eJournals Internationales Verkehrswesen 67/1

Internationales Verkehrswesen
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0020-9511
expert verlag Tübingen
10.24053/IV-2015-0021
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2015
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Wird die ITK-Industrie die Automotive-Branche revolutionieren?

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Peter Fey
Seit das Google-Car fahrerlos seine Runden zieht, werden Google & Co. als potenzielle Wettbewerber der Automotive-Hersteller gehandelt. Wahr ist, dass in den nächsten Jahren eine ganze Reihe technischer Innovationen u.a. aus dem Umfeld der Informations- und Telekommunikationstechnologie (ITK) zu nachhaltigen Veränderungen rund um das Thema Autofahren führen wird. Sicher werden diese Entwicklungen den Einfluss der ITK-Industrie auf Erstausrüster und Automobilzulieferer deutlich steigern. Doch ist damit eine disruptive Entwicklung für die Automotive-Branche in Summe verbunden? Eine Analyse der Megatrends liefert Antworten.
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Internationales Verkehrswesen (67) 1 | 2015 63 Wird die ITK-Industrie die-Automotive-Branche revolutionieren? ITK-Technologie, Automotive, Wertschöpfungsstruktur, Megatrends, Connected Car Seit das Google-Car fahrerlos seine Runden zieht, werden Google & Co. als potenzielle Wettbewerber der Automotive-Hersteller gehandelt. Wahr ist, dass in den nächsten Jahren eine ganze Reihe technischer Innovationen u.a. aus dem Umfeld der Informations- und Telekommunikationstechnologie (ITK) zu nachhaltigen Veränderungen rund um das Thema Autofahren führen wird. Sicher werden diese Entwicklungen den Einfluss der ITK-Industrie auf Erstausrüster und Automobilzulieferer deutlich steigern. Doch ist damit eine disruptive Entwicklung für die Automotive-Branche in Summe verbunden? Eine Analyse der Megatrends liefert Antworten. Der Autor: Peter Fey Z u den branchenrelevanten Megatrends gehören zum einen solche, die bereits seit vielen Jahren Bestand haben und auch in naher bis mittlerer Zukunft eine entscheidende Rolle einnehmen werden. Gemeint sind hiermit zum Beispiel die Veränderungen durch die weiter voranschreitende Globalisierung in Verbindung mit der anhaltenden Verlagerung der Wertschöpfung von den Erstausrüster (OEMs) auf die Zulieferer (Supplier); hinzu kommen die Forderungen nach der Erfüllung noch höherer ökologischer Anforderungen, steigende Modell- und Variantenvielfalt und die die Reduzierung der Produktlebenszyklen. Alle diese Trends betreffen die Automotive-Industrie in ihrer klassischen Aufstellung und Wertschöpfungsstruktur. Zum anderen haben sich in den letzten Jahren zu diesen Trends auch solche hinzu gesellt, bei denen neben den klassischen Automotive-Suppliern auch branchenfremde Industrieunternehmen der Informations- und Telekommunikationstechnologie (ITK) über Kernkompetenzen verfügen, die denen der Automotive-Branche in einigen Fällen deutlich überlegen sind. Dazu gehören die weitere Durchdringung der Fahrzeuge mit Elektronik und Software für „Advanced Driver Assistance Systems“ (ADAS), die zunehmende Vernetzung der Automobile im Kontext des „Autonomen Fahrens“ Foto: Volvo Car Group Automotive-Trends TECHNOLOGIE Internationales Verkehrswesen (67) 1 | 2015 64 TECHNOLOGIE Automotive-Trends und auch Veränderungen im Nutzerverhalten, wenn es um Fragen der Mobilität geht. Vor allem im Kontext von Connected Cars und des autonomen Fahrens treten infolge des Phänomens „Big Data“ Herausforderungen auf, die rechtlicher und datenschutzorientierter Natur sind und mit denen ITK- Unternehmen eher vertraut sind als der klassische OEM aus dem Automotive- Bereich. Veränderungsdruck wächst Der sich abzeichnende Veränderungsdruck lässt sich gerade an den zuvor genannten Megatrends anschaulich verdeutlichen. Connected Cars Stehen unter diesem Schlagwort heute noch Dienste wie Infotainment, Verkehrsmeldungen, Notrufsysteme und die Übermittlung von Telematikdaten an die OEMs im Vordergrund, wird sich der Nutzen zukünftig erheblich ausweiten. Im Schwerpunkt fördert dieser technologische Trend die Konvergenz verschiedener Datenwelten, aber auch bisher getrennter Lebenswelten der Nutzer/ Autofahrer. Die nutzerbezogenen Daten (z. B. Fahrzustand und Fahrstrecke/ ziel) werden dabei mit denen aus der Infrastruktur (z. B. von Verkehrsflusssensoren und intelligenten Ampeln oder über Straßenverhältnisse auf der Strecke) und den Daten anderer Automobile im Zuge einer Vehicle-to-Vehicle-Kommunikation (V2V- Kommunikation) gekoppelt (Bild 1). Der Nutzen für den Autofahrer entsteht jedoch erst durch die Datenintegration und -verarbeitung. Wie ein Google-Manager es ausdrückte: „Das Fahren von Autos ist ein Informationsproblem. Genau das ist unser Geschäft.“ Auch bei der Konvergenz der Lebenswelten kommt es zu einem stärkeren Ineinandergreifen von Informationswelten, die bisher nichts bis wenig miteinander zu tun hatten: Der Mediaplayer zuhause wird ebenso mit dem Auto gekoppelt wie Smart Home-Anwendungen oder bekannte Funktionen aus der Office-Welt. Alleinstellungsmerkmal ist also die nutzenorientierte Bereitstellung von Information, um Effizienz, Sicherheit, Komfort und Ökologie zu verbessern. Hierbei geht es nicht um Mechanik und vordergründig auch nicht um mechatronische Lösungen - es geht vielmehr um die Bereitstellung gewünschter Serviceleistungen mit Hilfe leistungsfähiger Programme und Datenverarbeitungs- und Datenübertragungs- Systeme. Infrastrukturanbieter wie Cisco und IBM sind hier ebenso führend wie etwa die Content-Anbieter Google, Facebook oder Apple. Gleiches gilt für die Service Provider aus dem Telekommunikationsumfeld. Autonomes Fahren Bei diesem Thema treten ITK-Riesen wie Google oder Apple besonders offensichtlich gegen die etablierten Premiumhersteller wie Audi, BMW und Mercedes an. Schlagworte wie etwa Google Car (Bild 2) oder Robo-Taxi sprechen für sich. Zwar veröffentlichen die genannten Autohersteller in den letzten Monaten verstärkt Meldungen zum autonomen bzw. teilautonomen Fahren, doch aus heutiger Sicht kann noch nicht abschließend gesagt werden, wer hier die Nase vorne haben wird. Zur Zeit kann nur festgestellt werden, dass hinsichtlich der Kernfunktionalitäten des Autos die etablierten Anbieter einen deutlichen Vorsprung haben; wenn jedoch die Frage nach den Fähigkeiten im Umgang mit der Vernetzung und der Verarbeitung von Daten gestellt wird, dann sind zweifelsohne die ITK-Anbieter in der Spitzenposition, deren Kernkompetenz genau hierin verankert ist. Unter dem Strich wird das Rennen wohl durch die Nutzer entschieden werden. Erst durch die Verlinkung der verschiedensten Sensoren aus dem Antriebsstrang, dem Fahrwerk und der Kommunikationswelt wird vollautonomes Fahren auf breiter Front zugänglich. Autonomes Fahren auf der Autobahn wird für PKWs und für LKWs schon in naher Zukunft präsent sein (Bild 3). Auf den Landstraßen und mehr noch in den Städten fordert autonomes Fahren jedoch einen weit umfassenderen und komplexeren Umgang hinsichtlich der Verarbeitung von Daten. Zwar stecken bereits heute in der Elektronik eines gut ausgestatteten Oberklassenfahrzeugs mit bis zu 100 Mio. „Lines of Code“ mehr Programmzeilen als in der eines Flugzeugs (ca. 20 bis 35 Mio. Zeilen), dennoch liegt in der Verknüpfung der Daten mit solchen außerhalb des „technischen Ökosystems Auto“ die eigentliche Herausforderung. Hier haben ITK-Unternehmen deutlich die Nase vorn. Veränderung der Nutzenerwartungen Was für Nokia und Apple galt, kann auch in der Automotive-Welt nicht ganz vernachlässigt werden: War zu Hoch-Zeiten von Nokia ein Mobile-Phone noch primär ein Telefon mit Tasten, ist dieses durch Apple und andere zu einem leistungsfähigen mobilen Computer mit Touchscreen mutiert. Smartphones beherrschen den Markt der mobilen Kommunikation, weil sie die Nutzenerwartungen der heutigen Verbraucher besser und zielgerichteter erfüllen als einfache Tastentelefone. Wird die Nutzenerwartung Home-Automation Smart-Grid Versorger Life-Style Fahrerlebnis Mobilität Service Provider/ Kommunikation Komfort User/ Connected Car Bild 2: Der autonom fahrende Versuchsträger von Google Quelle: Raoul Ranoa/ Google Bild 1: Konvergenz der Lebenswelten Alle Grafiken: Dr. Wieselhuber & Partner Internationales Verkehrswesen (67) 1 | 2015 65 Automotive-Trends TECHNOLOGIE an das Autofahren bzw. die Mobilität einem ähnlichen Wandel unterworfen werden? Wenn dem so ist, wird es zwangsläufig zu einer Veränderung in der Wertschöpfungsstruktur der Automotive-Industrie kommen. Derartige Tendenzen zeichnen sich bereits heute ab: Immer mehr und insbesondere die jungen Autofahrer verlangen ein hohes Maß an Konnektivität. Hierbei geht es, wie bereits oben beschrieben, um die Verlinkung unterschiedlichster Daten- und Lebenswelten. Das Autofahren als solches wird zwar auch künftig einen hohen Stellenwert besitzen - was aber sind in Zukunft die wirklich kaufentscheidenden Faktoren? Dienste wie „Mobility on Demand“, Versicherungsangebote, die sich am Fahrverhalten der Autofahrer orientieren, intelligente, vorausschauende Verkehrsführung sowie neue Formen des Flottenmanagements bieten im privaten wie auch im professionellen Umfeld entscheidenden Nutzen (Bild 4). Allerdings haben viele dieser Dienste eines gemeinsam: Sie werden nicht von den OEMs oder den klassischen Suppliern angeboten. Das ist solange nicht bedenklich, wie Fahrspaß, Luxus und Prestige noch die Entscheidung beim Autokauf dominieren. Nase vorn mit Schrittmachertechnologien Wird also die ITK-Industrie die Automotive-Branche revolutionieren? Die Antwort ist einfach: Wer die Schrittmachertechnologien einer Branche beherrscht, wird früher oder später die Branche dominieren. Dieser Trend ermöglicht neuen Playern den Eintritt in den Automotive-Markt. Hinzu kommt, dass die Kerntechnologien Elektronik, Software und Content-Management von den Unternehmen der ITK-Branche in der Regel besser beherrscht und vor allem deutlich kurzzyklischer vorangetrieben werden als in der Automobilindustrie. Letztlich entscheidet heutzutage im erheblichen Maße der Zeitfaktor über Erfolg oder Misserfolg einer Innovation. Andererseits wird zukünftig ein Mindestmaß an Offenheit der Systeme wichtig sein, was den proprietären Systemen der Automotive-Industrie zuwider läuft. Hinzu kommt: In Zukunft wird auch eine Update- und Upgrade-Fähigkeit der Systeme über den gesamten Produktlebenszyklus von Automobilien an Relevanz gewinnen. Auch hinsichtlich dieser Aufgabenstellungen werden die relevanten Prozesse von der ITK- Industrie seit Jahren erfolgreich praktiziert. Das Setzen von Standards, schnellere Innovationszyklen, eine hohe Software-Expertise und ein großes Gespür für die Bedürfnisse der Kunden im Hinblick auf die von diesen erwarteten Inhalte lässt die ITK-Unternehmen die Nase vorne haben. Entscheidend hierbei ist der Zugang zu einer Vielfalt von Daten und deren intelligente Vernetzung über leistungsfähige Programme bzw. Algorithmen mit Fokus auf den vom Autofahrer erwarteten Mehrwert. Den Extremfall unterstellt, könnten die skizzierten Entwicklungen zu einer völligen Neuordnung der Branchenstruktur führen: Statt der bekannten Wertschöpfungskette „Supplier - OEMs - Händler“ könnte sich in Zukunft eine völlig neue Kette bilden: „Hersteller - Netzwerkinfrastruktur-Anbieter - Content-Integratoren“. Noch scheint dieses Zukunftsszenario sehr abstrakt, noch wähnt sich der eine oder andere Automotive-Manager mit einem komfortablen Zeitpolster ausgestattet. Zu unterschätzen ist die Entwicklung jedoch keineswegs. Vor diesem Hintergrund müssen die etablierten OEMs und Zulieferer ihre Geschäftsmodelle anpassen, wollen sie nicht langfristig von den Entwicklungen überrollt werden. ■ Peter Fey, Dr. Branchenexperte, Dr. Wieselhuber & Partner, München fey@wieselhuber.de 100% Gestern Morgen Heute § Mobilität § Sicherheit § Ökologie § Ökologie § Sicherheit § Mobilität § Mobilität § Komplexe Assistenzsysteme (ADAS) § Content-basierte Services § Nutzen jenseits des Fahrens i.e.S. Nutzenerwartung § Infotainment § Telematik § Einfache Fahrerassistenzsysteme § Sicherheit § Ökologie § Infotainment § Telematik § Einfache Fahrerassistenzsysteme Bild 4: Verschiebungen der Nutzenerwartung Bild 3: Autonomes Fahren als fester Alltagsbestandteil bis 2035 2020: Hochautomatisiertes Fahren als Sonderausstattung in Premiumfahrzeugen 2025: Vollautomatisiertes Fahren; Kein Eingreifen des Fahrers mehr notwendig 2035: Durchdringung der Driving Base; ca. 200 Mio. automatisierte, vollautomatisierte oder autonome PKWs, was einem Marktanteil von ca. 20 % entspricht 2016: Teilautonomes Fahren (z.B. Autobahnpilot) 2015: Passive und aktive Sicherheitssysteme (z.B. Spurwechselwarnung, Brems-Assistent) Zeitachse Technologiefortschritt