eJournals Internationales Verkehrswesen 66/3

Internationales Verkehrswesen
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0020-9511
expert verlag Tübingen
10.24053/IV-2014-0090
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2014
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Zielkonflikte im dynamischen Verkehrsmanagement

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2014
Stefan Grahl
Zielkonflikte entstehen, wenn mehrere Ziele angestrebt werden, die zueinander konträr sind. Die Aufgabe, Zielkonflikte im dynamischen Verkehrsmanagement zu lösen, resultiert vor allem aus dem mittlerweile umfänglichen Einsatz von Verkehrsmanagementsystemen. Hinzu kommt die zunehmend stärkere Sensibilisierung der Öffentlichkeit hinsichtlich Planung und Nutzung der Verkehrsinfrastruktur. Auf Grundlage praktischer Erfahrungen werden manifeste und latente Zielkonlikte identiiziert und analysiert sowie mit Hilfe strukturierter Zielauswahl- und Optimierungsverfahren Lösungswege aufgezeigt.
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Internationales Verkehrswesen (66) 3 | 2014 81 Verkehrsmanagement MOBILITÄT Zielkonlikte im dynamischen Verkehrsmanagement Ursachen und Lösungswege Zielkonlikte entstehen, wenn mehrere Ziele angestrebt werden, die zueinander konträr sind. Die Aufgabe, Zielkonlikte im dynamischen Verkehrsmanagement zu lösen, resultiert vor allem aus dem mittlerweile umfänglichen Einsatz von Verkehrsmanagementsystemen. Hinzu kommt die zunehmend stärkere Sensibilisierung der Öfentlichkeit hinsichtlich Planung und Nutzung der Verkehrsinfrastruktur. Auf Grundlage praktischer Erfahrungen werden manifeste und latente Zielkonlikte identiiziert und analysiert sowie mit Hilfe strukturierter Zielauswahl- und Optimierungsverfahren Lösungswege aufgezeigt. Der Autor: Stefan Grahl S icher, schnell und mit geringem Aufwand das gewünschte Reiseziel zu erreichen, ist Anliegen aller Verkehrsteilnehmer. Ein ungestörter Betriebsablauf und die volle Nutzbarkeit der vorhandenen Verkehrsinfrastruktur sind wichtige Ziele für Baulastträger und Verkehrsunternehmen. Straßenanlieger erwarten uneingeschränkten Zugang zu Grundstücken und möglichst wenig Belastungen durch den Verkehr. Passanten wollen hohe Aufenthaltsqualität. Diese verschiedenen Ziele werden selten konliktfrei erreicht. Ursachen, Wirkungsweisen und Folgen derartiger Zielkonlikte sind für das Verkehrsmanagement bislang nur partiell erfasst und nicht vertieft untersucht worden. Häuig versucht man Lösungen zu inden, wenn die unterschiedlichen Interessen bereits kollidieren. Deshalb wurde im Auftrag der Bundesanstalt für Straßenwesen das Forschungsprojekt „Zielkonlikte im dynamischen Verkehrsmanagement“ bearbeitet [1]. Die Untersuchungen bezogen sich auf den öfentlichen und individuellen straßengebundenen Verkehr. Ein kurzer einführender Leitfaden kann beim Autor angefordert werden. Wissenschaftliche Grundlagen D er Begrif „Dynamisches Verkehrsmanagement“ entstand im Zusammenhang mit Pilotprojekten der Initiative „Mobilität in Ballungsräumen“ (1999-2003) und wird in Publikationen der Forschungsgesellschaft für Straßen- und Verkehrswesen (FGSV) deiniert [2], [3]. Das Ziel des dynamischen Verkehrsmanagements ist es, mit geeigneten Strategien die Stabilität des Verkehrssystems zu erhalten bzw. (den Regelablauf ) wiederherzustellen (Bild 1). Der Übergang von einem stabilen in ein instabiles Verkehrssystem kann durch Ereignisse ausgelöst werden, die unvorhergesehen (z. B. Störfall), teilweise planbar (z. B. Baustellenstau) oder örtlich und zeitlich planbar (z. B. City-Marathon) eintreten. Dabei ist die Instabilität meist mit einem der drei Zustände verbunden: • Verkehrsraum voll verfügbar, jedoch Verkehrsüberlastung • Verkehrsraum eingeschränkt verfügbar • Verkehrsraum nicht verfügbar. Zwei kurz skizzierte Beispiele sollen die Problematik veranschaulichen: Beispiel 1 Infolge einer größeren Havarie muss der Verkehr auf einer Hauptverkehrsstraße längere Zeit unterbrochen werden. Das wirkt sich auf alle Verkehrsarten und Anwohner aus und bindet Polizei, Tiebauamt und Verkehrsbetriebe. Die Havarie soll schnellstmöglich beseitigt, der Verkehrsablauf im betrofenen Bereich nur im notwendigen Umfang eingeschränkt und die Auswirkungen auf anschließende Gebiete gering gehalten werden (Ziele). Um den Havariebereich verkehrlich zu entlasten und den Verkehrsablauf zu sichern (Strategie), werden zwei Szenarien geprüft: eine kleinräumige und eine großräumige Verkehrsumlenkung mit den entsprechenden Maßnahmen. Beispiel 2 Eine Großveranstaltung im Stadion führt in einem (Straßen-) Teilnetz zu stark erhöhtem Verkehrsaukommen, das die vorhandenen Kapazitäten für den ließenden und ruhenden Verkehr überschreitet. Davon betrofen sind der reguläre öfentliche (ÖV) und motorisierte Verkehr (MIV) im Bereich sowie die Stadionbesucher, die Polizei, Verkehrsbetriebe und Veranstalter. Ziele sind die Aufrechterhaltung des regulären Ver- Bild 1: Systembezug des dynamischen Verkehrsmanagements Internationales Verkehrswesen (66) 3 | 2014 82 MOBILITÄT Verkehrsmanagement kehrsablaufs sowie die zeitgerechte An- und Abreise der Besucher. Als geeignete Strategie wird die Abwicklung des Besucherverkehrs durch intermodale Reiseketten angesehen. Bei der Festlegung und Anwendung von Strategien sowie der für ihre Umsetzung erforderlichen Maßnahmen können Zielkonlikte auftreten. Eine geeignete Methode, sie aufzudecken und zu behandeln, ist die Entscheidungsanalyse. Dabei geht man vom Ist- Zustand (Zeitpunkt 0) und vom angestrebten Soll- Zustand (Zeitpunkt +1) eines Systems aus. Der Soll-Zustand wird durch ein Zielsystem mit Ober-, Unter- und Elementarzielen beschrieben [4]. Dieser technokratische Lösungsansatz wird mit der soziologischen Konliktbewältigung verbunden. Hierfür eignet sich z. B. die Harvard-Methode des sachbezogenen Verhandelns. Es wird die wirkungsvolle und dauerhafte Lösung des Konliktes angestrebt. Diese gelingt umso eher, wenn Verständnis für die Interessen der jeweilig anderen Konliktbeteiligten entwickelt und gemeinsam eine Win-Win-Lösung geschaffen wird [5]. Strukturierung von Zielkonflikten Im dynamischen Verkehrsmanagement treten häuig folgende Konfliktarten auf: • Verkehrliche Zielkonlikte • Zielkonlikt zwischen Verkehr und Bauen • Umweltbezogene Zielkonlikte • Zielkonlikte durch infrastrukturelle Deizite • Organisationsübergreifende Zielkonlikte • Zielkonlikte, die sich aus dem Mobilitäts-/ Verkehrsverhalten ergeben Bei der Analyse von Zielkonlikten wird zuerst gefragt, wer direkt und indirekt beteiligt ist. Beim dynamischen Verkehrsmanagement (VM) sind das in der Regel drei Gruppen: VM-Akteure, Verkehrsteilnehmer und Betrofene. Sie werden als Konfliktsubjekte bezeichnet. Zu den VM-Akteuren gehören vor allem Straßenbaulastträger, ÖV- Unternehmen, Polizei und Feuerwehr, Parkhausbetreiber und Großveranstalter, z. B. Messegesellschaften. Eine wichtige Rolle spielen Kommunikationsdienstleister. Als Betrofene gelten private und gewerbliche Anlieger sowie besonders umweltsensible Bereiche, z. B. Landschaftsschutzgebiete. Konfliktobjekte sind die Elemente des Verkehrssystems Straße mit ihren baulichen und technischen Ausrüstungen wie z.B. Autobahnen, Landstraßen, Hauptverkehrsstraßen, dazugehörige ÖV-Trassen oder Veranstaltungsorte. Konfliktfelder ergeben sich primär aus den situativen Nutzungsansprüchen der Konliktsubjekte an die Konliktobjekte (Bild 2). Weitere Konlikte entstehen u.a. als Folge von Nutzungsrestriktionen wie z. B. Umweltzonen. Erkennen und Behandeln von Zielkonflikten Die Konliktbearbeitung im dynamischen Verkehrsmanagement unterscheidet sich danach, ob sie in der Prozessphase Strategieplanung oder Strategiemanagement stattindet. Im Vordergrund steht die präventive Behandlung möglicher Zielkonlikte schon im Planungsstadium. Dafür werden Zielsysteme generiert und Optimierungsverfahren eingesetzt. Schon die vorgenannten Beispiele lassen auf eine Vielzahl möglicher Zielkonlikte schließen. Es ist daher sinnvoll, Zielsysteme zuerst generell, d. h. situationsunabhängig zu generieren. Außerdem werden die Unter- und Elementarziele wegen ihrer großen Vielfalt so genannten Zielbereichen zugeordnet (Bild-3). Für eine konkret zu bewältigende Situation müssen zunächst die Konliktsubjekte festgestellt und deren Ziele bestimmt werden. Daraus lässt sich das erforderliche situative Zielsystem generieren. Mit der Festlegung von quantitativen oder qualitativen Indikatoren für die Elementarziele wird dieses Zielsystem operationalisiert, und in der Folge kann die Zielerreichung beurteilt werden [6]. Nach Möglichkeit verwendet man Indikatoren, die bei der jeweiligen Strategieplanung ohnehin zu ermitteln Bild 2: Zusammenhang Konfliktsubjekte, -objekte und -felder Bild 3: Generelles Zielsystem Internationales Verkehrswesen (66) 3 | 2014 83 Verkehrsmanagement MOBILITÄT sind, z. B. Qualitätsstufen für den Verkehrsablauf. Die einzelnen Ziele sind mit Zielgewichten zu versehen. Ebenso müssen für die Indikatoren Grenzwerte festgelegt werden, die nicht über- oder unterschritten werden dürfen. Die Strategie selbst wird Zielfunktion für die Optimierung der Zielerreichung. Im Beispiel 1 handelt es sich um eine Minimierung von Auswirkungen der Havarie, in Beispiel 2 um eine Maximierung des Verkehrs-/ Transportangebots für die Großveranstaltung. Die Ermittlung einer optimalen Lösung kann in einfachen Fällen mittels PC-Standardprogrammen erfolgen. Komplexe Zusammenhänge bedürfen der mathematischen Modellbildung und -rechnung. In jedem Fall erforderlich ist die Berechnung oder Schätzung der Indikatoren des Zielsystems. Nach Möglichkeit sollten mehrere Szenarien für die Auswahl und Anwendung verkehrlicher und nicht verkehrlicher Maßnahmen gebildet werden, um die unterschiedlichen Ziele der Beteiligten besser berücksichtigen zu können. Zielkonfliktlösung beim Strategiemanagement Im operativen Betrieb kommt es auf schnelle und richtige Entscheidungen an, zu denen die Auswahl, Prüfung und Aktivierung vorab deinierter Strategien gehört (Strategiemanagement). Konlikte entstehen hier vor allem, wenn mehrere kritische Situationen zeitgleich auftreten und die zu ihrer Bewältigung notwendigen Maßnahmen sich gegenseitig ausschließen. Das wäre der Fall, wenn die in Beispiel 1 genannte Havarie auf einer Hauptverkehrsstraße genau dann auftritt, wenn dort der zusätzliche Besucherverkehr zu einer Großveranstaltung, Beispiel 2, bewältigt werden soll. Je nach Zeitpunkt und Schwere der Havarie muss die vorgesehene Routenführung zum P&R-Platz angepasst und möglicherweise auf ÖV-Sonderverkehre im betrofenen Bereich verzichtet werden, gegebenenfalls ist der Veranstaltungsbeginn anzupassen. Die Zielkonliktlösung im Strategiemanagement ist zunächst eine planerische Aufgabe. Mit Hilfe einer Konliktmatrix wird geprüft, welche Maßnahmen kompatibel sind und welche sich gegenseitig ausschließen. Für letztere sind dann Prioritäten entweder deinitiv festzulegen oder mit Hilfe eines Optimierungsverfahrens zu bestimmen. Bewährt haben sich regelmäßige Analysen darüber, welche Situationen häuig auftreten und wie sie bewältigt wurden, welche Wirkungen und Probleme sich einstellten. Zusammenfassung Zielkonlikte im dynamischen Verkehrsmanagement resultieren im Wesentlichen daraus, dass sich Anforderungen der Konliktsubjekte (Akteure, Verkehrsteilnehmer, Betrofene) an die Konliktobjekte (zumeist Verkehrsinfrastruktur) zeitlich und räumlich ausschließen bzw. zu nicht akzeptablen verkehrlichen und nicht verkehrlichen Wirkungen führen. Für die Behandlung derartiger Zielkonlikte sind tragfähige und alltagstaugliche Kommunikationsstrukturen zwischen den Konliktsubjekten erforderlich. Hier haben sich „Runde Tische“ zur baulastträgerübergreifenden Strategieabstimmung und standortbezogene Arbeitsgruppen wie „Arena/ Messe“ in Düsseldorf und ähnliche in Berlin, Frankfurt am Main und Nürnberg bewährt. Eine Bürgerbeteiligung ist vor allem dann sinnvoll, wenn es sich um Betrofene von Maßnahmen handelt, die regelmäßig ergrifen werden, z. B. bei Großveranstaltungen oder Baustellen längerer Dauer. Auch Hinweise aus der Bevölkerung zu Wirkungen von verkehrsbeeinlussenden Maßnahmen können hilfreich sein. Im dynamischen Verkehrsmanagement nicht lösbare Zielkonlikte führen oftmals zur Notwendigkeit, die Probleme durch bauliche oder verkehrsorganisatorische Maßnahmen zu beseitigen. Dabei ist zu prüfen, ob die Konlikte bereits beim Regelablauf des Verkehrssystems auftreten und dort zuerst gelöst werden müssen. ■ LITERATUR [1] Grahl, S.; Müller, S. (2013): Zielkonflikte im dynamischen Verkehrsmanagement, Schlussbericht zu FE 03.0465/ 2010/ KGB, Bundesanstalt für Straßenwesen Bergisch Gladbach [2] FGSV 381 (2003): Hinweise zur Strategieentwicklung im dynamischen Verkehrsmanagement, Forschungsgesellschaft für Straßen und Verkehrswesen (FGSV), Köln [3] FGSV 381/ 1 (2011): Hinweise zur Strategieanwendung im dynamischen Verkehrsmanagement, Forschungsgesellschaft für Straßen und Verkehrswesen (FGSV), Köln [4] Klein, R.; Scholl, A.(2004): Planung und Entscheidung, Verlag Vahlen [5] Artner, J. Ritter, M. (2008): Konfliktsoziologie, TU Dresden, wikibooks.org (07/ 2013) [6] Domschke, W., Drexl, A. (2011): Einführung in Operations Research, Springer Verlag (8. Auflage) Stefan Grahl, Dr.-Ing. Inhaber, Grahl Ingenieurbüro für Systeme des Schienen- und Straßenverkehrs, Dresden stefangrahl@t-online.de 17. September 2014, 09: 00 - 16: 00 Uhr, House of Logistics and Mobility (HOLM), Frankfurt am Main Anmeldung bis 12. September 2014 www.mobil-in-hessen.de Auf dem Weg zum mobilen Hessen 2020 12. Hessischer Mobilitätskongress 2014 © Editor77 | Dreamstime.com