eJournals Internationales Verkehrswesen 66/4

Internationales Verkehrswesen
iv
0020-9511
expert verlag Tübingen
10.24053/IV-2014-0128
111
2014
664

Luftreinhaltung - aber wie?

111
2014
Daniel Krajzewicz
Thorsten Neumann
Stefan  Hausberger
Rita Cyganski
Die Einhaltung von Grenzwerten für Schadstofe ist ein zunehmend wichtiger Bestandteil des Verkehrsmanagements. Eine Auswertung bisheriger Ansätze zeigt jedoch, dass nicht alle Maßnahmen erfolgreich sind. Mikroskopische Verkehrslusssimulationen, die die Bewegung einzelner Fahrzeuge modellieren, erlauben eine feingranulare, nach verschiedenen Verkehrsträgern unterteilbare A-priori-Bewertung solcher Ansätze. Eine hierfür notwendige Grundlage ist die korrekte Abbildung des Emissionsverhaltens von Fahrzeugen. Zudem sind weitere Modelle erforderlich, die z.B. die Änderungen im Mobilitätsverhalten der Teilnehmer vorhersagen können. Im Nachfolgenden werden ein solches Gesamtsystem sowie die sich aus diesem Zusammenspiel ergebenden Möglichkeiten beschrieben.
iv6640084
Internationales Verkehrswesen (66) 4 | 2014 84 TECHNOLOGIE Wissenschaft Luftreinhaltung - aber wie? Möglichkeiten der Nutzung mikroskopischer Verkehrslusssimulationen für eine A-priori- Bewertung von Verkehrsmanagementansätzen zur-Luftreinhaltung Die Einhaltung von Grenzwerten für Schadstofe ist ein zunehmend wichtiger Bestandteil des Verkehrsmanagements. Eine Auswertung bisheriger Ansätze zeigt jedoch, dass nicht alle Maßnahmen erfolgreich sind. Mikroskopische Verkehrslusssimulationen, die die Bewegung einzelner Fahrzeuge modellieren, erlauben eine feingranulare, nach verschiedenen Verkehrsträgern unterteilbare A-priori-Bewertung solcher Ansätze. Eine hierfür notwendige Grundlage ist die korrekte Abbildung des Emissionsverhaltens von Fahrzeugen. Zudem sind weitere Modelle erforderlich, die z.B. die Änderungen im Mobilitätsverhalten der Teilnehmer vorhersagen können. Im Nachfolgenden werden ein solches Gesamtsystem sowie die sich aus diesem Zusammenspiel ergebenden Möglichkeiten beschrieben. Die Autoren: Daniel Krajzewicz, Thorsten Neumann, Stefan Hausberger, Rita Cyganski D ie durch den Verkehr erzeugte Umweltbelastung mit Schadstofen steht schon seit längerem im Fokus der Öfentlichkeit. Die europäische Richtlinie über Luftqualität und saubere Luft [1] fordert ein Handeln der politisch Verantwortlichen bei der Überschreitung vorgegebener Grenzwerte. Dementsprechend sucht das Verkehrsmanagement (VM) nach Wegen, den Schadstofausstoß zu reduzieren oder räumlich zu begrenzen, respektive aus bestimmten örtlichen Bereichen herauszuhalten. Hierbei kommt eine große Spanne möglicher Ansätze zum Einsatz, die sich in ihrer zeitlichen und räumlichen Ausdehnung sowie in der Art der Maßnahme stark unterscheiden. Die Bandbreite reicht von der Implementierung neuer ÖPNV-Routen über Verkehrsbeschränkungen und Werbung für den ÖPNV bis hin zur Optimierung einzelner Lichtsignalanlagen oder kooperativen Telematikanwendungen. Damit adressieren die Maßnahmen unterschiedliche Faktoren, die den Verkehrsluss bestimmen. Eine umfangreiche Quelle für Maßnahmen des Verkehrsmanagements zur Luftreinhaltung an Verkehrswegen ist die Datenbankanwendung „MARLIS“ [2], die von der Firma AVISO GmbH im Auftrag der Bundesanstalt für Straßenwesen (BASt) erstellt worden ist. Neben anderen Attributen werden die in ihr enthaltenen Maßnahmen durch eine ordinal skalierte Wirkung beschrieben. Es zeigt sich, dass „… für einen großen Teil der Maßnahmen sowohl für NO2 (45 %) als auch für PM10 (43 %) höchstens ein geringes Wirkungspotential erwartet [wird], für weitere 53 % bzw. 56 % liegt die erwartete Wirkungsstufe in der Spannbreite von gering bis hoch“-[3,-Seite 4]. Tatsächlich könnten aber Auswirkungen dieser Maßnahmen auch vorab durch Simulationen bestimmt werden. Auch könnten solche Simulationen die optimale Maßnahme für ein deiniertes Gebiet wählen. Notwendig hierfür ist ein System, welches die durch die Maßnahmen adressierten Faktoren abbildet. Im Nachfolgenden wird ein möglicher Aubau eines solchen Systems umrissen. Mikroskopische Verkehrsflusssimulationen In „mikroskopischen Verkehrslusssimulationen“ werden alle simulierten Verkehrsteilnehmer einzeln modelliert. Dabei wird die Dynamik einzelner Fahrzeuge zumeist über eine Kombination von Modellen zur Geschwindigkeitswahl und zum Spurwechsel bestimmt. Moderne mikroskopische Simulationen können nicht Bild 1: Darstellung der Simulation der Stadt Braunschweig in SUMO; links: Gesamtszenario, rechts: Vergrößerung auf eine einzelne Kreuzung des Szenarios Internationales Verkehrswesen (66) 4 | 2014 85 Wissenschaft TECHNOLOGIE nur den Individualverkehr, sondern auch den ÖPNV samt Haltestellen und Fahrtzyklen, sowie verschiedene Verkehrsträger wie Fußgänger, Fahrräder oder schienengebundene Fahrzeuge integriert abbilden. Mikroskopische Simulationen des Verkehrslusses [4] sind ein in der Verkehrstechnik seit Jahrzehnten etabliertes Werkzeug zur Planung und Bewertung. Im operativen Einsatz werden sie zumeist für die Planung kleinerer Gebiete, die selten mehr als zehn Kreuzungen umfassen, genutzt. Durch die steigende Geschwindigkeit verfügbarer Rechentechnik sowie durch die Entwicklung schnellerer Modelle steigt auch die Größe mikroskopisch simulierbarer Straßennetze und selbst große Gebiete können schneller als in Echtzeit simuliert werden. Beispielsweise benötigt die am Deutschen Zentrum für Luft- und Raumfahrt (DLR) entwickelte Verkehrslusssimulation „SUMO“ [5] für die Simulation des Verkehrs eines Tages in der Stadt Braunschweig und ihrer Umgebung (siehe Bild 1) weniger als eine Stunde. Die mikroskopische Betrachtungsweise erlaubt es, den Fahrtverlauf einzelner Fahrzeuge detailliert zu analysieren und ggf. zu beeinlussen. Üblicherweise wird dabei jedem mikroskopisch simulierten Fahrzeug ein Typ zugeordnet über den z. B. klassenabhängige Befahrungsverbote für Straßen oder Spuren abgebildet werden können. Emissionsmodelle Die Anwendung mikroskopischer Verkehrslusssimulationen zur Vorhersage von Auswirkungen einer Umweltmaßnahme auf den Ausstoß von Schadstofen erfordert Möglichkeiten zur Berechnung der durch den Verkehr emittierten Schadstofe. Dabei ist bei der Wahl eines Emissionsmodells darauf zu achten, dass es zu der eingesetzten Simulation des Verkehrslusses passt. Mikroskopische Simulationen sind in der Lage, in jedem Simulationszeitschritt für jedes abgebildete Fahrzeug die Informationen über die aktuell gefahrene Geschwindigkeit, die aktuelle Beschleunigung, sowie die Steigung der befahrenen Straße zu liefern. Neben der Emissionsklasse sind dies die wichtigsten Eingangsgrößen für die Bestimmung der Menge ausgestoßener Schadstofe, und das eingesetzte Emissionsmodell sollte diese berücksichtigen. Gleichzeitig muss das Emissionsmodell die in der modellierten Stadt oder Region anzutrefende Fahrzeugpopulation abbilden können. Für die Simulation von VM-Maßnahmen zur Luftreinhaltung ist zusätzlich darauf zu achten, dass regulatorische Klassen der Fahrzeugpopulation - wie z. B. die Unterteilung in Euro-Normen - ebenfalls im Modell umgesetzt sind. Nur wenige Emissionsmodelle schafen einen solchen Spagat. Zumeist liegen diese als eine eigenständige Software vor, die Fahrzeugtrajektorien (Geschwindigkeit/ Beschleunigung über Zeit) einliest und entsprechend einer vorgegebenen Zuordnung oder Verteilung zu Emissionsklassen die entsprechenden Emissionen errechnet. Die Nutzung für die Simulation einer Stadt ist jedoch unter solchen Umständen schwierig: Eine Datei mit Fahrzeugtrajektorien des Verkehrs eines Tages innerhalb des in Bild 1 dargestellten Szenarios ist über 50- GB groß. Diese Datenmenge kann selten vollständig in entsprechende Emissionsmodelle eingelesen werden, die Rechenzeit wird durch den Datenaustausch zusätzlich stark verlängert. Dieses Problem kann jedoch durch ein direktes Einbetten des Emissionsmodells in die Verkehrslusssimulation gelöst werden. So ist innerhalb des von der Europäischen Kommission koinanzierten Projektes „COLOM- BO“ [6] ein Derivat des Modells „PHEM“ [7] der Technischen Universität Graz erstellt und in die Verkehrslusssimulation „SUMO“ eingebaut worden [8]. Das Emissionsmodell erhält in jedem Simulationszeitschritt die notwendigen Informationen über die Fahrzeuge und ihre Zustände und liefert die entsprechenden Emissionen. Durch die Integration kann der Nutzer zum Zeitpunkt des Ausführens der Simulation die gewünschten Aggregationsgrade festlegen. Eine Post-Prozessierung der erhaltenen Emissionswerte wird somit unnötig. Das bisher beschriebene System erlaubt es, eine Vielzahl möglicher VM-Maßnahmen nachzustellen [9]. So können beispielsweise Teile einer Stadt innerhalb der Simulation für bestimmte Fahrzeugtypen gesperrt werden, um Umweltzonen abzubilden. Straßen für bestimmte Verkehrsträger, z.B. Schwerlastverkehr, können gesperrt oder Geschwindigkeitsbeschränkungen modelliert werden. Die geänderte Befahrbarkeit und Attraktivität der betrofenen Straßen führt in der Realität zu einer Verlagerung des Verkehrs. Diese kann nachvollzogen werden, wenn im Anschluss an die umgesetzten Änderungen im Straßennetz eine wiederholte „Umlegung“ der Verkehrsnachfrage durchgeführt wird. Innerhalb ei- Bild 2: Veränderungen in der Straßennutzung (links, in Fahrzeugen über den Tag) und dem NO x - Ausstoß (rechts, zur Farbgebung normiert auf mg/ m über den Tag) bei einer virtuellen Umsetzung von Tempo-30-Zonen Internationales Verkehrswesen (66) 4 | 2014 86 TECHNOLOGIE Wissenschaft ner Umlegung werden für eine gegebene Nachfrage Routen durch das Straßennetz berechnet, wobei die durch das jeweilige Verkehrsaukommen hervorgerufenen Veränderungen der Reisezeiten berücksichtigt werden. Bild 2 zeigt beispielhaft die Änderungen in der Straßennutzung sowie die Änderungen im Ausstoß von NO x nach einer virtuellen Einführung von Tempo-30-Zonen innerhalb des Altstadtrings der Stadt Braunschweig. In der linken Abbildung ist zu sehen, dass die Straßen innerhalb der eingeführten Tempo-30-Zonen weniger benutzt werden (blau) und der Verkehr auf den Ring ausweicht (rot). Analog steigt die NO x -Belastung auf dem Ring, während die Tempo-30-Zonen weniger belastet werden, dargestellt in der rechten Abbildung. Mikroskopische Nachfragemodelle Dennoch ist eine solche Betrachtung nicht vollständig, da sie bis auf die Wahl neuer Routen keine Änderung im Verhalten der Verkehrsteilnehmer modelliert. Ein Wechsel des benutzten Transportmittels oder der Kauf eines neuen Fahrzeugs bleiben unberücksichtigt. Hier helfen synthetische Modelle der Bevölkerung des betrachteten Gebietes, wie z. B. das am DLR entwickelte TAPAS [10]. Diese nutzen verfügbare sozio-ökonomische Daten für die Herleitung einer virtuellen Population, innerhalb der jede Person durch Attribute wie u. a. Alter, Geschlecht, Wohn- und (falls zutrefend) Arbeitsort, Erwerbsstatus sowie PKW-Verfügbarkeit beschrieben wird. Die Einbeziehung von Statistiken über das Mobilitätsverhalten, wie sie z. B. aus der Befragung „Mobilität in Deutschland“ [11] erzeugt werden können, erlaubt für jede dieser simulierten Personen, eine Liste von Aktivitäten und nachfolgend eine Wegekette zu errechnen, die schließlich als Eingabe für die mikroskopische Umlegung dient. Solche Modelle sind sensitiv auf Einlüsse wie Fahrtkosten oder -dauer. Eine Änderung dieser, z. B. hervorgerufen durch die Umsetzung einer Umweltzone oder einer Geschwindigkeitsbegrenzung, kann innerhalb eines solchen Modells also nicht nur eine Änderung der Fahrtroute, sondern z. B. den Wechsel auf einen anderen Verkehrsträger nach sich ziehen. Modelle der Bevölkerung und mikroskopische Verkehrssimulation stehen somit in einem wechselseitigen Abhängigkeitsverhältnis, was einen iterativen Ablauf bei der Rechnung entsprechender Simulationen erzwingt. Die Kopplung zwischen dem oben genannten Modell „TAPAS“ und der mikroskopischen Verkehrslusssimulation „SUMO“ ist in diesem Sinne bereits erfolgt und wird derzeit innerhalb des DLR-Projektes „VEU - Verkehrsentwicklung und Umwelt“ zur Abschätzung der künftigen Entwicklungen des Verkehrssystems benutzt. Weitere Hürden Das vorgestellte System, das eine synthetische Bevölkerung, eine mikroskopische Verkehrslusssimulation sowie ein feingranulares Emissionsmodell miteinander vereint, kann das Emissionsverhalten und dessen Änderungen nach der Umsetzung einer Maßnahme zur Luftreinhaltung abbilden. Um als Entscheidungsgrundlage dienen zu können, sind dennoch weitere Bestandteile notwendig. So setzt die europäische Richtlinie über Luftqualität und saubere Luft Grenzwerte für die Schadstofbelastung, also Schadstoimmission, fest. Das vorgestellte Modell liefert jedoch nur die durch den Verkehr direkt erzeugten Emissionen. Für das Bereitstellen von Immissionen werden weitere Modelle für die Dispersion sowie die Hintergrundbelastung benötigt. ■ LITERATUR  [1] Das Europäische Parlament und der Rat der Europäischen Union (2008): Richtlinie 2008/ 50/ EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 21. Mai 2008 über Luftqualität und saubere Luft für Europa, http: / / eur-lex.europa.eu/ LexUriServ/ LexUriServ. do? uri=CELEX: 32008L0050: DE: NOT; zuletzt besucht am 14.10.2014.  [2] BASt (2012): MARLIS - Datenbank mit Maßnahmen zur Reinhaltung der Luft in Bezug auf Immissionen an Straßen, Version 3.1, http: / / www.bast.de/ DE/ FB-V/ Publikationen/ Datensammlungen/ MARLIS/ MARLIS.html? nn=636612; zuletzt besucht am 14.10.2014.  [3] AVISO GmbH (2012): Kurzinformation zur aktuellen MARLIS Version 3.0, MARLIS Version 3.0 beiliegend.  [4] Barceló, J. (Ed.) (2010): Fundamentals of Traic Simulation, International Series in Operations Research & Management Science, Vol. 145, Springer, ISBN 978-1-4419-6141-9.  [5] Krajzewicz, D., Erdmann, J., Behrisch, M. und Bieker, L. (2012): Recent Development and Applications of SUMO - Simulation of Urban MObility, In: International Journal On Advances in Systems and Measurements, 5, Seiten 128-138.  [6] COLOMBO consortium (2011-2014): Internetseiten des COLOMBO-Projektes, http: / / colombo-fp7.eu/ ; zuletzt besucht am 14.10.2014.  [7] Hausberger, S., Rexeis, M., Zallinger, M. und Luz, R. (2009): Emission Factors from the Model PHEM for the HBEFA Version 3, Report Nr. I-20/ 2009 Haus-Em 33/ 08/ 679.  [8] Krajzewicz, D., Hausberger, S., Wagner, P., Behrisch, M. und Krumnow, M. (2014): Second Generation of Pollutant Emission Models for SUMO. SUMO2014 - Second SUMO User Conference, 15.-16. Mai 2014, Berlin, Deutschland. ISSN 1866-721X.  [9] Krajzewicz, D., Furian, N., und Tomàs Vergés, J. (2014): Großlächige Simulation von Verkehrsmanagementansätzen zur Reduktion von Schadstofemissionen. In: 24. Verkehrswissenschaftliche Tage Dresden. [10] Justen, A. und Cyganski, R. (2008): Decision-making by microscopic demand modeling: a case study. In: Transportation decision making: issues, tools, models and case studies, ISBN 9-78-88-96049-06-8. [11] http: / / www.mobilitaet-in-deutschland.de/ ; zuletzt besucht am 14.10.2014. Thorsten Neumann, Dr.-Ing. Wissenschaftlicher Mitarbeiter, Institut für Verkehrssystemtechnik am Deutschen Zentrum für Luft- und Raumfahrt, Berlin thorsten.neumann@dlr.de Stefan Hausberger, Ao.Univ.-Prof. Dipl.-Ing. Dr.-techn. Institut für Verbrennungskraftmaschinen und Thermodynamik, Technische Universität Graz hausberger@ivt.tugraz.at Daniel Krajzewicz, Dipl.-Inf. Wissenschaftlicher Mitarbeiter, Institut für Verkehrssystemtechnik am Deutschen Zentrum für Luft- und Raumfahrt, Berlin daniel.krajzewicz@dlr.de Rita Cyganski, Dipl.-Geographin Gruppenleiterin, Institut für Verkehrsforschung am Deutschen Zentrum für Luft- und Raumfahrt, Berlin rita.cyganski@dlr.de