Internationales Verkehrswesen
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0020-9511
expert verlag Tübingen
10.24053/IV-2015-0017
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2015
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Liberalisierung des Fernverkehrs
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Tim Laage
Thilo Becker
Sven Lißner
Der Fernbusverkehr ist seit der Marktliberalisierung 2013 der am stärksten wachsende Verkehrsmarkt in Deutschland. Obwohl im Vorfeld der Novellierung des Personenbeförderungsgesetzes viele Prognosen zur Marktentwicklung erstellt wurden, fehlt bisher eine umfassende Evaluation der Gesetzesnovelle. Gerade die damals thematisierten Umweltvorteile basieren primär auf bedingt vergleichbaren Rahmenbedingungen des Gelegenheitsverkehrs mit Reisebussen. Zur Bewertung der heutigen verkehrlichen und ökologischen Folgen wurde deshalb am Standort Dresden eine Verkehrserhebung durchgeführt.
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Internationales Verkehrswesen (67) 1 | 2015 52 MOBILITÄT Fernbusverkehr Liberalisierung des Fernbusverkehrs Wie hoch ist der Beitrag zum Klimaschutz? Fernbus, Klimaschutz, Personenverkehr, Umweltfolgen Der Fernbusverkehr ist seit der Marktliberalisierung 2013 der am stärksten wachsende Verkehrsmarkt in Deutschland. Obwohl im Vorfeld der Novellierung des Personenbeförderungsgesetzes viele Prognosen zur Marktentwicklung erstellt wurden, fehlt bisher eine umfassende Evaluation der Gesetzesnovelle. Gerade die damals thematisierten Umweltvorteile basieren primär auf bedingt vergleichbaren Rahmenbedingungen des Gelegenheitsverkehrs mit Reisebussen. Zur Bewertung der heutigen verkehrlichen und ökologischen Folgen wurde deshalb am Standort Dresden eine Verkehrserhebung durchgeführt. Die Autoren: Tim Laage, Thilo Becker, Sven Lißner U m die Auswirkungen des Fernbusverkehrs auf die Umwelt berechnen zu können, ist eine fundierte Datengrundlage unabdingbar. Vergleichsweise leicht lassen sich die Fahrleistungen aus den Fahrplänen sowie die Emissionsfaktoren aus dem Handbuch für Emissionsfaktoren ermitteln ([1], s.-auch [2]). Die dritte notwendige Kenngröße zur Ermittlung der Umweltbelastung pro Personenkilometer, der Auslastungsgrad, stellt bisher allerdings eine Unbekannte dar. Aufgrund des starken Wettbewerbs ist nicht von einer freiwilligen Freigabe von streckenspezifischen Daten durch die Anbieter auszugehen. Die einzige, eingeschränkt verwendbare Grundlage stellen somit die Schätzungen des Bundesverbandes Deutscher Omnibusunternehmer dar [3]. Folgerichtig ergibt sich ein hoher Bedarf an repräsentativen Erhebungen. Für eine Bewertung des wachsenden Fernbusmarktes darf dieser nicht isoliert für sich betrachtet werden. Ein weiterer zentraler Punkt ist daher die Frage nach dem modalen Ursprung: Hätten die Fahrten auch ohne die preisgünstigen Fernbusse stattgefunden? Welche Verkehrsmittel wären alternativ verwendet worden? Aus dem Bedarf des Auslastungsgrades und der modalen Herkunft der Fahrgäste ergibt sich die in Bild 1 dargestellte Erhebungsstruktur einer kombinierten Zählung und Befragung. die Erhebung Die Erhebung wurde am Fernbushaltepunkt Dresden, Bayrische Straße (am Hbf ), während einer Normalwoche 1 Ende Mai 2014 durchgeführt. An den Erhebungstagen wurde von 6.30 Uhr bis 21.00 Uhr gezählt und befragt. Am betrachteten Haltepunkt finden täglich ca. 52 Abfahrten statt (Stand 05/ 2014). Fahrten mit internationalen Zielen wurden nicht erhoben. Die Erhebung bestand aus einer Fahrgastzählung mit anschließender bzw. paralleler Befragung. Für die Zählung wurden vor jeder Abfahrt die im Bus befindlichen Fahrgäste ermittelt. Im Zuge der Befragung wurden 952 Fahrgäste für die Befragung angesprochen. Die Verweigererquote lag bei lediglich 2,5 %. Erhoben wurden implizit die in Bild 2 ersichtlichen Fernbuslinien ab Dresden der Anbieter ADAC Postbus, BLB, FlixBus, MeinFernbus und internationaler Anbieter mit Zieldestination in Deutschland. Unterschieden wurde dabei im weiteren Verlauf der Auswertung vereinfacht in die Richtungen Chemnitz, Leipzig und Berlin. Auswertung der Fahrgastzählung Die Grundlage für die Berechnung der Auslastung besteht aus 331 erhobenen Abfahrten am Haltepunkt Dresden, Bayerische Straße. Im Berechnungsverfahren zur Ermittlung der Auslastung wurde diese in Abhängigkeit der ermittelten Sitzplätze des jeweiligen Fernbusses berechnet. Die durchschnittliche Auslastung für abfahrende Fernbuse beträgt dabei im Gegensatz zu den Annahmen des statistischen Bundesamtes nicht 55 % [4], sondern lediglich 46 %. Im Wochenverlauf ist eine deutliche Zunahme hin zu den Wochentagen Freitag, Samstag und Sonntag zu registrieren (Bild-3). Dieser Verlauf einer Wochenganglinie weist bereits deutlich auf private Fahrzwecke hin [5]. Diese These kann anhand der Fahrgastbefragung bestätigt werden, in der ein Anteil privater Fahrzwecke von 62 % ermittelt wurde. Auffällig sind weiterhin die starken Schwankungen zwischen den einzelnen Anbietern. Diese sind bei einem überwiegend niedrigen Preisniveau aller Bild 1: Erhebungsstruktur der Fernbuserhebung Internationales Verkehrswesen (67) 1 | 2015 53 Fernbusverkehr MOBILITÄT Anbieter unter anderem der Bedienhäufigkeit und Bedienzeit sowie dem Linienangebot zuzuschreiben. Die durchschnittlichen Auslastungen schwanken sowohl anbieterals auch relationsbezogen teilweise stark (Bild 4). Innerhalb Deutschlands werden ab Dresden lediglich die drei dargestellten Städte als nächste Ziele direkt angefahren. Berlin als Bundeshauptstadt, Kunst- und Kulturzentrum sowie internationaler Flughafenstandort weist trotz des großen Fahrtenangebotes (Anteil an den erhobenen Fahrten: 51 %) die höchste Verkehrsmittelauslastung auf. Ein weiterer Einflussfaktor auf Streckenangebot und Nachfrage im Fernbusverkehr ist die Ausprägung konkurierender Angebote, beispielsweise dem Fernverkehrsangebot der Deutschen Bahn. Auf der Relation Dresden - Berlin kann der Fernbus deutliche Vorteile hinsichtlich der Kombination aus Preis, Reisezeit und Bedienhäufigkeit 2 verzeichnen. Auswertung der Fahrgastbefragung Durch die Entwicklung eines neuen Marktes oder Produktes im Verkehrssegment entstehen zwangsläufig Bewegungen in Form eines Modal Shift im Sinne einer Abwanderungen von bestehenden Verkehrsmitteln beziehungsweise die Induktion neuer Verkehre. Verschiedene Quellen gingen im Vorfeld der Marktliberalisierung für Fernbusse davon aus, dass ein signifikanter Teil der Neukunden vom Motorisierten Individualverkehr (MIV) umsteigen würde [6,-7]. Durch die Auswertung der Befragungsdaten hinsichtlich der Frage nach der Verkehrsmittelwahl der Befragten in der Vergangenheit, kann diese Annahme zum Teil widerlegt werden. Wie in Bild 5 deutlich wird, sind 42 % der Fernbusfahrgäste ehemalige Kunden im Fernverkehr der Deutschen Bahn. Zwar liegt der Anteil von Nutzern, welche ihre modale Herkunft im MIV verorten, mit in Summe 49 % auf einem ähnlichen Niveau, doch muss der Schienenpersonenfernverkehr als eigenständiges Verkehrssystem die größten Verluste im Modal Shift hinnehmen. Somit ist zu vermuten, dass die Substitutionsbeziehung zwischen den öffentlichen Verkehrsmitteln wesentlich stärker sind als jene zu einem Individualverkehrsmittel [5]. Nicht zu vernachlässigen ist auch der, wenn auch geringe, Anteil induzierter Fahrten. Diese schlagen sich in zusätzlicher Personenverkehrsleistung nieder und sorgen somit für zusätzliche - verkehrsbedingte - Emissionen. 0% 10% 20% 30% 40% 50% 60% 70% 80% Mo Di Mi Do Fr Sa So n = 331 Fahrten Durchschnittliche Auslastung nach Unternehmen MeinFernbus FlixBus BLB ADAC Postbus Durchschnitt Bild 3: Wochenganglinie der Durchschnittsauslastung nach Unternehmen Bild 4: Relationsbezogene Auslastung Bild 2: Fernbuslinien ab bzw. durch Dresden Internationales Verkehrswesen (67) 1 | 2015 54 MOBILITÄT Fernbusverkehr Umweltbilanz nach der Marktliberalisierung Basierend auf den am Standort Dresden ermittelten Auslastungszahlen, den Streckenanteilen der Autobahn und der Verkehrssituationen auf den Relationen nach Berlin, Chemnitz und Leipzig und der Emissionsfaktoren (Standard-3-Achser-Bus mit 54 Sitzplätzen, 70 % Abgasnorm Euro 5, 30 % Euro 6) werden CO 2 -Äquivalente berechnet (Bild 6). Dabei weist der Fernbus trotz geringerer Durchschnittsauslastung im Vergleich mit dem Reisebus im Verkehrsmittelvergleich des Umweltbundesamtes (UBA) mit die geringsten Emissionen auf. Der Abstand gegenüber dem SPFV veringert sich jedoch. Schlussfolgerungen Mit der Satuierung des Marktes einhergehende höhere Auslastungen der Busse lassen bei der Umweltbilanz noch Verbesserungspotential vermuten. Aufgrund der geringen Emissionen ist der Fernbus bereits aktuell für alle Nutzer, die den Modal Shift vollzogen haben, die weniger umweltschädliche Alternative. Die aus dem Modal Shift resultierende geringere Auslastung der Bahn im SPFV darf hier jedoch nicht außer Acht gelassen werden. Gleiches gilt für die bisher noch nicht betrachteten Stickoxid- und Feinstaubemissionen sowie sonstige nicht berücksichtigte Umweltwirkungen. Mit Blick auf die Energiewende und die damit einhergehende Veränderung der Zusammensetzung des Bahnstrommixes hin zu einem hohen Anteil oder vollständiger Versorgung mit erneuerbarer Energie ist das Potential des Schienenverkehrs jedoch ungleich höher einzuschätzen. Aus ökologischer Sicht ist somit der hohe Anteil des Modal Shift von der Bahn zum Fernbus kurz und vielleicht auch mittelfristig positiv zu sehen, langfristig jedoch wohl ein Schritt in die falsche Richtung. Insgesamt machen Fernbusse den Fernverkehrsmarkt variantenreicher und die neue Konkurenz kann das Geschäft des öffentlichen Fernverkehrs zusätzlich beleben. Die Abweichung der realen Marktentwicklung von den ursprünglichen Erwartungen verdeutlicht allerdings den Bedarf an einer bundesweiten Evaluation. Darauf aufbauend muss gegebenenfalls entschieden werden, ob zur Gewährleistung eines fairen Wettbewerbs und zur Erreichung der umwelt- und verkehrspolitischen Ziele die regulatorischen Rahmenbedingungen angepasst werden müssen. ■ 1 Eine Normalwoche beschreibt eine Kalenderwoche im Sommerhalbjahr ohne Ferien und/ oder Feiertage oder sonstige Unregelmäßigkeiten. 2 Durchschnittliche Fahrtzeit SPNV im Schnitt 45 min länger. Fahrpreisvergleich über www.bahn.de bzw. www.busliniensuche.de QueLLeN [1] UBA (2014) Hrsg.: Handbuch Emissionsfaktoren des Straßenverkehrs, Version 3.2 / Juli 2014; Dokumentation zur Version Deutschland erarbeitet durch INFRAS AG Bern/ Schweiz in Zusammenarbeit mit IFEU Heidelberg; Umweltbundesamt Berlin. http: / / www.hbefa. net/ d/ start.html [2] UBA (2013): Vergleich der Emissionen einzelner Verkehrsträger im Personenverkehr. Umweltbundesamt Dessau. Online unter: http: / / www.umweltbundesamt.de/ themen/ verkehr-laerm/ emissionsdaten [3] IGES Institut GmbH (2013): Der Fernbusmarkt Deutschland Dezember 2013; Präsentation - IGES Mobilitätsberatung, Berlin. Online unter: http: / / www.fernbus24.de/ wp-content/ uploads/ 2013/ 12/ 13-41_Ein_Jahr_Marktoeffnung_IGES-Studie.pdf [4] Destatis (2014): Boom bei Linienfernbussen 2013. Pressemitteilung Statistisches Bundesamt, Wiesbaden, 08.10.2014 [5] Zumkeller, D. et al. (2005): Die intermodale Vernetzung von Personenverkehrsmitteln unter Berücksichtigung der Nutzerbedürfnisse. Schlussbericht Invermo; BMBF, Karlsruhe [6] Eisenkopf, A.; Burgdorf, C. (2010): Liberalisierung des Buslinienfernverkehrs in Deutschland. Wettbewerb. Marktentwicklung und Regulierungsrahmen, Studie der Zeppelin Universität Friedrichshafen im Auftrag des VDA [7] Hirschhausen, C. et al. (2008): Das Potenzial des Fernbusverkehrs in Deutschland. Transport Economic Working Papers, WP-TR-15, Dresden Thilo Becker, Dipl.-Ing. Professur für Verkehrsökologie, Institut für Verkehrsplanung und Straßenverkehr, Fakultät Verkehrswissenschaften „Friedrich List“, TU Dresden thilo.becker@tu-dresden.de Sven Lißner, Dipl.-Ing. Professur für Verkehrsökologie, Institut für Verkehrsplanung und Straßenverkehr, Fakultät Verkehrswissenschaften „Friedrich List“, TU Dresden sven.lissner@tu-dresden.de Tim Laage, Dipl.-Ing. Diplomstudiengang Verkehrsingenieurwesen, Institut für Verkehrsplanung und Straßenverkehr, Fakultät Verkehrswissenschaften „Friedrich List“, Technische Universität Dresden tim.laage@gmail.com Bild 6: Vergleich der CO 2 Emissionen, UBA Verkehrsmittelvergleich [2] ergänzt um Berechnungen für Fernbusse (in Klammern Auslastungsgrade) 42,3 26,0 23,2 4,0 4,6 0 10 20 30 40 50 SPFV MFG Pkw gar nicht sonstiges Anteile in Prozent n = 936 Modale Herkunft Bild 5: Modal Shift der befragten Fernbusfahrgäste 30,0 37,5 43,0 72,0 139,0 0 20 40 60 80 100 120 140 160 CO2-Äq. Emissionen in g/ pkm CO 2 - Äquivalent-Emissionen
