten in der EU-27. Überblick über existierende Studien. Dresden: Fakultät Verkehrswissenschaften „Friedrich List“, Institut für Verkehrsplanung und Straßenverkehr, Technische Universität Dresden; S. 36 f.  [3] Pripl, Jürgen et al. (2010): Verkehrsmittelwahl und Verkehrsinformation. Emotionale und kognitive Mobilitätsbarrieren und deren Beseitigung mittels multimodalen Verkehrsinformationssystemen - EKoM Endbericht, Wieb: Kuratorium für Verkehrssicherheit; S. 85.  [4] Böhler, Susanne (2010): Nachhaltig mobil. Eine Untersuchung von Mobilitätsdienstleistungen in deutschen Großstädten. In: Raumplanung, Informationskreis für (Hrsg.), Band V8, Dortmund: Dortmunder Beiträge zur Raumplanung; S. 48.  [5] Monheim, Heiner (2012): Verkehrspolitik neu ausrichten. Eine Abrechnung mit den Fehlentwicklungen deutscher Verkehrspolitik. In: Deutsche Verkehrswissenschaftliche Gesellschaft e.V. (Hrsg.): Perspektive Mobilität - Herausforderungen im gesellschaftlichen Wandel. DVWG Jahresband 2011/ 2012, Berlin; S. 12-22, Zitat S. 20.  [6] Gondlach, Kai (2013): Disruptive Entwicklung ‚Kostenloser ÖPNV‘: Utopie oder plausible Zukunft? Risiken und Chancen für die Deutsche Bahn. Unveröfentlichte Masterarbeit an der Freien Universität Berlin; S. 6.  [7] Aberle, Gerd (2012): „Kostenloser“ ÖPNV? - Irrtum und Irrweg. In: Internationales Verkehrswesen, Jg. 64, Nr. 2; S. 11  [8] Verkehrsclub Deutschland (2011): Entwurf VCD Position: ÖPNV zum Nulltarif - kein Königsweg; S. 8  [9] Gondlach, Kai (2013): Disruptive Entwicklung ‚Kostenloser ÖPNV‘: Utopie oder plausible Zukunft? Risiken und Chancen für die Deutsche Bahn. Unveröfentlichte Masterarbeit an der Freien Universität Berlin; S. 43, 64f. [10] Gehrke, Marvin / Groß, Stefan (2014): Fahrscheinfrei im ÖPNV. IVP- Discussionpaper 2014 (3); Herausgeber: Fachgebiet Integrierte Verkehrsplanung der Technischen Universität Berlin, online unter http: / / www.ivp.tu-berlin.de/ fileadmin/ fg93/ Dokumente/ Discussion_Paper/ DP3_Gehrke.pdf (Zugrif am 07.08.2014). Kai Arne Gondlach, MA Zukunftsforschung; BA Soziologie, Politik und Verwaltung Innovation & Marketing Manager, Potsdam/ Lauchhammer/ Berlin mail@gondlach.de „ IV “ Internationales Verkehrswesen (66) 3 | 2014 27 Benzin - Wann der Grif zur-Zapfpistole teuer wird Die Kraftstofpreise sind in der Regel sonn- und feiertags am höchsten und am frühen Abend am günstigsten für den jeweiligen Tag. Dies sind zwei von vielen interessanten Ergebnissen, die auf Basis von Millionen Preisinformationen für das Jahr 2014 gewonnen wurden und im folgenden Beitrag dargestellt werden. Die Autoren: Manuel Frondel, Alexander Kihm, Nolan Ritter, Colin Vance K aum ein Thema erfährt auf Dauer eine derart hohe Aufmerksamkeit wie die Höhe der Kraftstofpreise. Neben dem zumeist als zu hoch empfundenen Preisniveau stehen vor allem die häuigen und starken Preisanpassungen an den Tankstellen in der Kritik (Frondel et al. 2012). Weil die Preisentwicklung auf dem Kraftstofmarkt sowohl von Verbrauchern als auch von Politikern als Ergebnis einer missbräuchlichen Ausnutzung von kartellartiger Marktmacht angesehen wird (Beirat BMVBS 2012), beschloss der Gesetzgeber mit dem Markttransparenzgesetz die umfassende staatliche Aufsicht über die Preispolitik der Mineralölkonzerne. Demgemäß müssen die Betreiber der über 14 000 Tankstellen in Deutschland dem Bundeskartellamt seit dem 1. September 2013 detailliert Auskunft über ihre Preise geben sowie darüber, wann und in welchem Umfang sie die Preise an den Zapfsäulen erhöhen oder senken. Diese Daten, die der staatlichen Markttransparenzstelle für Kraftstofe gemeldet werden müssen, werden inzwischen 26 Verbraucher-Informationsdiensten in Echtzeit zugänglich gemacht. Als Resultat stehen nunmehr Abermillionen von Preisinformationen für die vergangenen Monate zur Verfügung. Vor diesem Hintergrund untersucht dieser Beitrag die Preispolitik an deutschen Tankstellen, die wesentlich von einem Oligopol von Mineralölunternehmen bestimmt wird, das aus den fünf Anbietern Aral, Shell, Jet, Esso und Total besteht. 1 Dazu werden hier die Preise der Kraftstofsorte Diesel für die sechs Wochen zwischen dem 28. Mai und dem 8. Juli 2014 betrachtet. Für diese Wochen wird insbesondere analysiert, an welchen Wochentagen im Allgemeinen die höchsten Preise zu verzeichnen sind. Entgegen dem subjektiven Empinden der Autoren sind in diesem Zeitraum in der Regel die höchsten tagesdurchschnittlichen Preise jeweils an Sonn- und Feiertagen festzustellen. So sind die Tagesdurchschnittspreise für Diesel an Christi Himmelfahrt (29. Mai 2014) und am Pingstmontag (9. Juni 2014) in der jeweiligen Woche am höchsten (Tabelle 1). Dieses Muster zeigt sich ebenso für die übrigen, hier nicht dargestellten Kraftstofsorten, Super E10 und Super E5. Behält man die hier benutzte Deinition einer Woche mit Wochenstart am Mittwoch und dem entsprechenden Ende am darauffolgenden Dienstag bei, ist dasselbe Muster mit wenigen Ausnahmen auch für die übrigen Wochen des Jahres 2014 festzustellen. So wiesen insbesondere die Tagesdurchschnittspreise am 1. Januar die höchsten Werte für die erste Woche des Jahres 2014 auf. Diese Ergebnisse scheinen das immer wieder vorgebrachte Vorurteil zu bestäti- 28.5.-3.6 4.6.-10.6. 11.6.-17.6. 18.6.-24.6. 25.6.-1.7. 2.7.-8.7. Mittwoch 1,3848** (0,000) 1,3662** (0,000) 1,3661** (0,000) 1,3827** (0,000) 1,3987** (0,000) 1,3758** (0,000) Donnerstag 1,3930** (0,000) 1,3766** (0,000) 1,3811** (0,000) 1,4041** (0,000) 1,4015** (0,000) 1,3890** (0,000) Freitag 1,3889** (0,000) 1,3672** (0,000) 1,3888** (0,000) 1,4006**(0,000) 1,3991** (0,000) 1,3894** (0,000) Samstag 1,3897** (0,000) 1,3811** (0,000) 1,3951** (0,000) 1,4028** (0,000) 1,4055** (0,000) 1,3895** (0,000) Sonntag 1,3718** (0,000) 1,3808** (0,000) 1,3996** (0,000) 1,4029** (0,000) 1,4046** (0,000) 1,3909** (0,000) Montag 1,3850** (0,000) 1,3829** (0,000) 1,3958** (0,000) 1,4020** (0,000) 1,3981** (0,000) 1,3822** (0,000) Dienstag 1,3831** (0,000) 1,3782** (0,000) 1,4008** (0,000) 1,4021** (0,000) 1,3809** (0,000) 1,3817** (0,000) # Beob. 91 411 90 138 92 604 92 106 92 356 92 081 ** Signiikant auf 1%-Niveau, Standardfehler in Klammern. Tabelle 1: Tagesdurchschnittspreise für Diesel in Euro pro Liter, 28. Mai bis 8. Juli 2014 Foto: Rainer Sturm_pixelio.de Kraftstofpreise POLITIK POLITIK Kraftstofpreise Internationales Verkehrswesen (66) 3 | 2014 28 gen, dass die Autofahrer von den Mineralölunternehmen an Feiertagen besonders zur Kasse gebeten werden. Allerdings muss für die in der Tabelle 1 dargestellten Tagesdurchschnittspreise konstatiert werden, dass die Unterschiede zwischen den Wochentagen zwar ausnahmslos statistisch signiikant, aber jeweils relativ gering sind und in der Regel um die 2 bis 3 ct je Liter liegen. Damit hält sich das Ausmaß eines potentiellen Preiswuchers an Feiertagen in engen ökonomischen Grenzen und beträgt weniger als 2 % des jeweiligen Wochendurchschnitts. Darüber hinaus bleibt hier in Ermangelung entsprechender Informationen über die verkauften Mengen unklar, ob die an Feiertagen geringfügig höheren Tagesdurchschnittspreise nicht das Resultat einer vergleichsweise hohen Nachfrage und damit unter Wettbewerbsgesichtspunkten völlig legitim sind. Ein noch weitaus stabileres Muster indet sich für die Preisunterschiede zwischen 28.5.-3.6 4.6.-10.6. 11.6.-17.6. 18.6.-24.6. 25.6.-1.7. 2.7.-8.7. Aral 1,4028** (0,000) 1,3973** (0,000) 1,4143** (0,001) 1,4230** (0,000) 1,4249** (0,001) 1,4102** (0,001) Esso 1,3930** (0,001) 1,3870** (0,001) 1,4000** (0,001) 1,4022** (0,001) 1,4048** (0,001) 1,3929** (0,001) Jet 1,3555** (0,001) 1,3455** (0,001) 1,3607** (0,001) 1,3718** (0,001) 1,3670** (0,001) 1,3553** (0,001) Shell 1,4153** (0,000) 1,4014** (0,000) 1,4208** (0,000) 1,4321** (0,000) 1,4286** (0,000) 1,4077** (0,001) Total 1,3965** (0,001) 1,3847** (0,001) 1,4008** (0,001) 1,4117** (0,001) 1,4111** (0,001) 1,3990** (0,001) Übrige 1,3715** (0,000) 1,3625** (0,000) 1,3746** (0,000) 1,3847** (0,000) 1,3823** (0,000) 1,3707** (0,000) # Beob. 91 411 90 138 92 604 92 106 92 356 92 081 ** Signiikant auf 1%-Niveau, Standardfehler in Klammern. Tabelle 2: Wochendurchschnittspreise für Diesel in Euro pro Liter nach Anbietern, 28. Mai bis 8. Juli 2014 28.5.-3.6 4.6.-10.6. 11.6.-17.6. 18.6.-24.6. 25.6.-1.7. 2.7.-8.7. Aral 3,8684** (0,025) 3,6736** (0,023) 3,9241** (0,025) 3,9530** (0,026) 3,9622** (0,024) 4,0143** (0,024) Esso 4,3305** (0,035) 4,2779** (0,034) 4,4066** (0,033) 4,9329** (0,037) 5,0355** (0,040) 5,0792** (0,038) Jet 3,8429** (0,046) 3,6944** (0,044) 3,8090** (0,044) 4,0128** (0,046) 4,1871** (0,046) 4,2257** (0,043) Shell 4,9452** (0,027) 4,1103** (0,023) 4,6247** (0,025) 4,7743** (0,027) 4,7787** (0,026) 4,9688** (0,025) Total 4,3311** (0,041) 4,1122** (0,038) 4,3187** (0,042) 4,4071** (0,043) 4,4715** (0,042) 4,4611** (0,041) Übrige 4,0908** (0,017) 3,9004** (0,015) 4,0518** (0,016) 4,0547** (0,017) 4,1550** (0,016) 4,2091** (0,016) # Beob. 91 411 90 138 92 604 92 106 92 356 92 081 ** Signiikant auf 1%-Niveau, Standardfehler in Klammern. Tabelle 3: Preisänderungshäuigkeit pro Tag für Diesel, 28. Mai bis 8. Juli 2014 28.5.-3.6 4.6.-10.6. 11.6.-17.6. 18.6.-24.6. 25.6.-1.7. 2.7.-8.7. Aral 0,1034** (0,001) 0,0975** (0,001) 0,1025** (0,001) 0,1091** (0,001) 0,1150** (0,001) 0,1138** (0,001) Esso 0,1187**(0,001) 0,1230** (0,001) 0,1243** (0,001) 0,1289** (0,001) 0,1384** (0,001) 0,1398** (0,001) Jet 0,0631** (0,000) 0,0597** (0,001) 0,0663** (0,001) 0,0681** (0,000) 0,0667** (0,000) 0,0665** (0,000) Shell 0,1303** (0,001) 0,1277** (0,001) 0,1304** (0,001) 0,1313** (0,000) 0,1385** (0,001) 0,1288** (0,001) Total 0,1144** (0,001) 0,1122** (0,000) 0,1197** (0,000) 0,1198** (0,000) 0,1273** (0,000) 0,1272** (0,000) Übrige 0,0914** (0,000) 0,0898** (0,000) 0,0918** (0,000) 0,0895** (0,000) 0,0930** (0,000) 0,0924** (0,000) # Beob. 91 411 90 138 92 604 92 106 92 356 92 081 ** Signiikant auf 1%-Niveau, Standardfehler in Klammern. Tabelle 4: Durchschnittliche Preisdiferenz pro Tag in Euro pro Liter für Diesel, 28. Mai bis 8. Juli 2014 Bild 1: Durchschnittspreise für Diesel in EUR/ l nach Tageszeit, 28. Mai bis 3. Juni 2014 1,34 1,36 1,38 1,40 1,42 1,44 EUR/ liter MI., 23 Uhr DO., 5 Uhr DO., 19 Uhr FR., 23 Uhr SA., 5 Uhr SA., 19 Uhr SO., 23 Uhr MO., 5 Uhr MO., 19 Uhr Tag und Uhrzeit Diesel Internationales Verkehrswesen (66) 3 | 2014 29 Kraftstofpreise POLITIK Anbietern. Die im Wochendurchschnitt ausnahmslos günstigsten Preise inden sich für Jet-Tankstellen. Bei Diesel liegen die Wochendurchschnitte von Jet bis zu 6 ct je-Liter unter denen der Wettbewerber (Tabelle 2). Mit wenigen Ausnahmen ändern Jet- Tankstellen auch am wenigsten häuig die Preise pro Tag (Tabelle 3), im Wochendurchschnitt betrachtet etwa vier Mal, Esso- und Shell-Tankstellen hingegen im Wochenmittel eher um die fünf Mal am Tag. Auch die Diferenzen zwischen Tageshöchstpreis und dem niedrigsten Tagespreis sind bei Jet-Tankstellen am kleinsten, im Wochenmittel liegen diese Diferenzen um die 6 ct je Liter, bei Shell-Tankstellen kann die mittlere Preisdiferenz auch mehr als doppelt so hoch ausfallen (Tabelle 4). Die günstigsten Preise lassen sich für die frühen Abendstunden verzeichnen, bevor die Preise im Laufe der Abendstunden wieder anziehen und um 23 Uhr ihr Maximum erreichen (Bild 1). Auf diesem hohen Niveau bleiben die Preise regelmäßig bis 5 Uhr morgens, bevor sie im Tagesverlauf wieder sinken, um gegen 19 Uhr erneut wieder ihr Minimum zu erreichen. Die Regelmäßigkeit dieses Verlaufs ist frappierend und zeigt sich nicht nur für Diesel in der in Abbildung 1 angegebenen Woche vom 28. Mai bis 3. Juni, sondern für sämtliche Wochen zwischen dem 28. Mai und dem 8. Juli 2014. Solche und weitere Auswertungen indet man künftig im RWI-Benzinpreisspiegel auf der Homepage des Rheinisch-Westfälischen Instituts für Wirtschaftsforschung (RWI) unter dem Linkwww.rwi-essen.de/ benzinpreisspiegel. ■ 1 Am 1.7.2014 gab es in Deutschland 14-242 Tankstellen, 2-377 gehörten zu Aral, 1-995 zu Shell, 1-097 zu Total, 1-012 zu Esso und 782 zu JET (EID 2014: 6). LITERATUR: Beirat BMVBS (2012), Staatliche Eingrife in die Preisbildung auf dem Benzinmarkt? Internationales Verkehrswesen 64 (5): 2-4. EID (2014) Tankstellen. Energie Informationsdienst 2/ 2014, Hamburg. Frondel, M., C. M. Schmidt und M. Sievert (2012), Hohe Benzinpreise - kein Grund für Aktionismus. Internationales Verkehrswesen 64 (5): 2-4. Alexander Kihm, Dr. Freiberuflicher Berater, Berlin alex@kihm.cc Nolan Ritter, Dr. Wissenschaftlicher Mitarbeiter im Kompetenzbereich Umwelt und Ressourcen, RWI, Essen. nolan.ritter@rwi-essen.de Colin Vance, Prof., Ph.D., stellvertretender Kompetenzbereichsleiter Umwelt und Ressourcen, RWI Essen und Jacobs University Bremen colin.vance@rwi-essen.de Manuel Frondel, Prof. Dr. Kompetenzbereichsleiter Umwelt und Ressourcen, RWI Essen und Ruhr-Universität Bochum. manuel.frondel@rwi-essen.de Zukunft denken. W3 Universitätsprofessur Schienenfahrzeug- und Transportsysteme FAKULTÄT FÜR MASCHINENWESEN Zum 01.07.2016 wird eine Persönlichkeit gesucht, die dieses Fach in Forschung und Lehre vertritt. Das Aufgabengebiet umfasst vielfältige schienenfahrzeugtechnische Themen, wobei aktuell die Fahrwerkstechnik, Brems- und Gleitschutztechnik und weitere Themen zur Verschleißminderung im Rad-Schiene-Kontakt im Mittelpunkt der Forschungsaufgaben stehen. Gleichermaßen gewünscht ist die Beschäftigung mit den Fragestellungen moderner Transportaufgaben und den dafür notwendigen Techniken (Fahrzeuge, Fördermittel, Umschlagtechnik) sowie des intermodalen Verkehrs. Die Stelleninhaberin bzw. der Stelleninhaber ist verantwortlich für die Lehre in der Schienenfahrzeugtechnik sowie in der Fördertechnik. Voraussetzungen sind ein abgeschlossenes Universitätsstudium, Promotion und zusätzliche wissenschaftliche Leistungen, die durch eine Habilitation, im Rahmen einer Juniorprofessur, einer wissenschaftlichen Tätigkeit an einer Hochschule, Forschungseinrichtung, in Wirtschaft, Verwaltung oder einem anderen gesellschaftlichen Bereich erbracht wurden. Des Weiteren werden didaktische Fähigkeiten erwartet. Eine in Lehre und Forschung fakultätsübergreifende Zusammenarbeit mit den im Themenkomplex „Mobilität und Transport“ tätigen Lehrstühlen wird erwartet. Den Bewerbungsunterlagen sollen Belege über Lehrerfolge beigefügt werden. Ihre schriftliche Bewerbung richten Sie bitte bis zum 15.11.2014 an den Dekan der Fakultät für Maschinenwesen der RWTH Aachen, Univ.-Prof. Dr.-Ing. Robert Schmitt, 52056 Aachen. Auf Wunsch kann eine Teilzeitbeschäftigung ermöglicht werden. Die RWTH ist als familiengerechte Hochschule zertifiziert und verfügt über ein Dual Career Programm. Wir wollen an der RWTH Aachen besonders die Karrieren von Frauen fördern und freuen uns daher über Bewerberinnen. Frauen werden bei gleicher Eignung, Befähigung und fachlicher Leistung bevorzugt berücksichtigt, sofern nicht in der Person eines Mitbewerbers liegende Gründe überwiegen. Bewerbungen geeigneter schwerbehinderter Menschen sind ausdrücklich erwünscht. Politik Energiepreise Internationales Verkehrswesen (66) 3 | 2014 30 Steigende Energiepreise und ihre Wirkung auf planerische Strategien Erfahrungen aus einem transdisziplinären Forschungsprojekt In der Verkehrsplanung wird die Robustheit vorhandener Strukturen gegenüber deutlich gestiegenen Energiepreisen nur selten in Szenarien untersucht. Im Rahmen eines BMBF-geförderten Forschungsprojektes wurden die Auswirkungen höherer Energiepreise auf die räumliche Entwicklung sowie das Verkehrsverhalten modellhaft abgebildet und in ein Planspiel integriert. In diesem Planspiel haben Entscheidungsträger experimentelle Strategiepfade auf Basis von Modellergebnissen entwickelt. Die Notwendigkeit solcher Preisszenarien wird in diesem Artikel diskutiert und vor dem Hintergrund der Projektergebnisse reflektiert. Die Autoren: Sven Altenburg, Marcus Peter V erkehr verlangt noch immer den umfangreichen Einsatz fossiler Energieträger. Rund 87 % der Personenverkehrsleistung werden über die Verwendung direkter Erdölerzeugnisse realisiert ([1], eigene Auswertungen auf Basis von Verkehr in Zahlen 2010/ 2011). Der künftige Ölpreis wird in erheblichem Maße mitentscheiden, auf welche Art und zu welchen Kosten Ortsveränderungen realisiert werden können. Ohne belastbare Aussagen zur künftigen Preisentwicklung kann keine Prognose den Anspruch erheben, die wichtigen Einlussfaktoren auf die Verkehrsentwicklung vollständig abzubilden. Zwar werden Annahmen zu Rohölpreisen in Rahmenszenarien regelmäßig berücksichtigt, gleichwohl stellt sich die Frage, ob die bislang üblichen Preisannahmen vor dem Hintergrund erheblicher Schwankungen ausreichend sind. kraftstofpreise in der Verkehrsprognose Etablierte Verkehrsprognosen und Planungskonzepte stützen sich zumeist auf ein Annahmegelecht aus moderat steigenden Rohölpreisen sowie dämpfend wirkenden Einkommenszuwächsen und Eizienzsteigerungen. Beispielhaft genannt sei hier die „Verkehrsverlechtungsprognose 2030“ - eine der entscheidenden Grundlagen für die bedarfsgerechte Schwerpunktsetzung und Priorisierung bei der Entwicklung des BVWP 2015 [2]. Für das Jahr 2030 wird hier ein realer Ölpreis von 120 USD/ bbl (Basis 2010) angenommen, welcher mit den Einschätzungen etablierter Institutionen übereinstimmt [3]. Unter besonderer Berücksichtigung der Anpassungsmechanismen bei der Mineralölsteuer sowie angenommener Verbrauchsrückgänge durch Eizienzsteigerungen, wird von einer efektiven jährlichen Kostensteigerung bei Kraftstoffen um 0,5 % ausgegangen. Der Preis des Rohöls Die Preisentwicklung von Rohöl unterliegt vielfältigen Faktoren. Vor der Schablone tatsächlicher Preiszuwächse ist ein strukturelles Unterschätzen der Preisentwicklung erkennbar (Bild 1). Exemplarisch zu nennen ist die erste Preisspitze im Jahre 2008 mit einem Barrelpreis von über 100 $ - ein noch kurz zuvor als unrealistisch bewertetes Preisniveau ([4], S. 11). Insbesondere in Nordamerika wird mit der Erschließung unkonventioneller Vorkommen (Deinition und Abgrenzung: [5]) aktuell die Hofnung nach niedrigerer Importabhängigkeit und gedämpfter Preisentwicklung verbunden [6]. Während die verringerte Exportabhängigkeit bereits empirisch nachweisbar ist [7], bleibt der Bild 1: Vergleich von Rohölpreisprognosen und tatsächlicher Entwicklung. (Eigene Darstellung) Internationales Verkehrswesen (66) 3 | 2014 31 Energiepreise Politik Jahr Rohölpreis $/ bbl Preis Benzin, Diesel €/ l Heizölpreis €/ l Erdgaspreis €/ kWh Strompreis €/ kWh ÖV-Preis (Basis 2010) 2015 200 2,20 1,47 0,13 0,29 +5 % 2025 400 3,50 2,75 0,15 0,40 +10 % Tabelle 1: Energiepreisszenarien 2015 und 2025 Quelle: Eigene Szenarien globale Preisefekt ungewiss. Zu berücksichtigen ist, dass diese Verfahren erst durch den relativ hohen Preis konventionellen Öls marktfähig geworden sind. Gordon verweist außerdem auf die Abhängigkeit von neuen und hochenergieintensiven Produktionstechniken sowie die schwierige Zugänglichkeit und ungewöhnliche Zusammensetzung dieser Vorkommen ([5], S.- 6). Zusätzlich erschweren die komplexen rechtlichen, geologischen und ökologischen Faktoren die globale Übertragbarkeit dieser Entwicklung, in einem „beständig hohen Preisniveau“ wird indes eine Grundvoraussetzung gesehen ([8], S. 10). Die Kraftstofkosten allein reichen bei der Efektabschätzung von Preisniveaus nicht aus. Nur eine Erweiterung um Aussagen zur Eizienz und Einkommensstruktur führt zu einer realistischen Einordnung der Efekte. Das Zusammenspiel dieser drei Faktoren bedeutet jedoch auch eine dreifache Unsicherheit in Bezug auf die weitere Entwicklung. Efekte von Preissteigerungen Die Preiselastizität bei Kraftstofen wurde bislang als relativ gering eingeschätzt. Vergangene Studien konnten zeigen, dass höhere Preise nur zum Teil durch eine geringere Fahrleistung kompensiert wurden. Insgesamt wurde ein Anstieg der gesamten Mobilitätsaufwendungen beobachtet, was zu Ausgaberückgängen bei anderen Haushaltsbudgets führte [10]. Bei moderaten Preisanstiegen ist diese Neujustierung der Haushaltsbudgetierung mit relativ geringen Efekten verbunden. Es ist jedoch zu untersuchen, wie diese Anpassungen zu realisieren sind, wenn die Preise in erheblich größerem Maße steigen. Dabei wird grundsätzlich unterstellt, dass sowohl Einkommenszuwächse als auch technologische Neuerungen nicht in der Lage sind, diese Preiszuwächse auszugleichen. Szenarien sind ein geeignetes Mittel bei der Abbildung notwendiger Anpassungsstrategien. Bereits in der Vergangenheit konnte am Beispiel eines integrierten Landnutzungs- und Verkehrsmodells die Bedeutung einer solchen Szenarienbetrachtung gezeigt werden [11]. Die Möglichkeit solcher Berechnungen und die multiplen Unsicherheiten hinsichtlich der Mobilitätsaufwendungen, lassen die ausschließliche Festlegung auf ein moderates Energiepreisniveau als riskant erscheinen und die entscheidende Frage unbeantwortet: Was passiert, wenn es anders kommt? Das Projekt €lAN Ziel des BMBF-geförderten Projekts €LAN war die experimentelle Folgenabschätzung deutlich steigender Energiepreise. Innerhalb dieses Vorhabens wurde ein für diese Zwecke entwickeltes integriertes Siedlungs- und Verkehrsmodell der Metropolregion Hamburg mit einem Planspiel kombiniert. Auf Basis von Energiepreisszenarien oberhalb gängiger Prognosen (Tabelle 1) wurden die vielfältigen Auswirkungen auf das Siedlungs- und Verkehrssystem nachgebildet. Die zusammenhängende Betrachtung von räumlicher Entwicklung und Verkehrsverhalten ermöglicht die Berücksichtigung hoher Energiepreisniveaus bei Standortentscheidungen von privaten Haushalten und Unternehmen. Die Wirkung ist abhängig von der Höhe der Kraftstofpreise und kann die Standortwahl bei ohnehin anstehenden Umzügen beeinlussen aber auch zur Auslösung von Umzügen führen (siehe auch [12]). Insgesamt ergibt sich in Abhängigkeit von sozioökonomischen (Einkommen, PKW- Besitz etc.), soziodemographischen (Alter, Haushaltszusammensetzung etc.), infrastrukturellen und individuellen sozialen Faktoren (Netzwerke, Freizeitgestaltung etc.) eine erhebliche Varianz hinsichtlich der Auswirkungen von Energiepreissteigerungen. In einem ersten Schritt wurden in den Planspielen Entscheidungsträger der kommunalen Ebene mit einem Benzinpreisniveau von 2,20 EUR/ l konfrontiert und aufgefordert, aus Einzelmaßnahmen bestehende experimentelle Handlungsstrategien zu entwickeln. Im nächsten Schritt erfolgte eine Modellneuberechnung unter Berücksichtigung dieser Einzelmaßnahmen sowie die neuerliche Übergabe der Ergebnisse in das Planspiel. Nun bestand die Möglichkeit, die eingeschlagenen Strategiepfade anzupassen und das Maßnahmenrepertoir zu erweitern. Darüber hinaus wurde ein Benzinpreisniveau von 3,50 EUR/ l zugrunde gelegt. Die Wirkungen dieser Maßnahmen ergab eine neuerliche Modellberechnung. Alle durchgeführten Berechnungen und resultierenden Modellergebnisse wurden strukturiert und in einer gemeinsamen Abschlussveranstaltung mit allen Planspielteilnehmern vorgestellt. Reaktionen der Praxisebene Stark steigende Energiepreise wurden von den Planspielteilnehmern als Risiko wahrgenommen und entsprechende Preisszenarien als gerechtfertigt bezeichnet. Dementsprechend bestand von Beginn an eine hohe Motivation, dieses Thema eingehend zu diskutieren und mögliche Handlungsansätze zu entwickeln. Innerhalb der einzelnen Planspieltermine traten die Interessensunterschiede zwischen städtischen und eher peripheren Regionen deutlich zutage. Erkenntnisreich waren die großen thematischen Überschneidungen mit der Diskussion um die demographische Veränderung. In der Gleichzeitigkeit von Kostensteigerungen und Bevölkerungsabnahme wird ein wichtiger Einluss auf die großräumige Verteilung der Einwohner und ihrer Mobilitätsmuster gesehen. Folglich zielten die entwickelten Maßnahmen nicht nur darauf ab, den Druck auf Seiten der Energiekosten zu reduzieren, sondern für die eigenen und potenziellen Einwohner attraktiver zu werden. Dass diese Strategie nicht in allen Gemeinden und Kreisen gleichermaßen zum Erfolg werden kann, ist ofenkundig. Die einzelnen Maßnahmen sind in Tabelle 2 zusammengefasst. Dabei wird zwischen energie- und mobilitätskostensenkenden sowie kompensierenden und konkurrierenden Maßnahmen unterschieden. Kompensierende Maßnahmen erhöhen die Attraktivität der Gemeinde für jeden einzelnen Einwohner, unabhängig von der tatsächlichen Bevölkerungsentwicklung. Konkurrierende Maßnahmen wirken sich hingegen nur bei einer tatsächlichen Nachfrage positiv aus, ihre Wirksamkeit über das Gesamtgebiet ist abhängig von der Bevölkerungszahl. Unter Berücksichtigung tatsächlich „gespielter“ Maßnahmenbündel wurden die Unterschiede zwischen den Lagen und des daraus resultierenden Handlungsdrucks offensichtlich. Ländliche Gemeinden mit MIV-abhängigen Strukturen sehen lediglich in einer Erhöhung des PKW-Besetzungsgrades sowie in einem rasanten technologischen Fortschritt eine begrenzte Perspektive. Alle Handlungen sind auf eine Begrenzung der Abwanderung ausgerichtet. POLITIK Energiepreise Internationales Verkehrswesen (66) 3 | 2014 32 Gebiete mit guter oder ausbaufähiger ÖV- Anbindung konzentrierten ihren Finanzmitteleinsatz auf eine weitere Verbesserung der Angebotssituation, auch über den Ausbau von Rad-Abstellstationen und die Förderung von Zubringerdiensten. Gerade in den Oberzentren sowie den auf Hamburg zugerichteten Siedlungsachsen besteht die Sorge vor einer Überhitzung des Wohnungsmarktes. Abhilfe soll eine weitere Innenwicklung schafen. Interessanterweise wurden von den Planspielteilnehmern keine Forderungen nach Veränderung der Pendlerpauschale oder Senkung von Energiesteuern formuliert. Es war ein großes Bewusstsein dafür vorhanden, dass ein Umgang mit dem Thema höhere Energiekosten zum großen Teil ein Handeln vor Ort erfordert. Wirkungen der Maßnahmen Aufgrund von Wechselwirkungen zwischen den einzelnen Maßnahmen ist keine direkte Zuordnung von Efekten möglich. In der Summe zeigte sich jedoch, dass die entwickelten Maßnahmen lediglich in der Lage sind, den entstandenen Handlungsdruck abzufedern, nicht aber den vorhergesagten Trend umzukehren. Die deutliche Steigerung der ÖV-Fahrleistung in Hamburg sowie auf den Siedlungsachsen bei gleichzeitiger Reduktion der Fahrleistung im MIV, führt zu relativ konstanten Verkehrskosten und ist direkt den entwickelten Maßnahmen zuzuordnen. Überdies zeigte sich, dass im ländlichen Raum, der bei Verkehrskostensteigerungen als Problemgebiet angesehen werden könnte, höhere inanzielle Aufwendungen für die Raumüberwindungen durch niedrigere Wohnkosten kompensiert werden können. Größere Abwanderungen sind gleichwohl nicht zu stoppen. Die Modellergebnisse deuten außerdem darauf hin, dass in Mittelzentren eine begrenzte Positiventwicklung zu erwarten ist. Ein koordiniertes und abgestimmtes Vorgehen zwischen den einzelnen Gebietskörperschaften muss dringend angemahnt werden, da gerade kleinere Gemeinden und Städte nicht über den nötigen inanziellen Rahmen verfügen, um dem entstehenden Handlungsdruck allein zu begegnen. Fazit Die mit Planungsentscheidungen vertrauten Praxispartner konnten auf ein umfangreiches Sortiment vorbeugender und reaktiver Handlungsansätze zurückgreifen. Nicht alle dieser Maßnahmen sind jedoch geeignet, dem entstehenden Handlungsdruck in qualiizierter Weise zu begegnen. Konkurrierende Maßnahmen bergen die Gefahr der Fehlallokation öfentlicher Gelder. Auch zeigte sich die Unterschiedlichkeit der Betrofenheit zwischen städtischen und ländlichen Gebieten. Wohnstandortwechsel und Neustrukturierungen innerhalb der persönlichen Verkehrsnachfrage führen zu einer großlächigen Nachfrageverschiebung im Raum. Nur mit erheblichen Anstrengungen wird dieser Strukturumbau zu schafen sein. Dabei dürfen Eizienzsteigerungen bestehender öfentlicher Infrastrukturen nicht außer Acht gelassen werden, um zumindest einen Teil der ländlichen Versorgung zu konservieren. Nur unter Zuhilfenahme „pessimistischer“ Energiepreisszenarios können die nötigen Handlungsroutinen entwickeln werden, um den skizzierten Anforderungen zu begegnen. ■ Der Beitrag basiert auf Ergebnissen des Projektes €LAN Energiepreisentwicklung und Landnutzung (Projektpartner u. a.: Institut für Finanzwissenschaften an der Universität Köln, Institut für Raumordnung und Entwicklungsplanung Universität Stuttgart). Dieses Vorhaben wurde mit Mitteln des Bundesministeriums für Bildung und Forschung unter dem Förderkennzeichen 033L016A gefördert. Die Verantwortung für den Inhalt dieser Veröfentlichung liegt bei den Autoren. LITERATURVERZEICHNIS [1] DIW, Deutsches Institut für Wirtschaftsforschung (2011): Verkehr in Zahlen 2010/ 2011. Berlin. [2] Intraplan Consult GmbH (Hrsg.), BVU Beratergruppe, Ingenieurgruppe IIV GmbH & Co KG und Planco Consulting GmbH (2014): Verlechtungsprognose 2030. München. [3] IEA, International Energy Agency (2011): World Energy Outlook 2011. Paris. [4] BFE, Bundesamt für Energie der Schweizerischen Eidgenossenschaft (2007): Die Energieperspektiven 2035 - Exkurse. Bern. [5] Gordon, Deborah (2012): Understanding Unconventional Oil, In: Carnegie Endowment For International Peace (Hrsg.): The Carnegie Papers. Washington, D.C. [6] PWC, PricewaterhouseCoopers LLP (2013): Shale oil: the next energy revolution. London. [7] EIA, U.S. Energy Information Administration (2013): Annual Energy Outlook 2013: with Projections to 2040. Washington, D.C. [8] BGR, Bundesanstalt für Geowissenschaften und Rohstofe (2013): Energiestudie 2013. Reserven, Ressourcen und Verfügbarkeit von Rohstofen (17). Hannover. [9] ifmo, Institut für Mobilitätsforschung (2010): Zukunft der Mobilität. Szenarien für das Jahr 2030 - Zweite Fortschreibung. München. [10] Hautzinger et al. (2004): Analyse von Änderungen des Mobilitätsverhaltens - insbesondere der PKW-Fahrleistung - als Reaktion auf geänderte Kraftstofpreise. Heilbronn. [11] Wegener, Michael; Wegener, Peter (2007): Urban Land Use, Transport and Environment Models. In: disP, 2007 (3), S. 45-65. [12] Fatmi, Mahmudur; Habib, Muhammad; Salloum, Stephanie (2014): Investigation of Household´s Short-term and Long-term Responses to the Increase in Gasoline Price. 2014 World Symposium on Transport and Land Use Research, 24.-27 Juni 2014, Delft (Niederlande). Sven Altenburg, Dipl.-Geogr. Wiss.-Mitarbeiter, Institut für Verkehrsplanung und Logistik, Technischen Universität Hamburg- Harburg; seit 01.08. bei der Prognos AG, Berlin sven.altenburg@prognos.com Marcus Peter, M.Sc. Wiss.-Mitarbeiter, Institut für Verkehrsplanung und Logistik, Technische Universität Hamburg- Harburg, Hamburg marcus.peter@tuhh.de Kategorie Maßnahmen Mobilitätskosten senken Innenentwicklung, Stadt der kurzen Wege Wohnraumentwicklung als Innenentwicklung und Verdichtung Stärkung zentraler Orte Verschiedene Nahversorgungskonzepte Mobilitätsberatung Pendlerparkplätze Anrufsammeltaxis Ausbau ÖPNV Ausbau Elektromobilität Mobilitätsmanagement E-Everything Energiekosten senken Energetische Gebäudesanierung (privat + öfentlich) Verhaltensschulungen und Energieberatung Kompensierende Maßnahmen Breitbandversorgung Ärztliche Versorgung auf dem Land Bessere Seniorenbetreuung Konkurrierende Maßnahmen Ausweisung neuer Wohngebiete Ausweisung neuer Gewerbegebiete Ausbau Kinderbetreuung Schafung attraktiver Wohnlagen Tabelle 2: Maßnahmen aus dem Planspiel Quelle: Eigene Darstellung Internationales Verkehrswesen (66) 3 | 2014 33 Z u Beginn der neuen Legislaturperiode in der EU hat sich ein Klassiker auf die EU-Bühne zurückgeschlichen: die Kabotage. Nein, es gibt keine neue Inszenierung des amtierenden Regisseurs Siim Kallas, dessen Vertrag im Brüsseler Haus Ende Oktober ausläuft. Es ist vielmehr so, dass einzelne Mitglieder des EU- Ensembles sich bereits vor der Sommerpause im Werkstatt-Theater an neuen Interpretationen des klassischen Stofs versuchten, in dessen Zentrum der Konlikt zwischen der garantierten Freiheit des Binnenmarktes und dem notwendigen Schutz von Arbeitern und Unternehmern im Transportgewerbe steht. Vor ziemlich genau einem Jahr hat Kallas eine groß angekündigte Inszenierung kurzerhand vom Spielplan abgesetzt. Zu groß war der angekündigte Widerstand im Europäischen Parlament (EP) und bei einem großen Teil der EU- Verkehrsminister gegen eine Liberalisierung des Gütertransports auf der Straße. Die Ressortchefs wollten erst einmal den Bericht über die „Lage auf dem Straßengüterverkehrsmarkt in der Union“ lesen, den Kallas ihnen noch schuldig war. Als der das Script im Frühjahr mit deutlicher Verspätung präsentierte, machte er allen klar, dass ihm Beschränkungen der Kabotage nach wie vor ein Dorn im Auge sind. Das rief andere Autoren auf die Bühne: Der französische Verkehrs-Staatssekretär Frédéric Cuivillier führt derzeit den Kampf gegen eine Liberalisierung der Kabotageregeln an. Er präsentierte eine Erklärung, mit denen seine - westeuropäischen - Ministerkollegen weitgehend einverstanden sind. Die nord- und südosteuropäischen nicht. Letztere pochen - völlig zu Recht - auf die Freiheiten des Binnenmarktes, die Unternehmen in ihren Ländern durch einige „archaische Beschränkungen“ verwehrt würden. Darin sehen sie eine gegen das EU-Recht verstoßende Diskriminierung. Hinzu kommt: Die geltenden Vorschriften sorgen für unproduktive Leerfahrten, die hohe gesellschaftliche Kosten verursachen. Das ist auch die Auffassung von Kallas, die er in der letzten Sitzung des EP-Verkehrsausschusses vor der Sommerpause noch einmal klar zum Ausdruck brachte. Dem steht die Argumentation der „alten“ EU-Staaten („EU-12“) gegenüber. Sie verweisen auf das zwischen den Unionsstaaten bestehende Gefälle bei den Sozial- und Steuergesetzen, auf die fehlende Umsetzung der seit 2009 geltenden Kabotage-Vorschriften in einigen EU-Ländern und auf die völlig unterschiedliche Sanktionierung von Verstößen gegen das existierende Recht. Darin sehen die Regierungen dieser Staaten die Haupt-Hindernisse für einen fairen Wettbewerb im Straßengüterverkehr. Das Dilemma zwischen der Freiheit des Binnenmarktes und den sozialpolitischen Diskrepanzen scheint unlösbar. Denn es verweist auf einen zentralen Webfehler in der EU: Der angestrebten unionsweiten Liberalisierung auf vielen-Feldern steht keine Angleichung der Sozialgesetzgebung in den Mitgliedstaaten gegenüber. Wenn es um grundsätzliche Webfehler geht, an denen die Politik scheitert, könnte man Hofnung auf Wissenschaft und Think-Tanks setzen, die gewöhnlich Brüsseler Debatten bereichern. Zum Thema Kabotage hat das kürzlich das Centrum für Europäische Politik (cep) getan. Wer von dessen „Analyse“ allerdings einen sinnvollen Beitrag erwartet hat, sieht sich schwer enttäuscht. Die marktliberalen Experten aus Freiburg machen es sich lächerlich einfach: Für sie gibt es kein ordnungspolitisches Argument für Beschränkungen. Deren Lockerung senke deswegen die Preise für Straßengütertransporte. Fehlende Harmonisierung des Sozial- und Arbeitsrechts innerhalb der Mitgliedstaaten der Union (kein gleicher Lohn für gleiche Arbeit)? Das ist für die Freiburger Autoren kein Problem. Denn der nach dem Ende aller Beschränkungen eizientere Straßenverkehr wirke sich tendenziell positiv auf Wachstum und Beschäftigung aus. Punkt. Mehr meinen die Marktgläubigen nicht sagen zu müssen zu dem Thema, das Transportwirtschaft und Politik in den westlichen EU-Staaten umtreibt. Der Markt wird es schon richten. Das ist skandalös wenig. So deutet nichts drauf hin, dass die Proben auf den diversen Werkstatt-Bühnen sinnvolle Impulse für eine weiterführende Neuinterpretation des Kabotage-Dramas liefern könnten. Auch ihnen fehlt die Dramaturgie, die den Kernkonlikt zwischen Freiheit im Binnenmarkt und fehlender sozial- und arbeitspolitischer Harmonie in der EU lösen könnte. Das ist bedauerlich. Vorhang! ■ Werner Balsen EU-Korrespondent der DVZ Deutsche Verkehrs-Zeitung B E R I C H T A U S B R Ü S S E L VON WERNER BALSEN Der Vorhang fällt - und alle Fragen ofen Internationales Verkehrswesen (66) 3 | 2014 34 INFRASTRUKTUR Stadtplanung „Straße als Lebensraum begreifen“ Was macht Städte attraktiv und lebenswert? Kann es die ideale Stadt geben, wie sie seit Jahrhunderten immer wieder gefordert wird? Und wie lässt sich in bestehenden Stadtstrukturen und bei wachsenden Einwohnerzahlen das zunehmende Bedürfnis nach Mobilität umsetzen? Ein Gespräch mit dem Frankfurter Architekten und Stadtplaner Albert Speer über mögliche Lösungen - und wie sich Städte auf die anstehenden Veränderungen einstellen können. Herr Professor Speer, zunehmend stehen Städte vor großen Herausforderungen: Einwohnerzahlen wachsen dramatisch an, Verkehrsprobleme und Umweltbelastungen nehmen deutlich zu. Müssen Städte künftig von Grund auf neu gedacht, neu konzipiert werden, damit sie überhaupt noch lebenswert sind? Ich glaube nicht, dass wir die Stadt grundsätzlich neu erinden müssen, aber wir müssen die Strukturen an sich wandelnde Situationen und Gesellschaften anpassen. Es gehörte zum Zeitgeist der Wirtschaftswunder-Jahre, dass man die Suburbanisierung gefördert und Trabantenstädte vor die Stadt auf die grüne Wiese gebaut hat. Im Deutschland der 70er oder 80er Jahre wollte dann kaum noch jemand in der Innenstadt leben. So wurde aus der gewachsenen Stadt der kurzen Wege die Stadt der langen Wege. Eine Verödung der Innenstädte war die Folge, ein Trend, der sich jetzt gerade wieder umkehrt. Denn mittlerweile ist klar, dass die Zersiedlung im Umland ihren Preis hat - und damit meine ich nicht nur das durch die Pendlerpauschale subventionierte Häuschen im Grünen. Wir brauchen lebendige Innenstädte, in denen Wohnen, Arbeiten und Einkaufen wieder nebeneinander stattinden. Ist es im Bestand überhaupt machbar, flexibel auf Wachstum oder Schwund der Bevölkerung zu reagieren - oder auf eine zunehmend alternde Gesellschaft? Städte ändern ohnehin ständig ihr Gesicht, das lässt sich gar nicht auhalten. Als Stadtplaner können wir dabei steuernd eingreifen. Ein Beispiel: Viele ältere Menschen ziehen auch deshalb wieder in die Stadt, damit sie ihre Besorgungen fußläuig im kleinen Radius erledigen können. Der Bäcker ist gleich um die Ecke, das Kino, der Arzt. Eine unkomplizierte Nahmobilität ohne große Hürden ist für eine lebenswerte Stadt zwingend notwendig. Brauchen wir also eine andere Sichtweise auf Stadtgestaltung und Verkehrsplanung? Allerdings. Bisher erstellte man Verkehrsgutachten nach folgenden Prioritäten: Das erste Kapitel behandelte den Motorisierten Individualverkehr, das zweite Kapitel den Öfentlichen Verkehr, das dritte den Radverkehr und erst das vierte Kapitel den Fußgängerverkehr. Das Auto steht heute aber nicht länger im Zentrum der Betrachtungen. Deutlich wird der Paradigmenwechsel bei London Transport. Hier stellt man die Reihenfolge erstmals auf den Kopf: Gleich das erste Kapitel muss sich mit dem Fußgängerverkehr befassen. Das heißt ja nicht zwangsläuig, dass in dem Gutachten insgesamt etwas anderes drin steht. Wenn ich aber als Verkehrsingenieur zuerst über den Fußgängerverkehr nachdenke, gehe ich anders an die Planung heran. Vor kurzem habe ich diese Idee unseren Planungspartnern in Riad vorgestellt - die waren begeistert. Und auch hier in Deutschland ist das Konzept sicher sinnvoll. Was bedeutet das konkret für die Verkehrsplanung? Wenn wir bisher eine Straße geplant haben, dann gewissermaßen von innen nach außen: Wir gehen davon aus, wie viele Autos pro Stunde da fahren sollen, und dimensionieren sie danach, entweder eine Spur pro Fahrtrichtung, zwei Spuren oder mehr. Was übrig bleibt, verteilen wir auf Parkplätze, Radwege und Gehwege - von innen nach außen. Begreifen wir die Stadt aber als Lebensraum, müssen wir die Straße von außen nach innen denken, also bei der sogenannten Randnutzung beginnen. Wie viel Platz brauchen Cafés für Tische, Läden- für Warenauslagen? Welchen Raum brauchen Fußgänger und Radfahrer? Wo-bringen wir Bushaltestellen, Tram- oder U-Bahn-Zugänge unter? Erst wenn all das seinen Platz hat, geben wir den Rest dem Auto. Sie sind als Stadtplaner weltweit gefragt. Worin unterscheiden sich Planungsprozesse in den verschiedenen Metropolen der Erde. Lassen sich europäische Konzepte mit denen Asiens oder Afrikas vergleichen? Da gibt es große Unterschiede, hauptsächlich auch abhängig von den politischen Gegebenheiten. Chinesische Mega-Städte etwa wuchern ringförmig von innen nach außen, weil immer mehr Landbevölkerung in die Metropolen drängt. Hinter diesem ausufernden Wachstum stehen aber die Organisationsstrukturen einer zentralistischen, über Jahre beständigen Regierung. Das Geld ist da, um Veränderungen wirklich anzupacken, gerade beim öfentlichen Verkehr. Shanghai zum Beispiel lässt sich beim öfentlichen Nahverkehr mittlerweile mit Paris und London vergleichen, das konnte ich über lange Zeit beobachten. In nur zwei Jahrzehnten wurde hier ein U-Bahn-Netz mit heute 13 Linien aufgebaut. Von den Menschen wurde die Metro ganz schnell angenommen. Denn sie ist billig und funktioniert und entlastet die Innenstadt vom Straßenverkehr. Die neu entstehenden monofunktionalen Wohnstrukturen in den Außenzonen mit schier endlosen Reihen von Hochhäusern sind natürlich weniger ideal, es sind Trabantenstädte wie früher im Kleinen auch in Deutschland, ohne eigene Identität. Und oftmals ohne funktionierende Infrastruktur? Leider, und genau das erzeugt zusätzlichen Verkehr, aus diesen reinen Wohnsiedlungen heraus in die Innenstädte oder zu anderen Orten, an denen dann Versorgung stattindet. In Ägypten und anderen afrikanischen Ländern zum Beispiel lässt sich so etwas schwer in den Grif bekommen, weil das Wachstum meist informell passiert, weil sich Leute ohne planerisches Zutun einfach ansiedeln. In China wächst das weitgehend organisiert, mit groß angelegten Planungen, Internationales Verkehrswesen (66) 3 | 2014 35 Stadtplanung INFRASTRUKTUR Albert Speer jun. studierte Architektur an der TU München und gründete 1964 ein Büro für Stadt- und Regionalplanung in Frankfurt am Main; 1984 folgte zusammen mit Kollegen das Büro AS&P - Albert Speer & Partner, das aktuell 160 Mitarbeiter beschäftigt. Ein Büro in Shanghai wurde 2001 eröfnet. Seit 1970 ist Speer Mitglied der Deutschen Akademie für Städtebau und Landesplanung. Die Technische Universität Kaiserslautern berief ihn 1972 an den Lehrstuhl für Stadt- und Regionalplanung, wo er den Studiengang Raum- und Umweltplanung mit aufbaute. Als Gastprofessor an der ETH Zürich war er von 1994 bis 1997 tätig. ZUR PERSON und man kann mithilfe der vorhandenen administrativen Strukturen auch einiges umsteuern. Um Fehlentwicklungen zu korrigieren? Durchaus. Bei Projekten unseres Büros in Shanghai stellen wir fest, dass die Idee der dezentralen Konzentration - also kompakte Siedlungen rund um zentrale Städte, viel Grün dazwischen plus die passenden Mobilitätsstrukturen - in China zunehmend als zukunftsfähig erkannt wird. Seit einigen Jahren entwickeln wir beispielsweise in der nordostchinesischen Industriestadt Changchun eine neue Wohn- und Geschäftsstadt nach ökologischen Gesichtspunkten. Dort geht es um nachhaltige Nutzungsvielfalt, ein integriertes Konzept mit grünen Achsen, Parks und Plätzen für eine halbe Million Einwohner und einer öfentlichen Verkehrsinfrastruktur mit Metronetz, Fahrrad- und Fußwegen. Das lässt sich mit dem Schlagwort Transit Oriented Development belegen - die Stadt wird entlang von ÖPNV- Achsen entwickelt. Das klingt, als brauche man für so groß angelegte und visionäre Bauvorhaben staatliche Strukturen wie in China ... ... nicht unbedingt. Auch in Kairo gibt es seit Jahrzehnten die sehr gute Idee, Entlastungsstädte rund um die Kernstadt zu errichten und durch leistungsfähige ÖPNV- Achsen zu erschließen. Im Jahr 1979 wurde direkt an der Grenze zur Wüste, westlich der Pyramiden die Satellitenstadt Madinat as-Sadis min Uktubar für vier Millionen Einwohner gegründet, benannt nach einer Militäraktion im Jom-Kippur-Krieg. Im Rahmen eines Masterplans haben wir auf eine gesunde Mischung gedrungen: nicht nur Wohnbauten, auch Industrie und Gewerbe, Verwaltung, Universität und Schulen sollten angesiedelt werden. Weil sich nur mit einer funktionierenden Infrastruktur verhindern lässt, dass die Menschen weiter nach Kairo pendeln und das Verkehrschaos dort noch verschlimmern. Leider fehlt hier oft das Geld für die konsequente Umsetzung, die ÖPNV- und Straßenverbindungen sind noch längst nicht so weit, wie sie sein sollten. Ist es in den reichen Golf-Staaten einfacher, Verkehrsprojekte im überschaubaren Zeitrahmen durchzuführen - beispielsweise in Riad? Riad ist die autogerechte Stadt schlechthin, schachbrettartig angelegt mit rechtwinkligen Straßenzügen. Vor 20 Jahren gab es in Riad praktisch keinen öfentlichen Nahverkehr. Jetzt wird in die bestehende Stadt ein komplett neues ÖPNV-Netz eingebaut. Innerhalb weniger Jahre entsteht ein 178 Kilometer langes Metronetz mit dazugehörigen Buslinien unterschiedlicher Bedeutungen, also mit Zubringer- und Quartierbussen. Das hört sich einfacher an, als es ist, als Planer haben wir da einige Aufgaben zu lösen: Wo soll auf den sechs oder acht Fahrspuren breiten Straßen ein Linienbus fahren? Wo bringe ich Bushaltestellen an - und wie können die Leute dort hinkommen? Also wird trotz des Ölreichtums auf der arabischen Halbinsel auch Nachhaltigkeit immer mehr zum Thema? Natürlich wächst in Arabien das Bewusstsein, dass fossile Ressourcen endlich sein können. Statt Öl und Gas wird zunehmend Solarenergie genutzt, da indet schon ein Umdenken statt. Auch im Bereich der Verkehrsentwicklung: Dubai hat schon eine Metro, Riad baut eine, auch Katar setzt auf Eisenbahnen und Metros. Im Emirat Abu Dhabi entsteht ja mit Masdar der Prototyp einer nachhaltigen Stadt, wo Themen wie Versorgung durch erneuerbare Energien, CO 2 - Neutralität und Verzicht aufs Auto durchdekliniert werden. Kann Masdar Vorbild für innovative Stadtplanungen sein? Nun ja, selten hat man als Planer die Chance, eine komplett neue Stadt aufzubauen. Meistens geht es darum, wie wir mit bestehenden Siedlungen umgehen, wie wir sie sinnvoll umbauen können - und da liegen die Herausforderungen in Kairo oder Frankfurt natürlich ganz anders. Masdar lässt sich deshalb nicht einfach auf bestehende Städte übertragen. Ich sehe das eher als nützlichen Praxistest, als Modelllabor für eine Stadt der Zukunft. Man kann viel dabei lernen. ■ Das Gespräch führte Eberhard Buhl. 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