Internationales Verkehrswesen
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0020-9511
expert verlag Tübingen
10.24053/IV-2014-0110
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2014
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Sternstunde der Demokratie?
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2014
Werner Balsen
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Internationales Verkehrswesen (66) 4 | 2014 25 D ie Europäische Union hat eine neue Kommission, der Transportsektor eine neue Verkehrskommissarin: Die EU-Institutionen können fünf Monate nach den Europawahlen anfangen zu arbeiten. Das ist erfreulich. Überhaupt nicht erfreulich ist der Kollateralschaden, der bei Bildung der neuen EU-Kommission entstanden ist. Im Europäischen Parlament (EP) wurden der Verkehrsausschuss beschädigt und das Anhörungsverfahren für designierte Kommissare entwertet. Verantwortlich dafür sind in erster Linie die Spitzen der Großen Koalition aus Konservativen und Sozialisten im Hohen Haus. Sie wollten dem erstmals vom Parlament gewählten Kommissionspräsidenten Jean- Claude Juncker einen planmäßigen und vom Verkehrsausschuss ungestörten Arbeitsbeginn garantieren. Deshalb bearbeiteten sie dessen Abgeordnete, still zu halten. Die nämlich regten sich gewaltig darüber auf, dass Juncker den von ihnen bereits angehörten und für ausgezeichnet befundenen designierten Verkehrskommissar Maros Sefcovic kurzfristig wieder abzog. Er sollte eine andere Aufgabe übernehmen. An seiner Stelle sollte die Slowenin Violeta Bulc Transportkommissarin werden - eine Unternehmerin ohne jede politische, geschweige denn verkehrspolitische Erfahrung. Auch sie musste sich einer Anhörung durch den Ausschuss stellen. Dabei überzeugte ihr Fachwissen Liberale, zu deren Parteienfamilie sie gehört. Für die anderen Ausschussmitglieder war ihre Vorstellung ungenügend. Und doch erhielt sie am Ende grünes Licht. Die meisten Abgeordneten gaben es Bulc aus Parteiräson. Andere, damit der politische Stillstand in der EU, der schon vor der Europawahl im Mai begonnen hatte, endlich ein Ende habe. Viele stimmten resigniert zu. Sie erkannten klar die Signale, die ihnen Parlamentsspitze und neue Kommission mit dem eiligen Verfahren gaben. Erstens: Eure Meinung und Euer Fachwissen spielen keine Rolle. Ihr müsst sie opfern, damit der „Kandidat des Parlaments“ unbeschädigt bleibt. So in etwa drückte es Manfred Weber (CSU) aus, der Fraktionschef der Konservativen. Das zweite Signal lautet: Transportpolitik schätzen wir in der neuen Kommission so ein, dass sie jeder machen kann. Auch politische Newcomer ohne Fachwissen und nur mit gutem Willen. Ein politisch austariertes Team ist uns wichtiger als Kompetenz im Verkehrskommissariat. Deren Fehlen bei Bulc wurde mit der kurzen Vorbereitungszeit der designierten Kommissarin entschuldigt. Das belegt die Entwertung der Anhörung, der - wieder Weber - „Sternstunde der Demokratie“. Während in Deutschland Minister lediglich ernannt werden, muss auf der europäischen Ebene jeder Kommissar sich dem Parlament stellen. Dessen Mitglieder sollen die fachlichen und kooperativen Fähigkeiten der Kommissare in spe ermitteln. So gesehen sind die Hearings eine zutiefst demokratische Prozedur. Denn erfüllt ein Kandidat die Erwartungen der Abgeordneten nicht, können die dem Kommissionspräsidenten drohen: Wenn der für unfähig befundene Designierte nicht ausgetauscht wird, werden wir die gesamte Kommission ablehnen. Das ist der Plan. Aber: Wenn designierte Kommissare sich nach minimaler Präparierung einem Hearing stellen, und das Testat „nicht genügend“ dann wegen der geringen Vorbereitungszeit in ein „bestanden“ umgedeutet werden muss, ist die Anhörung keine „Sternstunde der Demokratie“ sondern eine Farce. Ganz abgesehen davon, dass die Fragen mancher Abgeordneter sie ohnehin fragwürdig machten. Die Spielregeln sehen vor, dass jedem Ausschuss-Mitglied ein Slot von drei Minuten für seine Frage und die Antwort des Designierten zur Verfügung steht. Daraus ergibt sich: Je länger die Frage, desto kürzer und unpräziser muss die Antwort des designierten Kommissars ausfallen. Obwohl die Parlamentarier mehrfach auf diesen simplen Sachverhalt hingewiesen wurden, wollten sie nicht hören. Denn zweiminütige Fragen waren die Regel, gelegentlich redeten die Abgeordneten sogar zweieinhalb Minuten, in denen sie fünf bis sechs Fragen stellten. Klar, dass die Befragten nur die leichten Fragen beantworteten, bei denen sie sich nicht festlegen mussten. Dann war die Zeit zu Ende. Mit dem Vertrag von Lissabon wurden die Kompetenzen des Europäischen Parlaments gestärkt. Als sich die Parlamentarier gegen die Staats- und Regierungschefs der EU durchsetzten und den Kommissionspräsidenten wählten, gewann das Hohe Haus zusätzlich Souveränität. Das Gerangel um die neue Verkehrskommissarin belegt, dass die Abgeordneten bereit sind, sie leichtfertig aufs Spiel zu setzen. ■ Werner Balsen EU-Korrespondent der DVZ Deutsche Verkehrs-Zeitung B E R I C H T A U S B R Ü S S E L VON WERNER BALSEN Sternstunde der Demokratie?
