eJournals Internationales Verkehrswesen 66/3

Internationales Verkehrswesen
iv
0020-9511
expert verlag Tübingen
10.24053/IV-2014-0089
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2014
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Urbane Mobilität im Umbruch?

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2014
Friedemann Brockmeyer
Sascha Frohwerk
Stefan Weigele
Der vorliegende Artikel basiert auf einer Untersuchung der aktuellen Veränderungen in den urbanen Mobilitätsmärkten am Beispiel der Free-Floating-Carsharingsysteme der civity Management Consultants. Dazu wurden weltweit über einen Zeitraum von einem Jahr rund 115 Mio. Datensätze erfasst und mehrstufig ausgewertet. Mit Hilfe dieses Datensatzes, lassen sich rund 18 Mio. Anmietungen nachbilden. Im Fokus standen die Bewertung der verkehrlichen und ökonomischen Relevanz der Systeme und die Ableitung von Empfehlungen für die Stadt- und Verkehrsplanung, für Mobilitätsdienstleister und Anbieter von Free-Floating-Carsharing.
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Internationales Verkehrswesen (66) 3 | 2014 78 MOBILITÄT Carsharing Urbane Mobilität im Umbruch? Verkehrliche und ökonomische Bedeutung des Free-Floating-Carsharing Der vorliegende Artikel basiert auf einer Untersuchung der aktuellen Veränderungen in den urbanen Mobilitätsmärkten am Beispiel der Free-Floating-Carsharingsysteme der civity Management Consultants. Dazu wurden weltweit über einen Zeitraum von einem Jahr rund 115 Mio. Datensätze erfasst und mehrstufig ausgewertet. Mit Hilfe dieses Datensatzes, lassen sich rund 18 Mio. Anmietungen nachbilden. Im Fokus standen die Bewertung der verkehrlichen und ökonomischen Relevanz der Systeme und die Ableitung von Empfehlungen für die Stadt- und Verkehrsplanung, für Mobilitätsdienstleister und Anbieter von Free-Floating-Carsharing. Die Autoren: Friedemann Brockmeyer, Sascha Frohwerk, Stefan Weigele W eltweit etablieren derzeit Automobilkonzerne sogenannte Free-Floating-Carsharing-Systeme (FFC) in Großstädten. Schicke Kleinwagen können per Smartphone ausgeliehen werden und in- einem deinierten Stadtgebiet überall wieder abgestellt werden. Abgerechnet wird im Minutentakt, Spritgeld und Parkgebühren sind dabei inklusive. Die Free- Floating-Systeme haben das Carsharing aus der Ökoecke befreit und für ein breites, pragmatisches, urbanes Milieu zugänglich gemacht. Angebote wie car2go und DriveNow haben den öfentlichen Verkehr wachgerüttelt und verunsichern die Taxibranche, sie stehen beispielhaft für die Veränderungen im urbanen Mobilitätsmarkt. Verkehrliche Bewertung Wesentliches Element des FFC ist die Möglichkeit der Einwegfahrt (daher auch die Bezeichnung: Oneway-Carsharing). Nach Angaben von car2go sind 90 % aller Fahrten Oneway-Fahrten 1 und nur 10 % Return- Fahrten. Über alle Free-Floating-Fahrten und -Systeme weltweit ergibt sich eine durchschnittliche Reiseweite von 5 km für das FFC. Ein Wert, der deutlich unter den Reiseweiten des motorisierten Individualverkehrs (MIV) liegt und nur leicht über den Reiseweiten, die mit Bus und Straßenbahn zurückgelegt werden. Weit über die Hälfte der Fahrten liegen in Entfernungsbereichen unter 5 km (Bild 1). Unsere Analysen belegen demnach, dass es sich bei Fahrten mit FFC-Fahrzeugen im hohen Maß um motorisierte Nahmobilität handelt. Betrachten wir die werktägliche Nachfrage nach FFC, so können wir folgende Beobachtungen machen: • FFC verfügt über eine wesentlich stärker ausgeprägte Verkehrsspitze als andere Verkehrsträger. • Die stärkste Verkehrsspitze beim FFC ist am Abend und nicht am frühen Vormittag. • Die Verkehrsspitze beim FFC liegt nach der allgemeinen nachmittäglichen Verkehrsspitze am frühen Abend zwischen 18 und 20 Uhr. • Die vergleichsweise gering ausgeprägte Morgenspitze folgt der allgemeinen Verkehrsspitze mit ca. zwei Stunden Verspätung zwischen 8 und 10 Uhr. • Nachts ist der Nachfrageeinbruch nicht ganz so stark ausgeprägt wie im öfentlichen Verkehr. In Kombination mit der Analyse der räumlichen Nutzung lassen sich weitere Rückschlüsse auf die Nutzungsstruktur ziehen: • Die Nachfragespitze beim FFC liegt tendenziell im After-Work- und Freizeitverkehr. • Hier konkurriert FFC mit dem (teureren) Taxiverkehr und mit dem (ausgedünnten) öfentlichen Verkehr. • FFC-Systeme werden weniger von klassischen Berufspendlern genutzt als vielmehr von kreativen Milieus mit lexibleren Arbeitszeiten und einem späteren Arbeitsbeginn. Bild 1: Verteilung der Reiseweiten in Berlin Internationales Verkehrswesen (66) 3 | 2014 79 Carsharing MOBILITÄT Im bundesweiten Durchschnitt wird ein- PKW nur eine- Stunde am Tag bewegt, 23- Stunden dagegen steht er überwiegend im öfentlichen Raum herum. Innerstädtisch liegt dieser Wert zwischen 30 und 45-Minuten aller drei Anbieter hinweg, wird ein Free-Floating-Fahrzeug lediglich rund 39 Minuten am Tag produktiv genutzt. Taxis und Fahrzeuge des öfentlichen Verkehrs schneiden dagegen deutlich besser ab (Bild-2). Für Berlin haben wir für den Zeitraum April 2013 bis März 2014 in Summe ein Nachfragevolumen von rund 3 Mio. Anmietungen für alle drei FFC-Anbieter ermittelt. Bezogen auf den Berliner Mobilitätsmarkt bedeutet dies, dass alle drei Anbieter zusammen einen Modal-Split-Anteil von lediglich 0,1 % erreichen und somit im Verkehrsgeschehen eine kaum wahrnehmbare Rolle ausfüllen (Bild 3). Unsere Analysen der weiteren Städte zeigen grundsätzlich ein sehr ähnliches Bild. Ökonomische Bewertung Entscheidend für das Geschäftsmodell der Anbieter ist die Frage, welche Nutzungsarten/ Mobilitätsbedürfnisse befriedigt werden. Aufgrund der im Vergleich hohen Grenzkosten der Nutzung, wird FFC immer ein ergänzendes und kein Grundverkehrsmittel bleiben. FFC positioniert sich als Self-Service-Taxi für Kunden, deren Grenzkosten der Mobilität nahezu bei Null liegen, da sie zum Beispiel eine Zeitkarte für den öfentlichen Verkehr besitzen oder über ein Fahrrad verfügen. Aufgrund ihrer speziischen Fahrtenstruktur (Nahmobilität, Freizeitverkehr) gelingt es den FFC-Systemen einerseits, neue Erlösströme zu generieren und das Mobilitätsmarktvolumen insgesamt zu vergrößern. Andererseits werden Erlöse von anderen Verkehrsträgern abgezogen, indem Fahrten und Erlöse verlagert werden. Gleichzeitig sind die Preise bzw. Erlössätze pro Anmietung vergleichsweise hoch. So liegt der Preis für eine vergleichbare Fahrt zwar deutlich unter dem Preis für die Fahrt mit einem Taxi, aber auch deutlich über dem Preis einer Fahrt mit dem öfentlichen Verkehr. Neue Erlösströme werden vor allem bei- Kunden mit bislang niedrigen Mobilitätsgrenzkosten generiert, indem einzelne-Wege vom ÖPNV bzw. vom Fahrrad auf das FFC verlagert werden, ohne dass die Erlöse für den ÖPNV oder das Fahrrad aufgrund nicht vorhandener Grenzkosten sinken. Erfolgsfaktoren der Systeme Der ökonomische Erfolg der FFC-Systeme hängt erlösseitig insbesondere von der Auslastung der Fahrzeuge und dem Erlös pro Anmietminute ab. Nach unseren Analysen ist die Auslastung der Fahrzeuge dabei insbesondere von vier Faktoren abhängig. Bisherige Betriebsdauer des Systems Unsere Auswertungen zeigen, dass ein wesentlicher Treiber für den Erfolg in der Betriebsdauer der Systeme liegt. Für die nachfolgende Analyse der Erfolgsfaktoren haben wir die Fahrten pro Fahrzeug für alle Systeme auf eine durchschnittliche Betriebslaufzeit von 24 Monaten harmonisiert, um einen sachgerechten Vergleich zu ermöglichen. Fahrzeugdichte im Geschäftsgebiet Die Fahrzeugdichte im Geschäftsgebiet hat einen relevanten Einluss auf die Auslastung der FFC-Systeme. Aus unseren Analysen lässt sich für europäische Städte ableiten, dass zusätzliche Fahrzeuge einen nachfragesteigernden Efekt haben. Bei einigen Städten lassen sich jedoch auch eine gewisse Sättigung und eine abnehmende Grenznachfrage feststellen. Für die Anbieter ist es daher relevant, die optimale Fahrzeugdichte pro Geschäftsgebiet zu identiizieren (Bild 4). Diese ist von weiteren Faktoren, wie zum Beispiel der Siedlungsdichte, der Diversität der Nutzung, der ÖPNV-Qualität, aber auch der Fahrzeugqualität, abhängig. Ausgestaltung des Geschäftsgebietes Die Größe und der Zuschnitt des Geschäftsgebietes entscheiden darüber, wie viel potenzielle Nachfrage erschlossen werden kann. Erfolgversprechend ist es, mit einem möglichst kleinen Geschäftsgebiet möglichst viele innerstädtische Verkehrsquellen und -ziele zu erfassen. Ein Indikator für die Ausgestaltung des Geschäftsgebietes ist die Siedlungsdichte. Je dichter eine Stadt bzw. das Geschäftsgebiet besiedelt ist, umso einfacher können potenzielle Kunden erschlossen werden. Unsere Regressionsanalyse zwischen der Siedlungsdichte im Geschäftsgebiet und der harmonisierten Auslastung (Bild 5) zeigt für europäische Städte einen klaren Trend: Je dichter das Bedienungsgebiet besiedelt ist, desto höher ist die Auslastung der Systeme. Angebotsqualität des öfentlichen Verkehrs im Geschäftsgebiet In einem weiteren Analyseschritt haben wir untersucht, welchen Einluss die Qualität des öfentlichen Verkehrs auf den Erfolg der FFC-Systeme hat. Die Qualität des öfentlichen Verkehrs wird mit der Kennzahl „Haltestellenabfahrten pro km 2 Siedlungsläche“ im Geschäftsgebiet abgebildet. Die Regressionsanalyse zwischen der Qualität des öfentlichen Verkehrs und der harmonisierten Auslastung zeigt klar: Je dichter das Angebot an öfentlichen Verkehrsmitteln ist, desto höher ist die Auslastung der Systeme (Bild 6). Bild 2: Durchschnittliche Produktivminuten im Vergleich Bild 3: Modal-Split in Berlin Internationales Verkehrswesen (66) 3 | 2014 80 MOBILITÄT Carsharing Fazit Verkehrliche Bewertung FFC ist in hohem Maß motorisierte Bequemlichkeitsmobilität im Nahbereich. Die Fahrten weisen vergleichsweise geringe Entfernungen auf, und ein hoher Anteil der Fahrten lässt sich dem After-Work- und Freizeitverkehr zuordnen. Die bestehenden FFC-Systeme erreichen aufgrund ihrer geringen Flottengröße und ihrer geringen Auslastung keine nennenswerte verkehrliche Relevanz in den jeweiligen lokalen Verkehrsmärkten. Ein FFC-Fahrzeug wird im weltweiten Durchschnitt rund 39 Minuten am Tag gefahren und steht über 23 Stunden unproduktiv im Straßenraum. Ein privater PKW wird innerstädtisch zwischen 30 und 45 Minuten efektiv genutzt. Ökonomische Bewertung FFC ist ein Add-on-Mobilitätsystem. Den Anbietern gelingt es, mit einem neuen Produkt, zusätzliche Erlösströme zu generieren und die Mobilitätsausgaben der Kunden zu erhöhen. Aufgrund ihrer speziischen Fahrtenstruktur wird die Nachfrage von Verkehrsträgern mit geringen Grenzkosten für den Kunden, wie zum Beispiel dem Fahrrad oder ÖPNV, auf die FFC-Systeme verlagert und zusätzliche Erlöse für das FFC-System generiert. Erfolgsfaktoren Der Erfolg der Systeme wird durch mehrere Faktoren determiniert. Zum einen die optimale Fahrzeugdichte im Geschäftsgebiet: Systeme mit tendenziell eher kleinen Gebieten und einem hohen Fahrzeugbesatz sind erfolgreicher. Zum anderen ermöglicht die Konzentration des Geschäftsgebiets auf dicht besiedelte Milieu-Stadtteile, so dass wichtige Verkehrsquellen und relevante Zielgruppen erschlossen werden, den Erfolg der Systeme. Der Erfolg der Systeme korrespondiert klar mit der Qualität des öffentlichen Verkehrs in den Städten: Je besser der öfentliche Verkehr, umso erfolgreicher sind die FFC-Systeme. ■ 1 Vgl. Leo, Andreas: car2go - connected smart vehicles, 2013. Die Anzahl der Fahrten pro Fahrzeug folgt dabei in Abhängigkeit von den Monaten der Betriebsdauer einer nichtlinearen Funktion Sascha Frohwerk, Dr. Consultant, civity Management Consultants GmbH & Co. KG, Berlin sascha.frohwerk@civity.de Stefan Weigele Partner, civity Management Consultants GmbH & Co. KG, Hamburg stefan.weigele@civity.de Friedemann Brockmeyer Consultant, civity Management Consultants GmbH & Co. KG, Berlin friedemann.brockmeyer@civity.de Bild 4: Optimale Fahrzeugdichte im Geschäftsgebiet Bild 5: Einluss der Einwohnerdichte Bild 6: Einluss der Qualität des öfentlichen Verkehrs