Internationales Verkehrswesen
iv
0020-9511
expert verlag Tübingen
10.24053/IV-2014-0087
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2014
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What Cities Want
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2014
Roland Priester
Montserrat Miramontes
Gebhard Wulfhorst
Mit der weltweit rapide ansteigenden Urbanisierung stehen immer mehr Städte steigendem Verkehrsaufkommen und den negativen Folgen für Umwelt und Gesellschaft gegenüber. Eine Studie der Technischen Universität München betrachtet die Hintergründe der Entwicklung aus Sicht eines Gesamtsystems und zeigt auf, wie 15 internationale Städte auf die Herausforderungen reagieren.
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Internationales Verkehrswesen (66) 3 | 2014 71 Stadtentwicklung Mobilität What Cities Want Systemanalyse und Expertenbefragung zur Mobilität in-Städten weltweit Mit der weltweit rapide ansteigenden Urbanisierung stehen immer mehr Städte steigendem Verkehrsaufkommen und den negativen Folgen für Umwelt und Gesellschaft gegenüber. Eine Studie der Technischen Universität München betrachtet die Hintergründe der Entwicklung aus Sicht eines Gesamtsystems und zeigt auf, wie 15 internationale Städte auf die Herausforderungen reagieren. Die Autoren: Roland Priester, Montserrat Miramontes, Gebhard Wulfhorst H eute leben weltweit erstmals mehr Menschen in Städten als- in ländlichen Gebieten. Im- Jahr 2030 sind es Prognosen der Vereinten Nationen zufolge bereits 60 %, und 2050 werden sogar mehr als zwei Drittel der Menschheit in Städten leben [1]. Mit der Urbanisierung steigen die Mobilitätserfordernisse der Bevölkerung und damit das Verkehrsaukommen. Viele Städte kämpfen in der Folge mit immer höheren Lärm- und Luftschadstofemissionen, Staus und zunehmender Flächenbeanspruchung durch den Motorisierten Individualverkehr. Auf globaler Ebene kommt es zu einem steigenden Energie- und Ressourcenverbrauch sowie für den Klimawandel kritischen CO 2 - Emissionen. Vor diesem Hintergrund ging das Fachgebiet für Siedlungsstruktur und Verkehrsplanung der Technischen Universität München im Rahmen des Forschungsvorhabens „What Cities Want“ im Auftrag von MAN SE der Frage nach, mit welchen Strategien Städte die Mobilität in Zukunft gestalten wollen und welchen Herausforderungen sie sich dazu stellen müssen. Methodisches Vorgehen Für die Bearbeitung der Studie wurde eine Kombination unterschiedlicher Methoden gewählt. In einem ersten Schritt wurde ein holistisches Systemmodell nach der Methode des Sensitivitätsmodells von Frederic Vester [2] aufgebaut, um die komplexen Abhängigkeiten und Wechselwirkungen im System der „Mobilität in Städten“ beschreiben und erklären zu können. Vor allem diente das Systemmodell auch der Generierung von Forschungsfragen für die anschließende empirische Phase der Studie. Diese zweite Phase bestand aus einer Fallstudienanalyse internationaler Städte und hatte deren aktive Beteiligung zum Ziel. Auf Basis des Systemmodells wurde für den empirischen Teil der Studie ein Fragebogen entwickelt, der nach den Strategien, Treibern und Hindernissen für die städtische Verkehrs- und Stadtplanung fragt. Die 15 für die Befragung ausgewählten Städte Ahmedabad, Beirut, Bogotá, Johannesburg, Istanbul, Kopenhagen, London, Los Angeles, Lyon, Melbourne, München, Sankt Petersburg, S-o Paulo, Shanghai und Singapur stehen für ein breites Spektrum hinsichtlich Größe, Wachstumsrate, Einwohnerdichte, Verkehrssystem sowie ihrer wirtschaftlichen Entwicklung. Für die Befragung wurden die Leiter der Stadt- und Verkehrsplanungsbehörden kontaktiert. Diese hochrangigen Experten wurden im Anschluss an die schriftliche Befragung zu einem zweitägigen Workshop in München eingeladen. In einem bereichernden Austausch wurden die jeweils unterschiedliche Ausgangslage und die Gemeinsamkeiten in den grundsätzlichen Zusammenhängen und Zukunftsstrategien deutlich. Die Ergebnisse für die einzelnen Städte und die in einem „generischen Code“ erkannten übertragbaren Empfehlungen sind in einer umfassenden Broschüre dokumentiert [3]. Das Systemmodell Städte sind komplexe, dynamische Systeme, die sich kontinuierlich weiterentwickeln, sich aber auch abrupt verändern, sich manchmal in Teilen komplett neu erinden und gleichzeitig ein hohes Maß an Stabilität besitzen, genauso wie die Fähigkeit zur Selbstorganisation und zur Anpassung an sich wandelnde Rahmenbedingungen. Die erfolgreiche Entwicklung und Umsetzung zukunftsfähiger Strategien für die Mobilität in Städten ist nur möglich, wenn man die vielfältigen Wirkungszusammenhänge im System Stadt erkennt und beachtet. Deshalb sind in dieser Studie die Einlussgrößen auf das Mobilitätssystem der Städte als Variab- Aktive Variablen Kritische Variablen Pufernde Variablen Reaktive Variablen Dichte ÖPNV-Infrastruktur Bevölkerungsstruktur Gesetzeslage Stau ÖPNV-Angebotsqualität Lokale Wirtschaft Soziale Gerechtigkeit Straßeninfrastruktur Städtische Politik Wegedauer Bodenpreise Verkehrssicherheit PKW-Besitz Umweltbelastung Energieverbrauch Rad-/ Fußwege Verwaltung Kommunaler Haushalt Image der Stadt Stadt-Umland- Beziehungen Verkehrsanteil MIV Verkehrsanteil ÖPNV Verkehrsanteil Radfahrer/ Fußgänger Nachhaltiges Mobilitätsverhalten Mobilitätskosten Intermodalität Innovative Mobilitätsdienste Neue Technologien Tabelle 1: Die Variablen urbaner Mobilität und ihre Rolle im Gesamtsystem Internationales Verkehrswesen (66) 3 | 2014 72 MOBILITÄT Stadtentwicklung len dargestellt und in ihren komplexen Wechselwirkungen untersucht worden. Mit Hilfe des Ansatzes der Systemanalyse ließen sich 29 Variablen identiizierten, die die grundlegenden Zusammenhänge im System „Mobilität in Städten“ umfassend beschreiben (Tabelle 1). Weiterhin lieferte die Methode für das tiefergehende Verständnis wertvolle Informationen über den jeweiligen Charakter dieser Variablen und über ihre Wirkungsbeziehungen zueinander im Gesamtsystem. Aktive Variablen sind die wesentlichen Steuerungsgrößen eines Systems, die eine wichtige Bedeutung als Auslöser von Veränderungsprozessen haben. Kritische Variablen bezeichnen hingegen Systemelemente, die von zahlreichen Einlussfaktoren abhängen und gleichzeitig viele Folgewirkungen haben. Pufernde Variablen sorgen für eine Dämpfung der Entwicklungsdynamik einer Stadt und spielen mit Blick auf die Steuerungs- und Regelungsvorgänge des Gesamtsystems eine sehr wichtige Rolle, während sich reaktive Variablen als Erfolgskriterien der Veränderung anbieten. Werden nun über die direkten Wirkungen zwischen zwei Variablen hinaus die Wirkungsketten von mehreren Variablen abgebildet, erhält man das Wirkungsgefüge des zu untersuchenden Systems. Das Wirkungsgefüge für das im Rahmen dieser Studie bearbeitete Systemmodell „Mobilität in Städten“ ist in Bild 1 dargestellt. Die Farbgebung spiegelt die jeweilige Rolle der Variablen wider. Zu erkennen sind die 29 Systemvariablen sowie die Wirkungsbeziehungen zwischen diesen. Durchgezogene Pfeile stehen für gleichsinnige Wirkungen, gestrichelte Pfeile für gegensinnige Wirkungen. Fast alle Variablen sind in Wirkungsketten von mehreren Variablen, so genannte Regelkreise, eingebunden. Aus einer Vielzahl der Regelkreise wurden drei identiiziert, die für die Entwicklung der Städte und ihres Mobilitätsystems von besonderer Bedeutung sind: • „Wirtschaftliche Entwicklung und Urbanisierung“ • „Umweltbelastung und Klimawandel“ sowie • „Implementierung von Strategien“ Perspektiven für die Verkehrs- und Stadtentwicklung Diese Regelkreise haben sich auch in den Analysen der einzelnen Fallbeispiele und der gemeinsamen Diskussion der Ergebnisse als zentrale Ansatzpunkte zur Entwicklung von zukunftsfähigen Strategien herauskristallisiert. Im Folgenden werden sie in dieser Hinsicht näher erläutert. Wirtschaftliche Entwicklung und Urbanisierung Im Regelkreis „Wirtschaftliche Entwicklung und Urbanisierung“ (Bild 2) ist ausgehend von der Funktion der Stadt als Standort von Unternehmen und Arbeitsplätzen ein anhaltender Bevölkerungszuwachs zu beobachten. Außerdem sorgt die Teilhabe am lokalen Produktionsprozess für größeren individuellen Wohlstand, der wiederum den PKW-Erwerb und eine vielfach rasant steigende Motorisierung ermöglicht. Daran ist in einer ersten Phase, ohne Intervention Bild 1: Wirkungsgefüge des Systems „Mobilität in Städten“ Bild 2: Regelkreis „Wirtschaftliche Entwicklung und Urbanisierung“ Bild 3: Strategische Prioritäten für die Stadtentwicklung Internationales Verkehrswesen (66) 3 | 2014 73 Stadtentwicklung MOBILITÄT von außen, auch ein höheres KFZ-Verkehrsaukommen gekoppelt. Die zunehmende Verkehrsbelastung beeinträchtigt die Wohn- und Aufenthaltsqualität in der Stadt, so dass es die Suburbanisierung mit immer weiträumigeren, regionalen Verlechtungen verstärkt wird. Dadurch steigen die Verkehrsmengen weiter an und die Straßeninfrastruktur stößt an ihre Kapazitätsgrenzen. Die Folge sind Verkehrsstaus, die sich schließlich negativ auf die Attraktivität und die lokale Wirtschaft einer Stadt niederschlagen können. Diese Stausituation ist oft ein symptomatischer Auslöser für Strategien und Maßnahmen im Verkehrsbereich. Im Bereich der Siedlungsentwicklung steht nach der Befragung der 15 Untersuchungsstädte aus diesem Grund das Ziel einer kompakten Stadtentwicklung ganz oben auf der Agenda der strategischen Prioritäten (Bild 3). Globaler Klimawandel und lokale Umweltbelastungen Der zweite Regelkreis skizziert die Wirkung von globalen Klimagasemissionen einerseits und lokalen Umweltbelastungen andererseits auf die Motivation der Städte, Strategien für nachhaltige Mobilität zu implementieren (Bild 4). Er liefert auch ein Erklärungsmuster dafür, weshalb für die meisten Städte im Rahmen der Befragung von den lokalen Umwelteinwirkungen ein stärkerer Einluss auf die lokale Verkehrsplanung ausgeht (7 in Bild 5) als vom Klimawandel (3-in Bild 5). Verkehrslärm und Luftverschmutzung werden in den Städten unmittelbar als Beeinträchtigung der Lebensqualität wahrgenommen. Der Druck auf die städtische Politik, Strategien zur Problemlösung zu ergreifen, ist stark. Der Klimawandel hingegen äußert sich in einem langfristigen Prozess, so dass Folgen für die lokale Lebensqualität in der Mehrzahl der Städte heute noch nicht wahrgenommen werden und somit der Einluss auf die lokale Verkehrsplanung geringer ausfällt (Bild 5). Mehrheitlich wird daher das Thema Klimawandel über gesetzliche Normen und Richtlinien der nationalen Regierungen wie etwa CO 2 -Emissionsgrenzwerte in die Städte transportiert, die ihrerseits aufgefordert werden, Strategien zu erarbeiten oder bestimmte Maßnahmen umzusetzen. Der Regelkreis zeigt aber auch eine dritte Wirkungsbeziehung ausgehend von der Variable Klimawandel auf die Mobilitätsstrategien der Städte ab. Dies ist in der Realität der Fall, wenn Städte sich selbst verplichten, über die staatliche Vorgaben hinaus, eigens gesteckte Ziele hinsichtlich der CO 2 -Reduktion zur erfüllen. Ein solch ehr- Bild 4: Regelkreis „Umweltbelastung und Klimawandel“ Bild 5: Bedeutung unterschiedlicher Einflussfaktoren auf die Verkehrsplanung Bild 6: Bisherige und zukünftige Vorhaben im Verkehrsangebot Internationales Verkehrswesen (66) 3 | 2014 74 MOBILITÄT Stadtentwicklung geiziges Beispiel ist die dänische Hauptstadt Kopenhagen, die an ihrem Ziel bis 2025 CO 2 -neutral zu sein festhält, auch wenn etwa nicht alle Maßnahmen von der nationalen Regierung unterstützt werden. Im Rahmen der Städte-Befragung wurde auch konkret danach gefragt, auf welche speziischen Konzepte die Städte setzen, um die KFZ-Fahrleistung bzw. den Verbrauch fossiler Energie zukünftig zu reduzieren. Im Ergebnis zeigt sich, dass die mit Abstand größte Bedeutung dem Ausbau alternativer Verkehrsträger zukommt. So sind in der Mehrzahl der Untersuchungsstädte - nach dem bereits erfolgten Ausbau der Straßeninfrastruktur - aktuell Strategien zur Stärkung der Nahmobilität und die Erweiterung des ÖPNV-Angebots fest eingeplant (Bild 6). Auch der Elektromobilität soll durch den Aubau einer Ladeinfrastruktur Vorschub geleistet werden. Erfolgreiche Umsetzung von Strategien vor-Ort Der dritte Regelkreis (Bild 7) skizziert eine erfolgreiche Prozessgestaltung zur Umsetzung von Strategien für nachhaltige Mobilität. Dabei zeigt sich als entscheidende Voraussetzung ein politischer Konsens zu langfristig angelegten Zielen der Verkehrsplanung, die von einer funktionsfähigen Verwaltungsebene getragen werden. Die hohe Bedeutung der politischen Steuerung spiegelt sich auch im Ergebnis der Städte- Befragung wider (Bild 5). Die Einzelfallanalyse zeigt mit dem Beispiel von Ahmedabad, dass es vor allem die gut organisierte Planungsbehörde mit ihrer langfristigen Entwicklungsperspektive ist, die die Stadt von anderen Städten Indiens unterscheidet und damit die Grundlage für den Erfolg der Verkehrsstrategie bildet. Neben der politischen Unterstützung und fachlichen Kompetenz muss die Verwaltungsebene ebenso über die notwendigen monetären Mittel verfügen - der wichtigste Einlussfaktor überhaupt auf die lokale Verkehrsplanung im Rahmen der Befragung (Bild 5). Da die städtischen Haushalte zu einem großen Teil aus den lokalen Steuereinnahmen gespeist werden, muss dem Regelkreis entsprechend darauf geachtet werden, dass die verkehrsplanerische Strategie nicht gegen, sondern gemeinsam mit der ansässigen Wirtschaft entwickelt wird. Andererseits ist die Partizipation der Bürger einer Stadt unerlässlich, um einen im Konsens getragenen Prozess mit der notwendigen politischen Unterstützung abzusichern. Erfolgreich umgesetzte Strategien für eine nachhaltige urbane Mobilität können die Attraktivität der Städte und das Vertrauen in die Selbsterhaltungskräfte des Systems Stadt Schritt für Schritt stärken. ■ QUELLEN: [1] United Nations Human Settlements Programme 2008: State of the world‘s cities: Harmonious cities. London: UN-HABITAT [2] Vester, F. 2000: Die Kunst vernetzt zu denken: Ideen und Werkzeuge für einen neuen Umgang mit Komplexität. Stuttgart: Dt. Verl.-Anst. [3] MAN SE (Hrsg.) 2013: What Cities Want - Wie Städte die Mobilität der Zukunft planen. Eine Studie von TU München und MAN. München. Download unter www.sv.bgu.tum.de Montserrat Miramontes, M.Sc. Wissenschaftliche Mitarbeiterin, Fachgebiet für Siedlungsstruktur und Verkehrsplanung, Technische Universität München montserrat.miramontes@tum.de Gebhard Wulfhorst, Prof. Dr.-Ing. Leiter des Fachgebiets für Siedlungsstruktur und Verkehrsplanung, Technische Universität München gebhard.wulfhorst@tum.de Roland Priester, Dipl.-Ing. Wissenschaftlicher Mitarbeiter, Fachgebiet für Siedlungsstruktur und Verkehrsplanung, Technische Universität München roland.priester@tum.de Bild 7: Regelkreis „Implementierung von Strategien“ © Rainer Sturm, pixelio.de IHR KUR ZE R DR AHT ZUM ANZEIGEN -T E AM Silke Härtel Anzeigenleitung Tel.: +49 (40) 23714-227 silke.haertel@dvvmedia.com Tim Feindt Anzeigenverkauf Tel.: +49 (40) 23714-220 tim.feindt@dvvmedia.com Telefax Anzeigen-Team: +49 (40) 23714-236
