eJournals Internationales Verkehrswesen 66/3

Internationales Verkehrswesen
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0020-9511
expert verlag Tübingen
10.24053/IV-2014-0093
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2014
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Szenario-Methode in der Verkehrswissenschaft

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2014
Martin Jähnert
Die Szenario-Methode ist ein erfolgversprechendes Instrument für die Verkehrswissenschaft. Bisher wird sie jedoch sehr uneinheitlich eingesetzt. Es ist zu befürchten, dass Defizite bei der Verwendung der Methode unzureichende Ergebnisse zur Folge haben, die wegen der Verwirrung um Begriffe und Verfahrensschritte unentdeckt bleiben. Um Klarheit zu gewinnen, typologisiert der Beitrag die Forschungsprojekte innerhalb der Verkehrswissenschaft, die mit Szenarien arbeiten, und nimmt eine methodologische Beurteilung vor.
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Internationales Verkehrswesen (66) 3 | 2014 93 Wissenschaft MOBILITÄT Szenario-Methode in der Verkehrswissenschaft Inadäquater Einsatz - ungenutzte methodische Potentiale Die Szenario-Methode ist ein erfolgversprechendes Instrument für die Verkehrswissenschaft. Bisher wird sie jedoch sehr uneinheitlich eingesetzt. Es ist zu befürchten, dass Deizite bei der Verwendung der Methode unzureichende Ergebnisse zur Folge haben, die wegen der Verwirrung um Begrife und Verfahrensschritte unentdeckt bleiben. Um Klarheit zu gewinnen, typologisiert der Beitrag die Forschungsprojekte innerhalb der Verkehrswissenschaft, die mit Szenarien arbeiten, und nimmt eine methodologische Beurteilung vor. Der Autor: Martin Jähnert W enn über die Mobilität der Zukunft debattiert wird, ist es ein gewaltiges Problem, dass niemand die Zukunft kennt. Versuche, diesem Dilemma durch Prognosen (d. h. Vorhersagen) beizukommen, sind aussichtslos angesichts einer sich rasant ändernden und hoch komplexen Wirklichkeit. Auch den Kriterien der Wissenschaftlichkeit genügen diese Versuche nicht. Dass der Problematik der unbekannten Zukunft auch anders als prognostisch begegnet werden kann, zeigt die neuere Zukunftsforschung [1]. In teils deutlicher Abgrenzung zur Prognostik stellt sie Instrumente zur Verfügung, die dazu dienen, mit der Unbestimmtheit der Zukunft zurecht zu kommen, anstatt sie zu kaschieren. Eines der wichtigsten dieser Werkzeuge ist die Szenario-Methode. In diesem Artikel wird die Szenario-Methode vorgestellt, wie sie die neuere Zukunftsforschung kennt, um dann die These zu begründen, warum sie für die Verkehrswissenschaft besonders erfolgversprechend ist. Daran schließt die Frage an, ob die Methode in der Verkehrswissenschaft adäquat eingesetzt wird. Diese Frage ist relevant, denn durch die inadäquate Nutzung einer Methode entstehen unzureichende Ergebnisse und vorhandenes Potential wird nicht ausgeschöpft. Mit der Beantwortung dieser zentralen Frage schließt der Artikel. 1 Zur Szenario-Methode Unter dem Begrif „Szenario-Methode“ wird in der Wissenschaft generell, aber auch innerhalb der Zukunftsforschung, sehr Unterschiedliches verstanden. Gemeinsam ist den Verständnisweisen, dass es sich um eine Methode zur Erzeugung von Bildern von der Zukunft handelt. Aus der Selbstbeschreibung der neueren Zukunftsforschung ergibt sich jedoch eine deutliche Eingrenzung: Die Abgrenzung zur Prognostik erlaubt keinen Versuch der Vorhersage. Auch bedingte Prognosen, sogenannte „Wenn-dann-Szenarien“, verharren im prognostischen Paradigma, kaschieren dieses aber durch variable Prämissen. Die Frage, für die die Szenario-Methode Antworten ermöglicht, muss daher lauten: „Was könnte passieren? “ und nicht: „Was passiert, wenn Ereignis A oder Ereignis B eintritt? “. [2] Ergebnis eines Szenario-Prozesses sind daher mehrere unterschiedliche Bilder, die zeigen, wie die Zukunft aussehen könnte. Dazu müssen diese Bilder in sich widerspruchsfrei sein. Vor der methodologischen Beurteilung folgt zunächst eine kurze Beschreibung der Szenario-Methode, wie sie die neuere Zukunftsforschung kennt. Ablauf des Szenario-Prozesses Nach der Bestimmung und präzisen Abgrenzung des Szenariofeldes, d. h. des Bereiches der Wirklichkeit, der für die beteiligten Personen interessant ist, werden Einlussfaktoren gesammelt, die zur Beschreibung des Zustandes des Szenariofeldes dienen. Aus diesen Einlussfaktoren werden mindestens sechs besonders relevante ausgewählt, die von hier an Schlüsselfaktoren genannt werden. Diese komplexitätsreduzierende Auswahl erfolgt in einem Szenario-Prozess nicht rein intuitiv, sondern methodisch unterstützt, da Komplexität sonst inadäquat reduziert werden könnte. Die folgende Schlüsselfaktorenanalyse ist der zentrale und wichtigste Schritt des ganzen Prozesses, denn hier werden die Protagonist/ innen gezwungen, die Zukunft in mehreren Alternativen zu denken. Es soll herausgearbeitet werden, wie sich die einzelnen Faktoren von der Gegenwart aus bis zu einem deinierten Zeitpunkt entwickeln könnten. Dabei geht es nicht um Wahrscheinlichkeiten, sondern um Möglichkeiten. Alle möglichen Entwicklungen spannen einen Raum auf, den es umfassend und distinkt strukturierend zu beschreiben gilt. Die ausformulierten, möglichen Entwicklungen werden Projektionen genannt. Entscheidend ist dabei die Alternativität, d.h. Überschneidungsfreiheit der Projektionen. Ein Szenario ist eine Kombination von Projektionen. Dabei muss von jedem Schlüsselfaktor genau eine Projektion im Szenario enthalten sein und es müssen min- Internationales Verkehrswesen (66) 3 | 2014 94 MOBILITÄT Wissenschaft destens zwei deutlich unterschiedliche Szenarien generiert werden. Entscheidend ist, dass die Projektionen, die zu einem Szenario zusammengefasst werden, sich gegenseitig nicht widersprechen. Beispielsweise sind die Entwicklungen „intensiver Straßennetzausbau“ und „sinkende Straßenverkehrsleistung“ nur schwer gleichzeitig denkbar. Angesichts von mindestens sechs Schlüsselfaktoren mit jeweils mindestens zwei Projektionen ist das menschliche Gehirn bei der Auswahl konsistenter, also widerspruchsfreier Kombinationen, schnell überfordert. Deswegen empiehlt sich der Einsatz einer Konsistenzanalyse. Sie ermöglicht durch die Gegenüberstellung aller Projektionen in einer Matrix die sequentielle Einschätzung der Konsistenz, d.h. des Zueinanderpassens aller Projektionen. Da jedem Projektionenpaar dann ein qualitativer Konsistenzwert zugeordnet worden ist, kann nun auch für jede theoretisch mögliche Kombination von Projektionen ein Konsistenzwert errechnet werden. Kombinationen mit den höchsten Konsistenzwerten kommen dann in Frage, zu Szenarien erklärt zu werden. Es ist allerdings nicht so, dass von der Konsistenz eines Zukunftsbildes auf dessen Eintrittswahrscheinlichkeit geschlossen werden kann. Eine Auswahl muss noch getrofen werden, weil sich die höchst-konsistenten Kombinationen oft sehr wenig voneinander unterscheiden, z. B. in nur einer Projektion. Die entstehenden Szenarien sind aber umso wertvoller, je deutlicher sie einander kontrastieren. Es muss daher abgewogen werden zwischen den Forderungen der Konsistenz und der Unterschiedlichkeit. Die so ausgewählten Kombinationen sollten im letzten Schritt zu anschaulichen Zukunftsbildern verarbeitet werden. Das kann, je nach Kontext, auch graphisch, narrativ oder sogar schauspielerisch realisiert werden. Abweichungen von dieser grundsätzlichen Vorgehensweise sind denkbar. Erhalten bleiben sollte dabei aber der nicht-prognostische Charakter. Wert der Szenario-Methode für die Verkehrswissenschaft Die Szenario-Methode ist für die Verkehrswissenschaft sehr erfolgversprechend. Vier zentrale Argumente unterstützen diese Behauptung: • Sie ist vor allem geeignet für die Beobachtung besonders weitreichender Forschungsfelder, die keine sehr detaillierte Beobachtung zulassen, wenn nicht große Bereiche des Feldes ausgespart bleiben sollen. Das Verkehrswesen ist ein solches Feld. • Daran anschließend dient sie der adäquaten (! ) Reduktion von Komplexität, die zunächst durch die weitwinklige Perspektive auf das Forschungsfeld entsteht. • Sie ist als „Prozess strukturierter Kommunikation“ [3] besonders geeignet zur Organisation inter- und transdisziplinärer Arbeit. Die Verkehrswissenschaft arbeitet inter- und transdisziplinär. • Der Szenario-Methode ist das durchdachte, nichtprognostische, sondern multiple Überschreiten des Zeithorizontes der Gegenwart fest eingeschrieben. Damit passt sie zur Verkehrswissenschaft, die ebenso zukunftsorientiert ist. Aber wird das Potential, das die Methode ofensichtlich für die Verkehrswissenschaft anbietet, auch genutzt? Sind die zentralen Gedanken der neueren Zukunftsforschung, die den berechtigten Bedenken gegen die Prognostik Rechnung tragen, in Form der Szenario-Methode bereits in den Methodenkasten der Verkehrswissenschaft gelangt? Der erste Blick auf verkehrswissenschaftliche Projekte, die mit Szenarien arbeiten, ergibt ein äußerst difuses Bild, das durch uneinheitliche Begrilichkeiten und scheinbar sehr unterschiedliche Verständnisweisen der Methode geprägt ist. Die Übersicht in Bild 1 ermöglicht eine methodologische Beurteilung: Darin symbolisiert jeder grüne Punkt ein Projekt 2 . Die Typologie der Projekte, dargestellt durch die drei Spalten in Bild 1, stammt von Lena Börjeson und anderen [2] und erwies sich als nützlich, weil sie strikt zwischen „predictive“ und „explorative“ unterscheidet. „Was-wäre-wenn-Szenarien“, die eher bedingte Prognosen darstellen, fallen hierbei in die Kategorie „predictive“. Diesem Typisierungsvorschlag wird gefolgt, denn eine Aussage „Wenn Ereignis A, dann passiert …“ relektiert die Unsicherheit der Zukunft nur unwesentlich mehr als die Aussage „Das wird passieren! “. Explorative Szenarien sollen aber Antworten sein auf die Frage: „Was könnte passieren? “. Daher sind die vier Projekte, die in Bild 1 in der linken Spalte zu inden sind, aus methodologischer Sicht problematisch. Sie stellen eher Prognosen auf und kaschieren damit die erhebliche Unsicherheit der Zukunft. In der mittleren Spalte sind elf Projekte zu inden, in denen explorative Szenarien erzeugt wurden. Dies geschah jedoch auf sehr unterschiedliche Weise. In sechs Projekten wurde mit höchstens drei Schlüssekfaktoren gearbeitet. Wiederum drei davon nutzen das Verfahren der vollständigen Permutation. Dabei werden alle Kombinationen von Projektionen zu Szenarien verarbeitet. Bei drei Schlüsselfaktoren zu je zwei Projektionen ergibt dieses Vorgehen bereits acht Szenarien. Die vollständige Permutation ist daher nur mit sehr wenigen Schlüsselfaktoren sinnvoll einsetzbar. In der einschlägigen Methodenliteratur werden mindestens sechs Schlüsselfaktoren gefordert [4]. Es ist daher davon auszugehen, dass die Komplexitätsreduktion bei nur drei Schlüsselfaktoren zu radikal ist, vor allem Bild 1: Ergebnisgrafik Szenario-Methode in der Verkehrswissenschaft Internationales Verkehrswesen (66) 3 | 2014 95 Wissenschaft MOBILITÄT angesichts des so vielfältigen Forschungsgegenstandes „Verkehrswesen“. Widersprüche im Bundesverkehrswegeplan 2015 In den drei anderen Projekten, die mit höchstens drei Schlüsselfaktoren arbeiten, sind teils gravierende methodologische Widersprüchlichkeiten zu konstatieren. Ein besonders weitreichendes Beispiel: Im Szenario- Prozess innerhalb des Bundesverkehrswegeplans 2015 wurden drei Szenarien generiert, von denen eines ausgewählt wurde, um der dann folgenden modellgestützten Prognose Input zu liefern. Dieses Szenario setzt einen „umweltpolitisch ambitionierten Gestaltungswillen voraus“ und erfordert „eine anspruchsvolle, aber realistische Gestaltung der zukünftigen verkehrspolitischen Leitlinien.“[5] Das bedeutet, dass die (eigentlich noch unbekannten) Leitlinien, die sich am Ergebnis der folgenden Prognose orientieren sollten, hier bereits als Ausgangspunkt vorausgesetzt werden. Hier beißt sich gewissermaßen die Katze in den Schwanz - allerdings nicht überraschend, denn es ist ein prizipieller Widerspruch, die Zukunft gleichzeitig gestalten und vorhersagen zu wollen. Zwei der fünf Szenario-Projekte, die mit sechs Schlüsselfaktoren arbeiten, dokumentieren den Schritt der Szenario-Generierung aus den Projektionen nicht. Daher kann sich die Beurteilung nur auf den Grad der Komplexitätsreduktion beziehen: Dieser bewegt sich angesichts der Anzahl der Schlüsselfaktoren in dem Rahmen, den die Methodenliteratur vorgibt. In dem Projekt, das im Bild 1 mit „keine Konsistenzanalyse“ gekennzeichnet ist, wurde nicht untersucht, ob die erzeugten Zukunftsbilder in sich stimmig bzw. widerspruchsfrei sind. Eine Konsistenzanalyse, wie sie in den zwei Projekten mit grünen Häkchen in der mittleren Spalte Anwendung fand, wäre aus methodologischer Sicht sinnvoll gewesen. Das Projekt, in dem normative Szenarien erstellt wurden und das demnach in der rechten Spalte von Bild 1 zu finden ist, stellt einen Einzelfall dar. Methodologisch ist, abgesehen von einer nur schwer nachvollziehbaren Dokumentation der Vorgehensweise, im Sinne der Methodenliteratur vorgegangen worden. Fazit Aus Perspektive der neueren Zukunftsforschung ist daher zu konstatieren, dass in mehr als der Hälfte der gesichteten Projekte entweder bedingte Prognosen aufgestellt wurden, die Komplexität des Gegenstandes unangemessen radikal reduziert worden ist oder teils gravierende methodologische Unstimmigkeiten auftreten. Nur drei der (ausreichend dokumentierten) Projekte sind aus methodologischer Sicht unproblematisch. Die Grundposition der neueren Zukunftsforschung, in alternativen Zukünften zu denken und so die Kontingenz der Zukunft zu reflektieren statt auszublenden, ist in der Verkehrswissenschaft, wenn die hier betrachteten Szenario-Projekte der Beurteilung zugrundegelegt werden, noch nicht in dem Maße verbreitet, wie es Zukunftsforscher/ innen wünschenswert erscheint. 1 Der Beitrag basiert auf der Abschlussarbeit des Autors im Masterstudiengang Zukunftsforschung an der Freien Universität Berlin, betreut von Frau Prof. Dr.- Ing. Ch. Ahrend (TU Berlin) und Herr Prof. Dr. G. de Haan (FU Berlin). 2 Zum genaueren Vorgehen sei hier auf die ausführliche Dokumentation im Rahmen meiner Arbeit verwiesen, online verfügbar unter http: / / tinyurl. com/ szenarien-verkehrswissenschaft QUELLEN [1] Steinmüller, K. (2010): Zukunftsforschung: Hundert Jahre Geschichte. In: swissfuture. Magazin für Zukunftsmonitoring 3/ 2010. Luzern. [2] Börjeson, L./ Höjer, M./ Dreborg, K.-H./ Ekvall, T./ Finnveden, G. (2005): Towards a user‘s guide to scenarios a report on scenario types and scenario techniques. Royal Institute of Technology. Stockholm. [3] Kollosche, I. (2011): Verkehrspolitik und Zukunftsforschung - Zur Symbiose von Verkehrsplanung und Szenariotechnik. In: Schwedes, O. (Hrsg.) (2011): Verkehrspolitik. VS Verlag für Sozialwissenschaften/ Springer. Wiesbaden. [4] Glenn, J. (2009): Scenarios. In: Gordon, T/ Glenn, J. (Hrsg.) (2009): The Millennium Project: Futures Research Methodology V3.0. D.C. United States. [5] BVU/ ITP/ IVV/ Planco (2013): Sozio-ökonomische und verkehrspolitische Rahmenbedingungen der Verkehrsprognose. Zusammenfassende Darstellung im Rahmen der Verkehrsverflechtungsprognose 2030 sowie Netzumlegungen auf die Verkehrsträger. Martin Jähnert, M.A. Zukunftsforschung Masterstudiengang Zukunftsforschung, Freie Universität Berlin martin_jaehnert@web.de Eberhard Buhl, M.A. Redaktionsleitung Telefon (040) 23714-223 Telefax (089) 889518-75 eberhard.buhl@dvvmedia.com IHR KURZER DR AHT ZUR REDAKTION © freni/ pixelio.de