Internationales Verkehrswesen
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expert verlag Tübingen
10.24053/IV-2014-0115
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Das Spartendenken überwinden
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Knut Ringat
Der öffentliche Personennahverkehr (ÖPNV) muss sich auf veränderte Rahmenbedingungen einstellen: demographischer Wandel, verändertes Mobilitätsverhalten der Menschen sowie Anforderungen an Zusatznutzen, akute Engpässe in der Infrastruktur und immer knapper werdende Mittel. Ein Gespräch mit Prof. Knut Ringat, Sprecher der Geschäftsführung der Rhein-Main-Verkehrsverbund GmbH.
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Internationales Verkehrswesen (66) 4 | 2014 38 INFRASTRUKTUR Interview Knut Ringat Das Spartendenken überwinden Der öfentliche Personennahverkehr (ÖPNV) muss sich auf veränderte Rahmenbedingungen einstellen: demographischer Wandel, verändertes Mobilitätsverhalten der Menschen sowie Anforderungen an Zusatznutzen, akute Engpässe in der Infrastruktur und immer knapper werdende Mittel. Ein Gespräch mit Prof. Knut Ringat, Sprecher der Geschäftsführung der Rhein-Main-Verkehrsverbund GmbH. Herr Professor Ringat, der Rhein-Main- Verkehrsverbund (RMV) plant bereits zum zweiten Mal eine Infrastrukturkonferenz in Berlin. Den ÖPNV treiben derzeit etliche Themen um, wie beispielsweise die Verteilung der Regionalisierungsmittel. Weshalb fokussieren Sie als Aufgabenträger auf ein Thema, das auf den ersten Blick eher die Verkehrsunternehmen, die diese Infrastruktur nutzen, betrift? Infrastruktur geht uns alle an! Ohne gut erhaltene und ausgebaute Verkehrswege kann weder den Mobilitätsbedürfnissen unserer Bevölkerung noch der Wirtschaft in angemessener Weise Rechnung getragen werden. Leistungsfähige Infrastrukturen sind Voraussetzung für Mobilität und damit eine wichtige Grundlage für Lebensqualität und Wohlstand unserer Gesellschaft. Das wird leider bislang in der Öfentlichkeit zu wenig wahrgenommen. Erst, wenn Schienenwege völlig überlastet, Straßen kaputt und Brücken gesperrt sind, wird der Sanierungs- und Ausbaubedarf angegangen. Und das dauert lange - zu lange. Wir müssen vorausschauend unsere Infrastrukturen planen, ausbauen und plegen. Der RMV sieht sich hier ein Stück weit als Motor und Kümmerer, auch wenn Infrastrukturmaßnahmen von anderen durchgeführt werden. Denn wenn man unseren Prognosen Glauben schenken darf, wird der Schienenverkehr gerade auch in unserer Region Frankfurt RheinMain bald an seine Wachstumsgrenzen stoßen, wenn wir nicht aktiv werden. Und um diese Herausforderung zu meistern, müssen alle Partner - Aufgabenträger wie auch Verkehrsunternehmen - an einem Strang ziehen. Darüber hinaus diskutieren wir das Thema natürlich auch im Verband Deutscher Verkehrsunternehmen (VDV), dessen Vize- Präsident ich bin. Die vom VDV ins Leben gerufene Infrastrukturinitiative „Damit Deutschland vorne bleibt“ hat starke Partner. Neben dem RMV sind weitere Verkehrsverbünde und -unternehmen, Stadtwerke, Wirtschaftsvertreter und Automobilclubs vertreten. Diese starke Allianz strebt einen breiten gesellschaftspolitischen-Dialog über das Thema Infrastruktur an, unter anderem durch Länderkonferenzen. Die Initiative führt auch in Hessen eine Infrastrukturkonferenz durch. Das reicht Ihnen aber nicht. Sie setzen mit Ihrer eigenen Veranstaltung in Berlin ein deutliches Zeichen und geben dem Thema zusätzliches Gewicht. Weshalb gerade in der Hauptstadt? Wir wollen uns aktiv in die Diskussion einbringen und möglichst viele Entscheider erreichen, vor allem die Bundespolitik. Und welcher Standort würde sich da besser eignen als Berlin? Wir fühlen uns als hessischer Verkehrsverbund in der Plicht, denn wir agieren in einem Bundesland mit bedeutenden Verkehrsknoten. Fast zwei Drittel des bundesweiten Personenfernverkehrs und Güterverkehrs auf der Schiene fahren durch Hessen beziehungsweise haben hier Quelle oder Ziel. Der Frankfurter Flughafen gehört zu den wichtigsten europäischen Flughäfen. Jährlich kommen 58 Millionen Fluggäste hier an, ungefähr die Hälfte im Transit. 26 Millionen Menschen reisen innerhalb Deutschlands weiter, oft mit dem öfentlichen Verkehr. Auch die Luftfracht wird in weiten Teilen über Frankfurt abgewickelt. Das Land Hessen übernimmt hier also Infrastrukturaufgaben von nationaler und europäischer Bedeutung. Dies wurde bisher bundespolitisch nicht anerkannt - weder ideell noch inanziell. Auch deshalb verdeutlichen wir unsere Standpunkte in Berlin … … und hier kommen die Regionalisierungmittel ins „Spiel“. Derzeit kämpfen die Länder um die Verteilung der Bundesmittel für den ÖPNV. Richtig. Die Bedeutung der hessischen Verkehrswege für die gesamte Bundesrepublik sollte sich auch in den Verteilungskriterien und der Höhe der Regionalisierungsmittel widerspiegeln. Noch heute basiert die Verteilung der Regionalisierungsmittel auf der Anzahl der Zugfahrten im Jahr 1993. Das war wichtig und richtig. Doch heute haben wir eine andere Situation und besonders Hessen als Verkehrsdrehscheibe muss stärker berücksichtigt werden. Sie sprechen von großen Herausforderungen für den ÖPNV. Welche Trends zeichnen sich für die kommenden Jahre in der Region Frankfurt RheinMain ab und wie begegnen Sie diesen? In den vergangenen Jahren wuchsen die Fahrgastzahlen im RMV-Gebiet kontinuierlich und insbesondere der regionale Verkehr auf der Schiene stieg deutlich an. Dieser Trend wird sich auch in Zukunft fortsetzen. Bis 2020 rechnen wir mit einer Nachfrageerhöhung von zwölf Prozent im Zulauf auf den Ballungsraum und von acht Prozent im Ballungsraum selbst. Beim Mobilitätsverhalten beobachten wir eine starke Tendenz hin zur Multimodalität. So verliert beispielsweise für junge Leute das Auto als Statussymbol immer mehr an Bedeutung. Sie denken nicht mehr in den Grenzen einzelner Verkehrsträger. Dieser Trend wird sich fortsetzen und auch andere Altersgruppen erfassen. Daher bauen wir im RMV das eTicket RheinMain immer stärker zur Mobilitätskarte aus. Wir wollen dem Nutzer auf der Grundlage eines leistungsfähigen ÖPNV und individueller Mehrwertservices ein maßgeschneidertes Mobilitätsangebot machen. Schon heute können Sie mit eTicket nicht nur Busse und- Bahnen, sondern auch Car-Sharing- Autos-und Fahrräder im Rhein-Main-Gebiet nutzen. Wir müssen aber auch die Bevölkerungsentwicklung und den demographischen Wandel im Auge behalten, ebenso die Veränderungen in der Arbeitswelt. Die Bevölkerung altert, Arbeitswege werden immer länger, Regionen sind zunehmend ausgedünnt, während Ballungsräume stark wachsen. Das alles hat einen großen Einluss auf die Verkehrsnachfrage. Wie bereits erwähnt, beobachten wir, dass der Bedarf an Verkehrsleistungen hin zu den Ballungszentren immer größer wird. Das betrift vor allem die Verkehrsachsen im Schienenpersonennahverkehr, die heute schon hoch ausgelastet sind und oftmals an der Kapazitätsgrenze operieren. Das zu erwartende Wachstum kann nur noch durch eine gezielte Ausweitung der Verkehrsangebote aufgefangen werden. In der Region Frankfurt RheinMain platzt jedoch - sinnbildlich ge- Internationales Verkehrswesen (66) 4 | 2014 39 Interview Knut Ringat INFRASTRUKTUR sprochen - die Schieneninfrastruktur aus allen Nähten. Hier besteht dringender Handlungsbedarf. Und den haben wir im Regionalen Nahverkehrsplan festgehalten. Dieser Masterplan, der bis 2019 gilt und alle Aspekte rund um den öfentlichen Nahverkehr der Region Frankfurt RheinMain behandelt, ist für uns ein wichtiger Handlungsleitfaden. Der RMV ist mit seinen mehr als 700 Millionen Fahrgästen pro Jahr eine wesentliche Säule des Mobilitätsangebotes in der Region. Und diese wollen wir festigen und zukunftsfähig weiter entwickeln. Mit dem RMV-Nahverkehrsplan haben Sie einen umfangreichen Masterplan für die nächsten Jahre vorgelegt. Wie sehen die Planungen für die stark wachsende Region Frankfurt Rhein- Main aus? Welche Schwerpunkte setzen Sie? Ein wichtiger Schwerpunkt sind die großen Infrastrukturprojekte im RMV, ohne die wir - wie bereits erwähnt - die notwendigen Verkehrsleistungen nicht anbieten können. Ganz wichtig für die Entwicklung des regionalen Schienenverkehrs sind neben dem S-Bahn-Ausbau Frankfurt West - Bad Vilbel - Friedberg und dem Bau der nordmainischen S-Bahn die Regionaltangente West, die S-Bahn-Anbindung von Gateway Gardens sowie die Schienenanbindung des geplanten Terminals 3 des Flughafens Frankfurt. Diese Maßnahmen entlasten vorwiegend den Knoten Frankfurt, der eine zentrale Rolle für Verkehr und Logistik in Deutschland spielt. Sie können aber ihre volle Wirkung nur dann entfalten, wenn sie komplett umgesetzt werden. Unser Nahverkehrsplan geht aber weit darüber hinaus: Er beschreibt umfassend die Weiterentwicklung des ÖPNV in der Region. Dazu gehören neben attraktiven konventionellen Verkehrsangeboten auch alternative lexible Bedienformen, die vor allem der Bevölkerungsentwicklung im ländlichen Raum Rechnung tragen. Auch der sukzessive barrierefreie Ausbau der knapp 400- Bahnhöfe und Haltepunkte im RMV sowie der Einsatz modernster Fahrzeuge sind für uns wesentliche Bausteine für die Attraktivität des ÖPNV. Verbesserung der Kundeninformation, ein neuer Tarif, Qualitätssicherung - all diese Maßnahmen und weitere lankieren unsere großen Infrastruktur-Projekte. Als Präsident der Deutschen Verkehrswissenschaftlichen Gesellschaft (DVWG) haben Sie des Öfteren den Vernetzungsgedanken aufgegrifen und sind nicht müde geworden, alle Akteure zur Zusammenarbeit aufzufordern. Wie wollen Sie hier weitere Impulse setzen? Was unsere Kinder uns in ihrem Denken und Handeln vorleben, muss endlich in der Verkehrspolitik verinnerlicht werden - intermodale Mobilität. Damit meine ich nicht, nur über verkehrsträgerübergreifende Projekte zu reden. Sondern wir müssen es wirklich denken und entsprechend umsetzen. Infrastruktur heißt nicht nur Schieneninfrastruktur, auch wenn diese momentan aufgrund ihres Zustandes und des Verkehrswachstums für den ÖPNV prioritär ist, sondern umfasst auch Straße und Wasserstraße. Ziel muss es sein, die Vorteile eines jeden Verkehrsträgers zu nutzen und eine optimale Vernetzung hinzubekommen. Dabei denke ich auch an alternative Bedienformen und Mobilitätsangebote. Wir haben im RMV bereits begonnen, den Verkehrsverbund zum Mobilitätsdienstleister auszubauen. Vom eTicket RheinMain habe ich ja schon gesprochen. Der Vernetzungsgedanke liegt mir sehr am Herzen, da ich überzeugt bin, dass wir nur mit intelligenten, innovativen Verkehrskonzepten den Anforderungen und Bedürfnissen von Menschen und Wirtschaft gerecht werden können. Aus diesem Grund haben wir gemeinsam mit unseren Partnern im vergangenen Jahr den 1. Deutschen Mobilitätskongress ins Leben gerufen. Vor wenigen Tagen fand der 2. Deutsche Mobilitätskongress statt. Wieder in Frankfurt am Main. Der Standort ist nicht zufällig gewählt? Als Standort haben wir uns ganz bewusst für die Verkehrsdrehscheibe Deutschlands entschieden, für die Region Frankfurt Rhein- Main. Auch in diesem Jahr ist der Kongress von den Beteiligten - von Verkehrsfachleuten, Wissenschaftlern und Politikern - sehr gut aufgenommen worden. Der Erfolg gibt uns Recht. Das Potential, die Bereitschaft und auch das Bedürfnis zu einem interdisziplinären, verkehrsträgerübergreifenden Diskurs sind da. Mich freut sehr, dass das Spartendenken zunehmend überwunden wird. ■ Knut Ringat studierte Technische Verkehrskybernetik an der Hochschule für Verkehrswesen „Friedrich List“ in Dresden. 1985 wurde er persönlicher Referent des Verkehrsdirektors der Dresdner Verkehrsbetriebe und war von 1986 bis 1994 bei der Stadtverwaltung Dresden unter anderem als Amtsleiter tätig. Von 1994 bis 2008 war er Geschäftsführer beim Zweckverband Verkehrsverbund Oberelbe und übernahm ab Januar 2000 zusätzlich die Geschäftsführung des Verkehrsverbundes Oberelbe GmbH. Seit April 2008 ist er Geschäftsführer und seit September 2009 Sprecher der Geschäftsführung der Rhein-Main-Verkehrsverbund GmbH. Seit Dezember 2009 lehrt Knut Ringat als Honorarprofessor an der TU Dresden. Er engagiert sich unter anderem seit 2009 als Vizepräsident des Verbands Deutscher Verkehrsunternehmen e.V. (VDV), als Vorsitzender der Sparte „Verbund- und Aufgabenträgerorganisationen“ des VDV sowie als Präsident der Deutschen Verkehrswissenschaftlichen Gesellschaft e.V. (DVWG). Seit 2013 ist er zudem Mitglied im Aufsichtsrat des House of Logistics and Mobility (HOLM GmbH), Frankfurt. ZUR PERSON
