Internationales Verkehrswesen
iv
0020-9511
expert verlag Tübingen
10.24053/IV-2014-0094
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2014
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Strategien für den ÖPNV der Zukunft
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Lars Schnieder
Zunehmende räumliche Disparitäten, steigender Wirtschaftlichkeitsdruck und veränderte technologische Paradigmen stellen den Öffentlichen Personennahverkehr (ÖPNV) vor große Herausforderungen. In urbanen Räumen beschleunigt dies die Entwicklung eines in seinen Grundzügen immer noch wiederzu erkennenden Nahverkehrs. Ländliche Räume brauchen revolutionäre Innovationen in Verkehrstechnologie und -organisation zur Erhaltung der Lebensfähigkeit des Nahverkehrs. Eine Übersicht zu Situation und Lösungsansätzen.
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Internationales Verkehrswesen (66) 3 | 2014 96 TECHNOLOGIE ÖPNV-Entwicklung Strategien für den ÖPNV der-Zukunft Zunehmende räumliche Disparitäten, steigender Wirtschaftlichkeitsdruck und veränderte technologische Paradigmen stellen den Öfentlichen Personennahverkehr (ÖPNV) vor große Herausforderungen. In urbanen Räumen beschleunigt dies die Entwicklung eines in seinen Grundzügen immer noch wiederzuerkennenden Nahverkehrs. Ländliche Räume brauchen revolutionäre Innovationen in Verkehrstechnologie und -organisation zur Erhaltung der Lebensfähigkeit des Nahverkehrs. Eine Übersicht zu Situation und Lösungsansätzen. Der Autor: Lars Schnieder D er ÖPNV besteht als Verkehrssystem aus den Systemkonstituenten Verkehrsobjekt, Verkehrsorganisation, Verkehrsmittel und Verkehrsinfrastruktur (vgl. Bild 1) [1]: • Verkehrsobjekte: beförderte Personen oder Sachgüter • Verkehrsorganisation: rechtlicher und organisatorischer Rahmen • Verkehrsmittel: eingesetzte Straßen- und Schienenfahrzeuge • Verkehrsinfrastruktur: verteiltes Informations- und Kommunikationssystem mobiler Einrichtungen und ihrer Anbindung an die Leitstelle Verkehrsobjekte - Wer und wie viele werden wir sein? Bis 2050 verringert sich die Bevölkerung in Deutschland von 80 auf 57 Millionen Menschen. Gleichzeitig steigt die Lebenserwartung von 78 auf 89 Jahre. Die Altersstruktur der Bevölkerung und ihre räumliche Verteilung verändern sich [2], [3]. Diese vier Trends überlagern sich mit drastischen Konsequenzen für die Verkehrsbedienung auf dem Lande. Sinkende Schülerzahlen entziehen hier dem ÖPNV die Finanzierungsgrundlage. Schulschließungen verlängern die Schulwege und erhöhen die Kosten [4]. ÖPNV in seiner heutigen Form ist in ländlichen Räumen existenzgefährdet. Zeichnet sich in den Städten der Weg evolutionärer Innovationen mit dem Ziel höherer Sicherheit und Eizienz ab, erfordert der Erhalt des Nahverkehrs in der Fläche disruptive Innovationen. Verkehrsorganisation - eine tragfähige Basis für Planung und Finanzierung des Nahverkehrs Verkehrsverbünde wandeln sich zu Mobilitätsverbünden und organisieren zukünftig die Vernetzung von Mobilitätsdiensten [5]. Erfolgreiche Angebote inter- und multimodaler Mobilitätsdienste müssen Herausforderungen des Genehmigungs-, Beihilfe- und Vergaberechts lösen [6], [7]. Aktuell werden Nahverkehrsleistungen in öfentlicher Trägerschaft erbracht. In den Städten sind dies privatrechtliche, aber in kommunalem Besitz beindliche Unternehmen [8]. Wirksam werdende Schuldenbremsen engen die Spielräume für bedarfsgerechte Zuwendungen ein [4]. Der Wirtschaftlichkeitsdruck für Verkehrsunternehmen steigt. Kommunen erbringen Verkehrsleistungen verstärkt in privatwirtschaftlicher Trägerschaft. Werden erzielte Einsparungen in den ÖPNV reinvestiert, wird das Leistungsangebot verbessert und die Nachfrage stimuliert. Bei der bestehenden Zwecktrennung der Verkehrssysteme werden Personen und Güter getrennt befördert. Ein Ansatzpunkt für den Erhalt des Nahverkehrs in der Fläche liegt in der Auhebung der Zwecktrennung. Vorhandene Ressourcen (Busse, Personal, Infrastruktur) werden für zusätzliche Dienstleistungen nutzbar. Güter kommen zum Personenverkehr (Kombibusse) oder Personen kommen zum Wirtschaftsverkehr (Personenmitnahme durch Plegedienste). Gelingt eine Lösung vor allem transport- und haftungsrechtlicher Fragen, können einfache Streckennetze und die regelmäßige fahrplangestützte Bedienung fortbestehen. Für den Nahverkehr gilt das Fürsorgeprinzip in der Versorgung mit Verkehrsleistungen. Bürgerschaftliches Engagement durchbricht diesen Grundsatz bislang nur vereinzelt (Bürgerbus). Das Solidaritätsprinzip tritt in ländlichen Räumen stärker hervor. Die schrumpfende Bevölkerung erfordert ein stärkeres Eintreten füreinander. Alternative Verkehrsformen wie die Zusteigermitnahme erfordern die Kennzeichnung der Fahrzeuge, Legitimierungen der Fahrer, Festlegung von Tarifen und Haltestellen sowie die Integration in Auskunfts- und Buchungssysteme. Ofen bleibt, ob eine auf Ehrenamtlichkeit basierende Verkehrsbedienung langfristig verlässlich ist. Verkehrsmittel - zukünftige Fahrzeugkonzepte sichern die Nachhaltigkeit der Mobilität Das globale Ölförderungsmaximum ist überschritten. Steigende Energiekosten erzwingen eine höhere Energieeizienz und die Verwendung anderer Energieträger. Bislang konnten sich im Busverkehr nur Erdgasbusse in nennenswerter Zahl als Alternative etablieren. Mit der regelmäßigen Verkehrsbedienung auf wiederkehrenden Routen ist der ÖPNV für den Betrieb elektrischer Fahrzeuge ideal. Hohe Investitionskosten und die ofene Frage der Wiederverwendbarkeit und Entsorgung von Speichermedien stehen aktuell ihrer lächendeckenden Einführung entgegen. Es bleibt abzuwarten, inwieweit die erwartete Kostendegression für Batterien (- 60 % bis 2020) Investitionen motiviert, oder ob gezielte Anreize gesetzt werden müssen. Aktuell prägen herstellerspeziische Standards der Fahrzeug- und Antriebskonzepte den Markt. Eine stärkere Bild 1: Konstituenten des Verkehrssystems ÖPNV Internationales Verkehrswesen (66) 3 | 2014 97 ÖPNV-Entwicklung TECHNOLOGIE Marktdurchdringung alternativer Antriebe im Busverkehr erfordert herstellerübergreifende Standards. Standardisierung vereinfacht den Verkehrsunternehmen die Vorhaltung von Ersatzteilen und fachkundigen Instandhaltungspersonals. Der Busfahrer ist aktuell für den Fahrzeugbetrieb voll verantwortlich. Nach den von der Bundesanstalt für Straßenwesen deinierten Automatisierungsgraden (Grade of Automation, GOA) entspricht dies der Betriebsart driver only (GOA0). Hierbei greift keine Assistenz in die Längs- und Querführung ein [9]. Im Busverkehr zeichnen sich Entwicklungen zum assistierten Fahren (GOA1, Fahrer übt dauerhaft Quer- oder Längsführung aus) oder teilautomatisierten Fahren (GOA2, System übernimmt Quer- und Längsführung; Fahrer überwacht die Systemfunktion dauerhaft) ab. Für singuläre Anwendungsfälle ist das vollautomatisierte Fahren (GOA4) realistisch. Beispiele hierfür sind Einsatzszenarien im Depot oder in Bus Rapid Transit Systemen mit vom restlichen Straßenverkehr unabhängiger Trassierung. Weitere Anwendungsfelder eines hoch- und vollautomatisierten Fahrens im Fahrgastbetrieb sind für Busse wegen ofener rechtlicher Fragen aktuell nicht in Sicht. Im Schienenverkehr zeichnen sich höhere Automatisierungsgrade [10], [11] in Deutschland durch laufende Fahrzeugbeschafungen ab (Hamburg, GOA2; München und Berlin, GOA3). Höhere Automatisierung bietet wirtschaftliche Vorteile und eine variablere Anpassung des Fahrzeugeinsatzes an Lastspitzen. Verkehrsinfrastruktur - Paradigmenwechsel in der Gestaltung leittechnischer Systeme Die Verkehrsinfrastruktur umfasst die Fahrgastinformation, den Vertrieb und die systemtechnische Gestaltung leittechnischer Systeme. Für die Fahrgastinformation zeichnen sich die folgenden Entwicklungen ab: • Kollektive Fahrgastinformationen werden aktuell noch allen Fahrgästen undiferenziert angeboten. Zukünftig erhält jeder Fahrgast eine individuelle auf ihn zugeschnittene Fahrgastinformation. • Von der kontextlosen zur kontextsensitiven Fahrgastinformation: Aktuell wird durch fehlendes Wissen über individuelle Nutzerkontexte die Fahrgastinformation nicht optimal auf den Fahrgast zugeschnitten. • Zukünftig werden nationale Ansätze einer unternehmens- und verbundübergreifenden Fahrplanauskunft (DELFI) in Richtung einer europaweiten Fahrplaninformation (EU-Spirit) ausgebaut. Gleichzeitig werden Fahrplandaten um Echtzeitdaten ergänzt. Für den Vertrieb ist die folgende Entwicklungsrichtung absehbar: • Die den Nahverkehr prägende standardisierte (unpersönliche) Dienstleistung wird von einer personalisierten Dienstleistung abgelöst. Kundenwünsche werden auf der Grundlage von den Kunden freiwillig gelieferter Daten direkt in neue Dienstleistungen umgesetzt (Customer Relationship Management). • Nach lokalen und regionalen Pilotvorhaben ist die allgemeine (inter)nationale Einführung des elektronischen Tickets absehbar. Ticketingdaten beschreiben das tatsächlich realisierte Mobilitätsverhalten und ermöglichen eine genauere Planung der räumlichen und zeitlichen Verkehrsbedienung. Darüber hinaus sinken Vertriebskosten. In den nächsten Jahren wandelt sich die leittechnische Infrastruktur: • Monolithische leittechnische Systeme werden auf Basis wohl deinierter Schnittstellen modularisiert. Dies erhöht den Wettbewerb vergleichbarer Einzelkomponenten und verkürzt Entwicklungszyklen. Für die Verkehrsunternehmen folgen hieraus wirtschaftliche und technische Risiken der Systemintegration. • Die Proprietarität weicht einer Ofenheit und Standardisierung von Software, Protokollen und Schnittstellen. Dies bietet zwar wirtschaftliche Vorteile, jedoch schützten proprietäre Formate bislang gegen unberechtigte Zugrife von außen. Zukünftig muss ein höheres Augenmerk auf der Authentiizierung, Verschlüsselung und Datenintegrität liegen. • Der Betrieb dedizierter Infrastrukturen wird durch die Teilhabe an geteilten Infrastrukturen abgelöst. Die Bestandssysteme erreichen das Ende ihrer technologischen Lebensdauer und die (Mit-)Nutzung vorhandener Infrastruktur (öfentlicher Mobilfunk, Rechnernetzwerke in der Cloud) lockt mit geringeren Investitions- und Betriebskosten. Allerdings verzichten die Unternehmen auf eigene IT-Kompetenz. Auch müssen alternative Konzepte vor dem Hintergrund des möglichen Umgangs Externer mit unternehmenskritischen Daten sorgfältig geprüft werden. Fazit In der Zukunft wird das System ÖPNV, wie wir es heute kennen, verwundbarer. Die technologischen Entwicklungen, Transformationen von Wertschöpfungs- und Lieferketten (z. B. Outsourcing) sowie die Unwägbarkeiten in der Finanzierung des Nahverkehrs infolge demographischer Verwerfungen sind hierfür ursächlich. Die Gestaltung eines zukunftssicheren Nahverkehrs erfordert einen Kraftakt aller Beteiligten. Technologische Innovationen müssen im gesamten System (Verkehrsinfrastruktur, Verkehrsmittel) einen Beitrag zu höherer Kosteneizienz und Flexibilität leisten. Gleichzeitig muss ein lexibler rechtlicher Regelungsrahmen es ermöglichen, Innovationen in Technologie und Geschäftsmodellen auch tatsächlich umzusetzen. ■ LITERATUR [1] Schnieder, E. (Hrsg.); 2007: Verkehrsleittechnik - Automatisierung des Straßen- und Schienenverkehrs. Berlin. [2] Statistisches Bundesamt, 2009: Bevölkerung Deutschlands bis 2060, 12. koordinierte Bevölkerungsvorausberechnung.Wiesbaden. [3] United Nations, Department of Economic and Social Afairs, Population Division, 2012: World Urbanization Prospects: The 2011 Revision, CD-ROM Edition. New York. [4] Ringat, K., 2013: Der ÖPNV im Wandel - Auswirkungen auf Unternehmenssteuerung und Controlling. In: Schneider, C. (Hrsg.); 2013: Unternehmenssteuerung und Controlling im ÖPNV - Instrumente und Praxisbeispiele. Hamburg. [5] Gertz, C.; Gertz, E.; 2012: Vom Verkehrszum Mobilitätsverbund. Die Vernetzung von inter- und multimodalen Mobilitätsdienstleistungen als Chance für den ÖV. http: / / www.vdv.de/ vdv-positionspapiermmm.pdfx? forced=true (download 18.01.2014) [6] Knieps, M.: Entwicklung der Verkehrsverbünde in Deutschland. In: Verband Deutscher Verkehrsunternehmen (Hrsg.): Verkehrsverbünde - Durch Kooperation und Integration zu mehr Attraktivität und Eizienz im ÖPNV. Hamburg, S. 12-27. [7] Niemann, J.; Koch, H.; 2012: Multimodale Verkehrsangebote im Personenverkehr. In: Der Nahverkehr 04/ 2012, S. 44 - 47. [8] Tschandl, M.; Schentler, P., 2013: Empfehlungen und Gestaltungsansätze zur Optimierung der Planung und Budgetierung. In: Schneider, C. (Hrsg.); 2013: Unternehmenssteuerung und Controlling im ÖPNV - Instrumente und Praxisbeispiele. Hamburg. [9] Bundesanstalt für Straßenwesen (BASt), 2012: Rechtsfolgen zunehmender Fahrzeugautomatisierung, BASt-Bericht F83. Bergisch- Gladbach. [10] International Electrotechnical Commission (IEC), 2006: Railway applications - Urban guided transport management and command/ control systems - Part 1: System principles and fundamental concepts. Genf. [11] The Institute of Electrical and Electronics Engineers (IEEE), 1999: IEEE Standard for Communications-Based Train Control (CBTC) Performance and Functional Requirements (IEEE Std 1474.1-1999). New York. Lars Schnieder, Dr.-Ing. Abteilungsleiter Intermodalität und ÖPNV, Institut für Verkehrssystemtechnik, Deutsches Zentrum für Luft- und Raumfahrt e.V. (DLR), Braunschweig lars.schnieder@dlr.de
