Internationales Verkehrswesen
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0020-9511
expert verlag Tübingen
10.24053/IV-2014-0101
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2014
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Wir brauchen eine neue mentale Landkarte
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Gerd Würdemann
Ein Kommentar von Gerd Würdemann, Niederkassel, Mitglied im Vorstand der Dr. Schmidt Stiftung für Umwelt und Verkehr
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Internationales Verkehrswesen (66) 3 | 2014 124 Wir brauchen eine neue mentale-Landkarte H eute fängt die Zukunft an! Mit der Auforderung „Verkehr neu denken“ ist ein erster Schritt in Richtung Mobilität der Zukunft getan. Doch wir müssen es auch wollen und entsprechend zielorientiert handeln. Wir müssen erkennen wollen, dass das sich scheinbar eigendynamisch entwickelnde Verkehrswachstum der letzten Jahrzehnte nicht a- priori mehr Mobilität garantiert. Neben gesellschaftlichen Megatrends wird eher eine zersiedelte, disperse Raum- und Siedlungsstruktur signalisiert: mit „gezwungenermaßen“ erforderlichen entfernungsintensiven Ortsveränderungen, hohem Ressourcenverzehr und sozialen wie ökologischen Nutzungskonlikten. Dabei die eindimensionale steigende Kenngröße „Verkehrsleistung“ (in Personenkilometer bzw. Tonnenkilometer) als Synonym für eine hohe Mobilität zu interpretieren, ist eine Sackgasse, da Mobilität nicht automatisch besser ist, wenn die Wege länger werden - oder sind Umwege ein Mobilitätsgewinn? Wir müssen jetzt handeln, um die viel zitierte, aber vielerorts noch nicht erreichte räumliche Mobilitätsvielfalt zu ermöglichen. Die sich durch eine einfache und sichere Zugänglichkeit von Einrichtungen und Gelegenheiten in einer vielfältig gemischten Siedlungs- und Versorgungsstruktur in Verbindung mit einer intakten Verkehrsinfrastruktur und einem attraktiven, bezahlbaren umweltverträglichen Verkehrsmittelangebot auszeichnet. Dazu gehört eine günstige Wohnbzw. logistisch eiziente Standortwahl - ein radikales Umdenken in der Immobilien- und Förderpolitik ist Voraussetzung -, um z. B. mehrere Zielbewegungen zu koordinieren und durch den Aubau multimodaler Verkehrsketten die verschiedenen Verkehrsmittel (einschließlich Füßen und Fahrrad) optimal einzusetzen und den Verkehrsaufwand zu reduzieren. Doch das Dilemma unseres heutigen Wirtschaftssystems ist die „Verkehrsproduktion“, die - selbstzerstörerisch - raumentfernungsintensiv weiter laufen muss, um ein höchst ambivalentes Wachstum zu generieren. Wo indet z.B. der angemessene kritische Diskurs auf die von Prof. Dr. Andreas Knie auf dem Mobilitätskongress 2013 in Frankfurt a. M. postulierte Forderung „Wir können uns die raumentfernungsintensiven Lebens- und Arbeitsstile künftig nicht mehr leisten“ statt? Viele lüchten sich lieber in - durchaus berechtigte - Klagen über Finanzierungsengpässe und Sanierungsstau und fordern den „bedarfsgerechten“ Infrastrukturausbau. Aber woran misst sich, was bedarfsgerecht ist? Und Hinweise auf Verkehr sparende, Ressourcen- und umweltschonende Raumstrukturen sowie auf die impliziten sensiblen kulturellen und gesellschaftlichen Herausforderungen werden ausgespart. Die Perspektive einer uns überrollenden Lawine expandierender Verkehrsleistungen mit bedrohlichen Klima- und Gesundheitsfolgen muss jetzt angegangen werden. Sonst droht eine harte Landung. Die alltägliche Verkehrsproduktion ist weder „normal“ noch „alternativlos“. Deshalb jetzt „Verkehr neu denken“. Mobilitätssicherung für Alle ist mehr als nur technologische Verkehrsmengenbewältigung - deshalb ist eine Strategie jenseits des noch-fossilen, verschwenderischen Wachstumszeitalters nötig. Für das Gelingen brauchen wir eine neue mentale Landkarte mit dem Efekt der „emotionalen Ansteckung“. Eine Raumentwicklung mit verkehrssparenden Siedlungsstrukturen bietet die Chance zur Gestaltung einer zukunftstauglichen Mobilität. Ein Paradigmenwechsel in Richtung postfossiler Mobilität wird zwingend einzuleiten sein. Aber es gibt insgesamt wenige Anstrengungen oder Initiativen, die neue Mobilitäts- und Lebensstile vorantreiben und tradierte Maßstäbe und Bewertungen von Zeit und Geschwindigkeit in Frage stellen. Gleichwohl erfordern Energiesicherheit, Klimawandel, der Verlust an Biodiversität geradezu eine Gestaltung der „Mobilitäts“- Infrastruktur, die verstärkt die räumlichen (Verkehrsverursachungs-)Strukturen einzubeziehen hat. Auf einem Planeten mit begrenzten Ressourcen sind auch Grenzen der individuellen Freiheit unausweichlich; ein (Über-)Leben mit den Widersprüchen des homo oecologicus mit dem homo oeconomicus verlangt ungewohnte Wege. Aber brisante Herausforderungen werden immer gerne verdrängt. Denn der von Machtopportunismus geprägte Politiker wird mit diesen Tabuthemen seine Karriere nicht beenden wollen. Gleichwohl sollten die sensiblen Handlungsfelder benannt werden und in Internationales Verkehrswesen eine Plattform inden! „Verkehr neu denken“ - ja, doch dazu gehören auch Berichte, die neben den wichtigen technischen Eizienzfortschritten und bisher unerwähnten Rebound-Efekten über den Tellerrand der Verkehrsträger blicken und die speziischen Ortsveränderungs-Bedürfnisse analysieren. Noch bleibt das Postulat der „interdisziplinären Problembehandlung“ vielfach eine Worthülse. Deshalb ist m.E. die sektorale Verkehrsträgerpräsentation in Internationales Verkehrswesen aufzubrechen, der systemischen, prozessbezogenen Sicht zur Gestaltung der Mobilitäts-„Landschaft“ Platz zu geben und die wissenschaftliche, auch kontroverse Debatte in der DVWG weiter zu entwickeln. Dabei gilt es, die ganze Palette der Fortbewegung mit ihren räumlichen Wechselwirkungen kritisch auf ihre Zukunftstauglichkeit zu diskutieren. Theoretisch inden sich in der Raumordnung auf allen Planungsebenen Zielsetzungen, die verkehrssparende Siedlungsstrukturen fördern und das Mobilitätsmuster beeinlussen können. Doch fehlendes Problembewusstsein und der große Ermessensspielraum der PlanungsträgerInnen bewirken, dass derartige Zielsetzungen nicht oder nur ungenügend umgesetzt werden. Eine verstärkte Diskussion des komplexen Handlungsfeldes Mobilität der Zukunft in der verkehrswissenschaftlichen Veröffentlichungspraxis ist unabdingbar. Eine neue mentale Landkarte und eine zukunftstaugliche Mobilität sind zwei Seiten einer Medaille. Die Wertsteigerung dieser Medaille kann z. B. durch wissenschaftliche Debatten in Internationales Verkehrswesen bewirkt werden. ■ Gerd Würdemann, Niederkassel, Mitglied im Vorstand der Dr. Schmidt Stiftung für Umwelt und Verkehr EIN KOMMENTAR VON FORUM Meinung
