eJournals Internationales Verkehrswesen 67/1

Internationales Verkehrswesen
iv
0020-9511
expert verlag Tübingen
10.24053/IV-2015-0023
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2015
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Zulassungsprozesse für Fahrzeuge in Deutschland

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Jürgen Siegmann
Die dreiteilige Artikelreihe vergleicht die Zulassungsprozesse verschiedener Verkehrssysteme. Sie soll Unterschiede und mögliche Schwachstellen herausarbeiten und Möglichkeiten zur Optimierung aufdecken. – Teil 3 behandelt den aktuellen Stand der Zulassungsprozesse für Schienenfahrzeuge und gibt Empfehlungen an die Politik.
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Internationales Verkehrswesen (67) 1 | 2015 69 Zulassungsprozesse für Fahrzeuge in Deutschland Straße, Luft und Schiene im Vergleich - Teil 3: Schiene Verkehrssysteme, Fahrzeugzulassung, Schienenfahrzeuge, Zulassungsprozesse Die dreiteilige Artikelreihe vergleicht die Zulassungsprozesse verschiedener Verkehrssysteme. Sie soll Unterschiede und mögliche Schwachstellen herausarbeiten und Möglichkeiten zur Optimierung aufdecken. - Teil 3 behandelt den aktuellen Stand der Zulassungsprozesse für Schienenfahrzeuge und gibt Empfehlungen an die Politik. Der Autor: Jürgen Siegmann A lle Akteure im System Bahn bedauern seit geraumer Zeit die zunehmenden Verzögerungen in den Zulassungsprozessen von Schienenfahrzeugen. Die Zulassungsprozesse für Flugzeuge und Automobile verlaufen dagegen scheinbar reibungslos und effizient. Daher befasst sich die Artikelserie mit dem Vergleich der Systeme, um hieraus - so weit erkennbar - Lernprozesse anzustoßen und verbleibende Schwachstellen aufzudecken. Systemunterschiede und Vergleichbarkeit Vorgaben für das System Bahn Das hohe erreichte Sicherheitsniveau sowohl auf der Fahrwegseite als auch bei den Schienenfahrzeugen und deren Zusammenspiel beim Bahnbetrieb darf nicht durch neue Komponenten gefährdet werden. Gesetzliche Regelungen wie die Eisenbahnbau- und -betriebsordnung (EBO) auf Basis des Allgemeinen Eisenbahngesetzes (AEG) definieren Mindeststandards für das komplexe Zusammenspiel von Fahrzeug und Fahrweg. Noch genauer werden die Erfahrungen aus mehr als 175 Jahren Bahnbetrieb in diversen weiteren Regelwerken festgehalten. EBO § 2 verlangt, dass bei jeder Änderung im System mindestens die gleiche Sicherheit erreicht wird wie bei Verwendung der vorhandenen Komponenten und Betriebsvorschriften. Weil jede Neuerung häufig ein wenig mehr Sicherheit liefert, droht das System Bahn sich langfristig wegen seines dann erreichten Sicherheitsniveaus bezüglich der Innovation selbst zu hemmen. Historisch sind die vorwiegend staatlichen Bahnen in Europa nicht einheitlich gewachsen, sie haben sich zeitweise bewusst von Systemen in anderen Ländern abgegrenzt. Mit dem Ziel der Durchlässigkeit der Grenzen, einer universellen Verwendbarkeit von Wagen und Triebfahrzeugen und der Erhöhung der Stückzahlen der diversen Bahnkomponenten - mit entsprechender Preisdegression - verfolgt die EU seit mehr als 15 Jahren die Vereinheitlichung der Bahnsysteme und will das u. a. mit den Technischen Spezifikationen Interoperabilität (TSI) erreichen. Da jedes Land sich nach seinen Möglichkeiten und Rand- Foto: Siemens Fahrzeugzulassung TECHNOLOGIE Internationales Verkehrswesen (67) 1 | 2015 70 TECHNOLOGIE Fahrzeugzulassung bedingungen an die EU-Vorgaben anpassen muss, werden die Bahnsysteme im EU- Raum dennoch mindestens 20 Jahre uneinheitlich sein. Vergleich der Bedingungen der Verkehrssysteme Aus einem Vergleich der Zulassungsprozesse bei Flugzeugen und Straßenbzw. Schienenfahrzeugen sollen daher Empfehlungen abgeleitet werden, wie die bereits eingeleiteten Schritte zur Verbesserung der Zulassungen (u. a. Handbuch Zulassung Schiene) im Sinne von best practice noch weiter optimiert werden können. Die Ausführungen zu Straßenfahrzeugen finden sich in Internationales Verkehrswesen 3/ 2014 [1], die zu Flugzeugen in Ausgabe 4/ 2014 [2]. Dazu sind in Tabelle 1 nochmals die Eckdaten der drei Verkehrssysteme gegenübergestellt. Schienenverkehr Anzahl der Zulassungsprozesse je Jahr geschätzt Die hohen Anforderungen im Bahnsystem führen zu einer wirtschaftlichen Lebensdauer der Fahrzeuge und Fahrwegkomponenten von 30 bis 50 Jahren mit der Folge, dass jährlich nur relativ wenig Neufahrzeuge beschafft werden. Es gibt nur einen sehr gering ausgeprägten Gebrauchtfahrzeugmarkt. Geschätzt werden jährlich Anträge auf Zulassung für etwa 10 Triebfahrzeugbaureihen, etwa 15 Triebwagentypen für den Schienenpersonennahverkehr (SPNV) und drei Fahrzeugtypen für den Schienenpersonenfernverkehr (SPFV) sowie etwa neue 20 Güterwagenbaureihen oder -derivate gestellt. Jährlich werden von allen deutschen Eisenbahnverkehrsunternehmen (EVU) oder Wagenhaltern etwa durchschnittlich • 100 Fahrzeuge für den SPNV auf Vollbahnen • zehn Fahrzeuge für den SPFV (stark schwankend je Jahr von 0 bis 15 Fz/ a) • 20 Triebfahrzeuge (zwischen 0 und 50 Fahrzeuge/ a) • 2000 Güterwagen diverser Baureihen neu beschafft. Diese Zahlen ergeben sich aus der Hochrechnung diverser Veröffentlichungen der Bahnen und der Hersteller. Insbesondere im SPNV besteht derzeit aber ein umfangreicher Tauschmarkt mit diversen Aufarbeitungsprogrammen und Besitzerwechseln, wobei unter Umständen auch erneuter Zulassungsbedarf besteht. Bei vielen SPNV-Ausschreibungen wird der Einsatz von Neufahrzeugen mit speziellen, vom Besteller geforderten Ausstattungen gefordert - wozu alle Anbieter sich Angebote von Fahrzeugherstellern einholen müssen, aber nur einer zum Zuge kommt, also wirklich eine Bestellung auslöst. Die technische Lebensdauer von Schienenfahrzeugen liegt bei 30 bis 50 Jahren, wobei mehrere Redesign-Maßnahmen zwischendurch erfolgen. Ältere Fahrzeuge im SPFV sind z. B. viele IC-Wagen, die teilweise auf Rahmen aus den 1950er Jahren laufen und dringend einer Ablösung bedürfen. Auch hierfür wird der neue ICx konzipiert. Die ICE-Flotte ist relativ modern, der ICE1 wurde etwa 1990 in Betrieb genommen, der ICE2 1998 und der ICE3 von 2000 bis 2002. Neue ICE-Baureihen (BR 407) kommen nach jahrelangen Verzögerungen auch infolge Zulassungsschwierigkeiten erst ab 2014 nach und nach zum kommerziellen Einsatz. Der Marktdruck und die Trennung von Netz und Betrieb führen zu einem starken Veränderungsprozess bei allen Systemkomponenten. Die SPNV-Leistungen werden ausgeschrieben und die Besteller verlangen unter Umständen Fahrzeuge mit besonderen Merkmalen, die noch nicht am Markt verfügbar sind. Die Folge sind lange Zulassungsprozesse auch für Derivate bewährter Baureihen und unterschiedliche, untereinander nicht kompatible SPNV-Fahrzeuge im deutschen Schienennetz [3]. In den eigenwirtschaftlichen Angebotsformen SPFV und Schienengüterverkehr (SGV) müssen Mehrverkehr durch Innovationen und Mehraufwand durch neue Fahrzeuge oder Betriebsweisen in Einklang gebracht werden. Bei den Güterwagen ist eine breite Spanne in der Altersverteilung anzutreffen. Die etwa 60 000 Privatgüterwagen (u.a. nahezu alle Kesselwagen) sind mit etwa zehn bis 15- Jahren mittleres Alter relativ modern. Das trifft auch auf die vielen KV-Tragwagen für Container zu, da dieser stark wachsende Markt ständig nach neuen Tragwagen verlangt. Die übrigen Güterwagen zeigen moderne Baureihen in boomenden Märkten (Autotransporte, spezielles Massengut) und Auslaufmodelle wie die Zweiachs-Güterwagen für Kaufmannsgüter. Ein großer Bereich der Zulassung von Bahnfahrzeugen sind Nebenfahrzeuge wie Zweiwegebagger, Inspektionsfahrzeuge und andere, die insbesondere durch ihre Spezialanbauten individuell auf Bahntauglichkeit geprüft werden müssen. Bei den sehr kleinen Stückzahlen ist der Aufwand relativ hoch. Die Instandhaltung erfolgt in der Regel zeitabhängig, lediglich in besonderen Fällen oder als Selbstverpflichtung der Betreiber wird auch laufleistungsabhängig eine Instandhaltung oder Inspektion durchgeführt. So ordnete das Eisenbahnbundesamt (EBA) nach dem Radbruch bei einem ICE3 in Köln eine Kontrolle aller Achsen nach 30 000 km Laufleistung an, so dass diese ICE dann monatlich zur Untersuchung aller Räder muss- Luftfahrt Straßenverkehr Eisenbahn Bewegungsoptionen 3-D (Raum) 2-D (Fläche) 1-D (Linie) Bediener Verantwortlicher Fahrzeugführer meist redundant nicht redundant nicht redundant Professionalität der Fahrzeugführer fast vollständig hauptberuflich geringer Anteil hauptberuflich fast vollständig hauptberuflich Ausbildung Theorie > 750 Stunden > 21 Stunden ~ 800 Stunden Praxis > 1500 Stunden > 9 Stunden 1 ~ 400 Stunden Schulung auf Fahrzeugtyp Ja Nein Ja Weiterbildung Erforderlich Nicht erforderlich Erforderlich Technische Rahmenbedingungen Dokumentation Fahrten/ Betriebsstunden Ja Nein Überwachung der Laufleistung, automatische Fahrtenschreiber Instandhaltung, Reparatur Nur von zertifizierten Betrieben Werkstätten, Selbsthilfe Nur von zertifizierten Betrieben, dann auch kleine Werkstätten Unfallanalyse Jeder Unfall/ schwere Störung, durch unabhängige staatliche Stelle In Einzelfällen, durch zertifizierte Gutachter Jeder Unfall/ schwere Störung, durch unabhängige staatliche Stelle Stückzahlen (in Europa) 103 (fallend) 106 (steigend) 103 (fallend, bei steigender Fahrleistung pro Triebfahrzeug) Modellwechsel ca. 20 Jahre ca. 5 - 7 Jahre ca. 20 Jahre für Triebfahrzeuge Tabelle 1: Vergleich der Bedingungen der Verkehrssysteme Internationales Verkehrswesen (67) 1 | 2015 71 Fahrzeugzulassung TECHNOLOGIE ten und eine Neuaufstellung der Umlaufpläne notwendig war. Diese intensive Kontrolle hat aber keine weiteren bekannt gewordenen Auffälligkeiten gezeigt. Güterwagen haben sehr unterschiedliche Laufleistungen zwischen 20 000 und 300 000 km/ a. Im Nahverkehr sind Inspektionen, Nachschauen oder größere Wartungsarbeiten langfristig in den Fahrzeugeinsatz eingeplant und entsprechende Reservegarnituren werden vorgehalten. Die Arbeiten werden zumeist an einem zentralen Ort im Einsatzgebiet durchgeführt, so dass Überführungsfahrten selten notwendig sind. Zulassungsinstitutionen und amtliche Zulassungsbehörde Heute stimmen sich die Zulassungsbehörde, das EBA und die Hersteller über die für ein neues Produkt zu berücksichtigen Regelungen und Normen ab. Das EBA überwacht stichprobenartig die Produktion. Es stellt eine Liste der für die Zulassung vorzulegenden Sachverständigengutachten zusammen. Wenn diese zu einem positiven Urteil kommen und das EBA die Gutachten akzeptiert, kann eine Zulassung erteilt werden. Anderenfalls werden weitere Gutachten eingeholt - auf Kosten der Hersteller - oder Zulassungsfahrten bis hin zu einem Testprogramm werden angeordnet. Nach den Zielvorstellungen der EU, formuliert in der EU-Richtlinie 2008/ 57/ EG [5] mit dem Leitmotiv des Cross Acceptance, der gegenseitigen Anerkennung von Zulassungen in einzelnen Mitgliedsländern, wurde kürzlich das Dokument DV 29 verabschiedet, das die Sicherheitsrichtlinie Common Safety Measurements (CSM) und die Interoperabilitätsrichtlinie TSI verbinden soll. Dieses Dokument beschreibt auch die Konformitätsbewertung und definiert dazu folgende Organe: • NoBo - Notified Body - mit der Aufgabe der Bewertung der Konformität mit den TSI (erfüllt oder nicht erfüllt). • DeBo - Design Body - zur Bewertung der Konformität mit den notifizierten nationalen Vorschriften. Auch hier ist das Ergebnis erfüllt oder nicht erfüllt. • AssBo - Assessment Body - für eine Risikobewertung gemäß der CSM-Verordnung. Dies ist wichtig insbesondere bei der Zulassung von innovativen Komponenten, die mit den vorhandenen Zulassungsbedingungen nicht komplett abgedeckt werden können. Inzwischen hat die DEKRA eine Notifizierung als AssBo erhalten. Damit haben die europäischen Ebenen einen weiteren Schritt zur Vereinheitlichung der europäischen Bahnsysteme getan. Notified Bodies, benannte Stellen für die Interoperabilität, sind in Deutschland eine Ausgründung des EBA, die EBC. Benannt, also anerkannt als nationale Prüfstelle gemäß den europäischen Normen TSI, werden sie von der European Railway Agency (ERA), die bisher selbst kaum Prüfungen durchführt oder Zulassungen erteilt. Sowohl neue Fahrzeuge als auch Fahrweg- und Sicherungselemente sowie die Betriebsverfahren müssen zugelassen werden. Als Verbindung zwischen Interoperabilitäts- und Sicherheitsrichtlinie dienen diverse CSM-Kapitel und EU-Verordnungen (Komformitätsbewertung, Supervision für NSA über EVU und EIU, Monitoring für EVU, EIU und ECM und Risikoevaluierung). Das Zusammenspiel der neuen Institutionen im Bereich Zulassung Schiene zeigt Bild 1. Die TSI müssen in nationales Recht einfließen, sind aber selbst noch nicht „abgetropft“, befinden sich also im Entwicklungsprozess. Daher gibt es in Europa noch keine verlässlichen Regeln für eine nachhaltige Zulassung. Die EU schafft es bisher nicht, die Geschwindigkeiten in den Umsetzungsprozessen in den diversen Mitgliedsländern anzupassen. Die Umsetzung in die Praxis scheitert meist an fehlenden Finanzmitteln. Die Zulassungsbehörde EBA/ EBC hat einen Kranz von zertifizierten Prüfinstituten, die im Auftrag der Industrie diverse Versuche durchführen und so die Nachweise der Gebrauchstauglichkeit erbringen. Lastannahmen und Prüfbedingungen sind in DIN- Normen festgelegt. Das EBA zertifiziert diese Gutachter und erteilt letztendlich die generelle Zulassung oder eine für den Einzelfall. Das Ende der bisher notwendigen Einzel-Inbetriebnahmegenehmigungen von Schienenfahrzeugen soll die Typenzulassung bringen, die derzeit vom Bundesrat beraten wird. Fahrzeugtypen können dabei entweder auf Grundlage einer EG-Baumusterprüfung genehmigt werden oder es wird ein Einzelfahrzeug genehmigt und der Antragsteller gibt eine Konfirmitätserklärung ab, dass die Serie mit einem geprüften Einzelfahrzeug übereinstimmt. Die Sicherheitsbehörde kann eine Typgenehmigung widerrufen, falls sicherheitsrelevante Änderungen vorgenommen wurden. Die Europäische Eisenbahnagentur ERA wird dann informiert. Auch für Teile oder Teilsysteme kann diese Regelung zukünftig Anwendung finden. Die Notified Bodies, die die Baumuster auf Konformität mit den relevanten TSI prüfen, können Zwischenprüfbescheinigungen und Konformitätsbescheinigungen für diese identisch zu verbauenden Teilsysteme ausstellen. Der neue Zulassungsprozess Anträge auf Erteilung einer Inbetriebnahmegenehmigung dürfen seit Oktober 2013 auch die Hersteller und Fahrzeughalter stellen, nicht nur wie bisher die Eisenbahnverkehrsunternehmen (EVU). Die Prüfungen im Rahmen von Fahrzeugzulassungen dürfen nun auch private Organisationen durchführen; bisher war dafür allein das EBA zuständig, das mangels eigener Prüfkapazitäten dafür auch zertifizierte Gutachter damit beauftragt hat. Das EBA bleibt aber die Behörde, die der Zulassung von Bahntechnik Rechtskraft verleiht. Der Verband der Bahnindustrie in Deutschland (VDB) sieht damit auch für den Bahnsektor ähnliche Strukturen, wie sie sich im Bereich Luftfahrt und für Straßenfahrzeuge seit Jahren bewährt haben (vgl. [4]). Die EU hat mit den Interoperabilitätsrichtlinien in transeuropäischen Hochgeschwindigkeitsverkehr und auch im konventionellen Schienenverkehr wichtige Schritte in Richtung einer technischen Harmonisierung der Bahnen in Europa getan. Diese wurde mit der TEIV (Transeuropäische Eisenbahn-Interoperabilitätsverordnung) 2012 auch in Deutschland umgesetzt. Damit wird eine technische Mindestkompatibilität der Bahntechnik in Europa verfolgt. Zum Zeitpunkt der Inbetriebnahme müssen die Bahnfahrzeuge den jeweiligen Anforderungen der öffentlichen Sicherheit Bild 1: Neuer Prozess für eine Inbetriebnahmegenehmigung für Schienenfahrzeuge [4] NoBo - Notified Body DeBo - Design Body AssBo - Assessment Body Internationales Verkehrswesen (67) 1 | 2015 72 TECHNOLOGIE Fahrzeugzulassung entsprechen. Das EBA ist für die Durchführung des Inbetriebnahmeverfahrens nach der TEIV zuständig. Die Antragsteller (Industrie, Bahnen, Wagenhalter) müssen durch entsprechende Gutachten nachweisen, dass die definierten Anforderungen eingehalten werden. Nach der Inbetriebnahme sind für die Sicherheit im Betrieb der Fahrzeuge die Eisenbahnen und Halter verantwortlich. Wenn die Nachweise nicht rechtzeitig oder nicht vollständig erbracht werden können, kommt es zu Verzögerungen im Genehmigungsprozess. Die Antragsteller sind aber meist in den Zwängen abgeschlossener Ablieferungs- oder Betriebsaufnahmeverträge, so dass es unter Umständen zu Vertragsauflösungen oder finanziellen Lasten kommt. Druck auf die Zulassungsbehörden hilft aber hier nicht weiter. Zwar sollten diese ausreichend personell ausgestattet sein - nur können nicht genehmigungsfähige Objekte eben keine Zulassung erhalten. Insbesondere bei Problemen im Bereich Bremse oder Insassensicherheit hat die Zulassungsbehörde keinerlei Toleranzspielraum. Auch beim Betreten von Bereichen mit wenigen Betriebserfahrungen - etwa bei neuen Materialien für die Achsen von Bahnfahrzeugen - müssen umfangreiche Prüfungen erfolgen, um u. a. die Dauerfestigkeit nachzuweisen. Weitere Entwicklung der Zulassungsprozesse Schiene Die Fahrzeuge müssen netzkompatibel sein, also möglichst freizügig verkehren können, was bei der Zersplitterung der Bahnwelt (Spurweite, Bahnstrom, Lichtraumprofile, Bahnsteighöhen und -längen sowie Leit- und Sicherungstechnik) einen sehr großen Anspruch darstellt. Angestrebt dabei wird der barrierefreie Netzzugang in- Europa, auch als Voraussetzung für mehr- Wettbewerb zwischen den (privaten) EVU auf den Bahnnetzen der Eisenbahninfrastruktur-Unternehmen (EIU), die meist weiterhin im Staatsbesitz verbleiben werden. In der neuen Verwaltungsvorschrift zur Inbetriebnahme von Eisenbahnfahrzeugen vom Februar 2013 sind entsprechende Checklisten enthalten, die ständig aktuell gehalten werden. Sie bieten den Antragstellern auf Zulassung vorab einen Überblick, welche Regelwerke bei der spezifischen Fragestellung für neue Projekte Anwendung finden sollen. Als nationales Steuerungsgremium hat sich ein Lenkungskreis (LK) Fahrzeuge etabliert, in dem alle aktuellen Probleme diskutiert und entsprechende Vorschläge zur Weiterentwicklung der Zulassungsprozesse erarbeitet werden. Die Bahnindustrie und die Verkehrsunternehmen, vertreten durch den VDV, aber auch die DB AG selbst, das EBA und der BMVI sind Mitglied im LK. Das EBA ist an die Zwei-Drittel-Beschlüsse des LK rechtlich nicht gebunden, muss aber vom Votum abweichende Entscheidungen zeitnah und schriftlich begründen. Entscheidend für die Innovationsfähigkeit im Bahnsytem ist die Zulassung bei Nachweis der mindestens gleichen Sicherheit bei unkonventionellen Lösungen. Das darf durch die europäische Normung nicht unmöglich werden, damit sich Innovationen in der Praxis bewähren können und bei entsprechenden Vorteilen eventuell selbst irgendwann zum Standard werden. Die EU- Regeln sollen die Wettbewerbsfähigkeit der Bahnen gegenüber der Konkurrenz eher stärken und dürfen das System langfristig nicht lähmen durch zu starre Regeln und Einschränkung der Innovationsfähigkeit. Die gesetzlichen Regelungen mit EBO, ESO, AEG, TEIV, u. a. werden von diesen Harmonisierungsbestrebungen überlagert und müssen bei Bedarf entsprechend angepasst werden. Auf die Bahnindustrie kommen durch die neuen Zulassungsprozesse erhebliche neue Anforderungen zu, da sie selbst die Vorarbeiten zur Zulassung leisten bzw. an zertifizierte Unternehmen vergeben und die beizubringenden Gutachten koordinieren müssen. Dazu gehören auch umfangreiche Labor- und Praxisversuche an Komponenten und den Prototypen. Sie haben das aber so gewollt, weil sie meinen, damit den Zulassungsprozess ohne Abstriche an der Sicherheit beschleunigen zu können. Im Juni 2013 wurde ein Memorandum of Understanding (MoU) über die Neugestaltung von Zulassungsverfahren für Eisenbahnfahrzeuge unterzeichnet, indem die Prüfbereiche in • Radsatz • Bremseinrichtung • Fahrtechnik, Fahrsicherheit • Zugsteuerung, Zugsicherung strukturiert wurden. Sie stellen die Schwerpunkte aus Sicht der Sicherheitsrelevanz dar. Bei Zweifeln an der Zulassungsfähigkeit von Komponenten für extreme Bedingungen kann ein ansonsten zulassungsfähiges Fahrzeug mit Einschränkungen zugelassen werden, z. B. mit reduzierter Höchstgeschwindigkeit oder Achslast, womöglich mit der Folge, dass Einschränkungen im Betriebseinsatz dem Bahnunternehmen richtig weh tun. Mit den so gewonnenen Betriebserfahrungen können dann später gegebenenfalls die Restriktionen wieder zurückgenommen werden. Die Zulassung im europäischen Bahnwesen befindet sich also derzeit in einem gewaltigen Umbruch mit Auswirkungen auf alle Prozesse bei der Industrie, den Bahnbetreibern und den Netzen. Dauer einer Zulassung Im Bahnbereich werden schätzungsweise vier völlig neue Baureihen für den Nahverkehr pro Jahr zugelassen, aber auch diverse Derivate. Der Hauptaufwand der Zulassungsbehörde liegt in der Begleitung des Planungs-, Konstruktions- und Bauprozesses bei den Herstellern, wobei auch die Kompatibilität von Zulieferteilen geprüft werden muss. Da Güterwagen in Deutschland so gut wie nicht mehr gebaut werden, überwiegen in diesem Bereich die Übernahmen von Zulassungen aus dem Ausland, also die Prüfung der zusätzlichen Auflagen. Im Zuge der europäischen Standardisierung gehen auch diese Zusatzprüfungen zurück. Mit dem Versuchsring in Wegberg-Wildenrath bei Aachen steht der Bahnindustrie ein ideales Testgelände für Versuchs- und Zulassungsfahrten zur Verfügung. Auch die Zulassungsbehörden sind hier vor Ort. Neben speziellen Tests wie z. B. im Hochgeschwindigkeitsverkehr oder auf Strecken mit besonderer Trassierung sind Zulassungsfahrten auch im Netz der DB AG notwendig. Die Zulassung verzögert sich und ganze Flotten neugebauter und für den anstehenden Fahrplanwechsel dringend benötigter Fahrzeuge stehen still, wenn sie die Zulassungsbedingungen nicht rechtzeitig erfüllen (Talent 2, KISS, ICE BR407, …). Die Nachforderungen sind berechtigt, wenn z.B. die Probleme erst bei höheren Geschwindigkeiten (z. B. zu langer Bremsweg) oder bei ungünstigen Kuppelverhältnissen von für sich schon zulassungsfähigen Einzelfahrzeugen auftauchen. Die Industrie empfindet das manchmal als Schikane, weil sie unter Umständen erhebliche Verluste finanziell und am Image in Kauf nehmen muss. In einigen Fällen trägt sie aber auch Mitschuld, weil die von ihr aufgestellten Zulassungsfahrpläne zu anspruchsvoll waren oder Änderungen eine Wiederholung der Prüfungen verlangen. Verantwortung für die Zulassung Der jeweils Verantwortliche wird bei Gefährdungen oder gar Unfällen infolge einer fahrlässigen Zulassung in Regress genommen. Die Hersteller stehen mit ihrem guten Namen für die Qualität der Produkte und sind verantwortlich für das Beibringen der notwendigen Nachweise. Im EBA wird die Verantwortung für die vollständige Beachtung aller relevanten Vorschriften auf die involvierten leitenden Mitarbeiter gelenkt. Internationales Verkehrswesen (67) 1 | 2015 73 Fahrzeugzulassung TECHNOLOGIE Vermutungen, dass dadurch die Zulassungshürde drastisch angehoben wurde, konnten aber in der Praxis nicht bestätigt werden. Die zuliefernden Einzelgutachter haben eine Verantwortung für ihren Sektor und können bei mehrfacher Verletzung der Sorgfaltspflicht beim Abfassen von Gutachten ihre Zertifizierung verlieren. Der Betreiber des Fahrzeugs und - falls nicht identisch - der Besitzer (Leasing) sind verantwortlich für die Instandhaltung. Sie müssen über ein QMS-System jederzeit nachweisen können, welche Laufleistung das Fahrzeug vollbracht hat, ob besondere Vorkommnisse am Fahrzeug geschehen sind (Unfälle, Defekte) und welche Instandhaltungsschritte vollzogen wurden. Die Instandhalter haben diese Schritt für Schritt zu dokumentieren und per Unterschrift die regelkonforme Ausführung zu quittieren. Gültigkeitsbereich der Zulassung Den Bahnen wäre am liebsten eine zentrale europäische Zulassungsbehörde wie die ERA, die einen Katalog der beizubringenden Nachweise erstellt, die durch viele konkurrenzierende und zertifizierte Prüfinstitute im Wettbewerb erbracht werden können. Ein durch die ERA zugelassenes Fahrzeug sollte dann in allen europäischen Bahnsystemen verkehren können, so weit die technischen Parameter passen. Eine zusätzliche nationale Zulassung entfiele. Heute können die Fahrzeuge beim EBA zugelassen werden, wenn sie nur in Deutschland verkehren sollen, oder über die ERA, die dann eine europaweit gültige Zulassung erteilt. Weitere Verbesserungspotentiale Die Prozesse in den Bereichen Straßenfahrzeuge und Luftverkehr erfordern keine Veränderungen. Sie sind ein gutes Muster für die Zulassungen in anderen Bereichen, wobei aber auch deutlich wird, wie im Prinzip ähnlich (Typenzulassung), aber auch systembedingt in Nuancen unterschiedlich sie sind infolge der Einsatzgebiete, der Interdependenzen mit ihrer Infrastruktur und dem jeweiligen Sicherheitsregime. Das System Bahn ist auch im Bereich der Zulassung auf dem Weg zu einem zumindest europäisch einheitlichen System. Die Erfolge und das erreichte Sicherheitsniveau sind auch Bedingung für den weiterhin erfolgreichen Export deutscher Schienenfahrzeug- und Infrastrukturtechnologie. Das Verkehrsministerium hat diese Probleme bei der Zulassung von Schienenfahrzeugen erkannt und eine vermittelnde Rolle eingenommen. Ergebnis war ein Handbuch für die Zulassungsprozesse, das von allen Beteiligten als Fortschritt anerkannt wurde [5]. Das Ministerium hat damit auch seine Behörde EBA vor unberechtigten Anforderungen geschützt, aber gleichzeitig weiteren Handlungsbedarf aufgezeigt. In relativ kurzer Zeit und ohne Einschränkungen in der Sicherheit haben die TSI die Bahnwelt in Europa strukturell und auch technisch stark verändert. Nach erheblichen Problemen zwischen der Industrie und den Bahnen haben das Handbuch, die Lenkungsgruppe Schienenfahrzeuge und das neue Prozessverständnis im EBA/ EBC sowie die nun kanalisierten Regelwerke für eine Beruhigung gesorgt Dieser Lernprozess bei allen Beteiligten hat Wirkung gezeigt und durch die aktive Unterstützung durch das BMVBS wurden auch erhebliche Fortschritte erzielt. Rationalisierungspotential wäre gegeben, wenn die Bahnindustrie Grundmodelle konzipiert, die über mindestens 20 Jahre lieferbar sein sollten (und für die Ersatzteile verfügbar sind). Den Wünschen der Besteller könnte mit Individualisierungspaketen entgegen gekommen werden, die nicht an der Grundzulassung rütteln. So würden dann Rabatte für Großserienbestellungen in diesem Rahmen möglich. Voraussetzung wäre allerdings, dass die Besteller weitgehend auf zulassungsrelevante Sonderwünsche verzichten und sich zu Sammelbestellungen verbinden. Das könnten auch Verbände wie der VDV organisieren. Die EU-Politik könnte Innovationen im Schienenverkehr durch gezielte, langfristig einzuplanende Zielvorgaben in Stufen analog den EUROx-Paketen für LKW fördern. Das betrifft z.B. den Lärmpegel von Schienenfahrzeugen innen und außen, den Energieverbrauch bzw. CO 2 -Ausstoß, die barrierefreie Gestaltung von Zügen und Stationen oder den Brandschutz. Speziell für den Schienengüterverkehr - der einen besonders großen Nachholbedarf hat, aber diesen vermeintlich am Markt nicht refinanzieren kann - sind weitere Impulse bis hin zu Verboten bei Nichterfüllung bzgl. Lärmgrenzen, I+K-Kompatibilität und für moderne Kupplungstechnik zu geben. Es sollte darauf geachtet werden, dass die Zulassungsbehörden über ausreichendes kompetentes Personal (und entsprechenden Nachwuchs) verfügen, um den Wissenskreislauf nicht zu unterbrechen und als kompetenter Partner der Industrie und der Betreiber auftreten zu können. Auch die Verknüpfung mit den Partnern in der EU sowie in Brüssel selbst muss gepflegt werden. Die Aufsichtsbehörden sollten sicherstellen, dass Veränderungen in der Gesetzgebung nur paketweise z.B. alle fünf Jahre greifen und Bestandsschutz für die laufenden Serienprodukte für z.B. weitere fünf Jahre geben. Erste Ansätze dazu finden sich im Handbuch Zulassung, wo für Neukonstruktionen die zum Zeitpunkt der Erstzulassung gültigen Vorschriften für sieben Jahre fixiert werden. Damit einher geht eine Eindämmung der Regelungsflut mit TSI mit undurchschaubaren Terminen für die Einhaltung. Dem Bahnbereich ist eine Beruhigungs- und Bewährungsphase zuzubilligen, um die starken Veränderungen in den Zulassungsprozessen wirken zu lassen und innerhalb der neuen Regeln Erfahrungen zu sammeln. Mit dem LK Schienenfahrzeuge hat der Sektor ein Gremium, das diesen Einschwingprozess adäquat steuern kann. Die sinkenden Unfallzahlen beweisen, dass die Zulassung von sicheren Fahrzeugen funktioniert, aber auch, dass die Prozesse nicht aufgeweicht werden dürfen. Neue Vorschriften sollten nur als Paket in Kraft treten. So besteht eine gewisse Sicherheit für die Beteiligten, die innerhalb einer Produktentwicklung auf gültige Vorschriften bauen können. Die Zulassungsprozesse im Bahnwesen sind also auf dem richtigen Weg durch das Gestrüpp der europäischen Harmonisierung. Dabei werden die hohen Sicherheitsanforderungen im System Bahn nicht gefährdet. Die allmähliche Annäherung der Zulassungsprozesse im Verkehrsbereich bei Straße, Luft und Schiene ist zu begrüßen. ■ QueLLeN [1] Winner, H.: Zulassungsprozesse für Fahrzeuge in Deutschland - Teil 1: Straße. In: Internationales Verkehrswesen (66), Heft 3/ 2014, S. 104-107 [2] Fricke, M.: Zulassungsprozesse für Fahrzeuge in Deutschland - Teil 2: Luft. In: Internationales Verkehrswesen (66), Heft 4/ 2014, S. 70-74 [3] Schnellere Zulassung von Zügen notwendig; in: GRV Nachrichten, Folge 93, 5/ 2012 [4] Thomasch, A.: Zulassungsverfahren für Eisenbahnfahrzeuge in Deutschland. In: Eisenbahntechnische Rundschau (ETR), 10/ 2013, S. 24-31 [5] Neue Züge kommen schneller in Fahrt. In: Der Fahrgast/ Pro Bahn 1/ 2014, S. 10-16 Jürgen Siegmann, Prof. Dr.-Ing. habil. Leiter des Fachgebietes Schienenfahrwege und Bahnbetrieb, Institut für Land- und Seeverkehr, TU Berlin jsiegmann@railways.tu-berlin.de Teil 1: Zulassung von Straßenfahrzeugen Hermann Winner, Prof. Dr. rer. nat., TU Darmstadt Teil 2: Zulassung von Luftfahrzeugen Hartmut Fricke, Prof. Dr.-Ing., TU Dresden