eJournals Internationales Verkehrswesen 67/1

Internationales Verkehrswesen
iv
0020-9511
expert verlag Tübingen
10.24053/IV-2015-0026
31
2015
671

Meinung

31
2015
Shinkansen-Züge meist langsamer | Mehr Autos, weniger Kilometer?
iv6710080
Internationales Verkehrswesen (67) 1 | 2015 80 Shinkansen-Züge meist langsamer Leserzuschrift zum Beitrag „50 Jahre Shinkansen“, Internationales Verkehrswesen (66), 4/ 2014, S. 54 I n ihrem Bericht erwähnen die Autoren Wunderlich/ Mayer/ Klug, dass der schnellste Zug zwischen Tokyo und Osaka mittlerweile nur noch 2 h 25 min benötigt. Sie verschweigen hierzu aber, dass von den 80 Nozomi-Zügen, die täglich zwischen Tokyo und Osaka verkehren nur 2 diese schnelle Reisezeit erbringen, nämlich der erste und der letzte. Die Masse der Züge über Tag, nämlich 63 Züge (= 78,7 %) braucht 2 h 33 min (= + 5,5 %) und 14-Züge (= 17,5 %), zur Abfahrtminute x: 30 Uhr brauchen sogar 2 h 36 min (= +7,6 %). Die Ursache hierfür liegt im Mischungsverhältnis der Züge, denn die schnellste Zugkategorie auf den Shinkansen, die Nozomi, stellt mittlerweile die Mehrheit dar. Der Linienbetrieb, der auf den Shinkansen abgewickelt wird, zwingt die Nozomi-Züge zu zahlreichen Überholungen in Zwischenstationen. Hierzu müssen sie ihre Fahrt etwas verlangsamen, da die Infrastruktur in den Unterwegsbahnhöfen hierfür nicht ausgerichtet ist. Man hat zu Beginn der Eröffnung der Shinkansen in 1964 nicht mit einem so großen Verkehrszuwachs gerechnet. In 2014 muss man aber festhalten, dass eine zweigleise Shinkansen-Strecke qualitativ und quantitativ der Nachfrage in diesem überaus dichten Korridor nicht mehr gerecht werden kann. Dies ist auch der tiefere Grund, warum die JR Central weiteren Zwischenhalten nicht zustimmen kann - schon gar nicht in der nähern Umgebung von Tokyo und Kyoto. Aufgrund der äußerst produktiv genutzten Infrastruktur sowie der entscheidenden Bedeutung des Schienenpersonenverkehrs für das Funktionieren der japanischen Wirtschaft in den dominierenden Ballungsgebieten und der Notwendigkeit, die Beförderungsleistungen über lange Zeiten des Tages an der Grenze bekannter technischer Möglichkeiten zu erbringen, sind die JR Central gezwungen, alle Anstrengungen auf einen „Null-Fehler-Betrieb“ auszurichten. Dazu gehört auch, die Fahrzeuge möglichst immer auf einen sicher funktionierenden Stand zu halten. Hierzu gehört auch, dass Fahrzeugtypen generell nicht länger als 15 Jahre in Betrieb sind. Diese Tatsache kann man sehr gut dem jährlich erscheinenden „Data Book“ der JR Central unter dem Punkt „Rolling Stock“ entnehmen. Zusammenfassend ist die Schlussfolgerung zu ziehen: Hätte JR Central noch einmal die Chance gehabt, den Tokaido- Shinkansen mit den Erfahrungen von heute neu zu bauen, so würden sie sie als viergleisige Strecke für 300 km/ h bauen, um so schnelle und langsame Verkehre besser verteilen zu können. Warum erwähnen die Autoren nicht die Spitzengeschwindigkeit von 443,0 km/ h, die das Rad-Schiene-Fahrzeug 300 X von JR Central im Testbetrieb am 26.07.1996 zwischen Kyoto und Maibara erreicht hat? Auf Seite 106 der von ihnen benutzten Literaturquelle [1] hätten sie diese Information finden können. Mit dieser Spitzengeschwindigkeit wollten die japanischen Rad-Schiene-Experten die Rad-Schiene-Technik für den geplanten Chuo-Shinkansen ihrem Vorstand gegenüber empfehlen. Der damalige Vorstandsvorsitzende Kasai hat aber schon Ende 1996 den Systementscheid getroffen, den neuen Chuo-Shinkansen in Superconducting Maglev-Technologie (SCM) 1 bauen zu lassen, ohne alle anfallenden Systementscheidungen zuvor hinreichend intensiv zu beurteilen. Mit der Vorgabe des Verkehrsministeriums, 10 000 Reisende pro Richtung in der Spitzenstunde zu befördern, und der Vorgabe der Kapazität von 1000 Plätzen des SCM-Fahrzeugs ergibt sich eine Zugfolge von 6-Minuten für die nur in Tokyo, Nagoya und Osaka haltenden SCM- Fahrzeuge. Nur ein knappes Jahr später, 1997, haben dann die Maglev-Fachleute feststellen müssen, dass die Weichenumstellzeit in Maglev-Technik sechsmal länger dauert als in Rad-Schiene-Technik. Es können unter diesen Bedingungen keine zusätzlichen Unterwegshalte, an denen Überholungen stattfinden müssen, technisch eingerichtet werden. Niemand von JR Central ist bisher bereit, diese unangenehme Erkenntnis in der Region auszusprechen. Sobald aber vor Ort dies bekannt werden sollte, wird das Chuo-Projekt in Maglev-Technik zugunsten einem Chuo-Projekt in Rad-Schiene-Technik aufgegeben werden. ■ Sven Andersen, Düsseldorf 1 Elektrodynamisches Schwebesystem mit supraleitenden Magnetspulen Kommentar der Autoren H err Andersens Beitrag zeichnet sich durch eine hohe Detailkenntnis aus und stellt eine Ergänzung zu unserem Artikel da, in dem er vor allem noch einmal die betrieblichen Zwänge deutlich macht, die das 50 Jahre alte System inzwischen mit sich bringt. In unserem Artikel konnten wir aus Platzgründen nicht auf alle Details zum Shinkansen eingehen. Wir danken Herrn Andersen für sein datengestütztes Plädoyer für die Weiterentwicklung der Rad-Schiene-Technik. Wenn der Tokaido-Shinkansen heute noch einmal gebaut werden würde, würde er sicherlich für eine Höchstgeschwindigkeit von 300 km/ h ausgelegt werden, da können wir Herrn Andersen ohne Vorbehalte zustimmen. Statt einer viergleisigen Strecke ist es allerdings wahrscheinlicher, dass zwei zweigleisige Strecken gebaut würden, wie es nun mit dem Chuo-Shinkansen geschieht. Neben der Anbindung zusätzlicher Regionen ist vor allem zu beachten, dass man nach den Erfahrungen der großen Erdbeben von Kobe 1995 und Tohoku 2011 (damals waren die Shinkansen-Strecken wegen Erdbebenschäden für 82 bzw. 50 Tage unterbrochen) großes Interesse daran hat, völlig unabhängige Hochgeschwindigkeitsverbindungen zwischen zwei Ballungsräumen zu schaffen. Der Chuo- Shinkansen wird das für die Relation Tokyo - Nagoya auf der Route durch die japanischen Alpen sein, die zudem wesentlich kürzer als die Tokaido-Strecke entlang der Küste ist. Geplante Streckenführung des Maglev-Projekts Chuo-Shinkansen; blau: Tokaido-Shinkansen Grafik: Hisagi/ wikipedia.de FORUM Meinung Internationales Verkehrswesen (67) 1 | 2015 81 Meinung FORUM Die geringere Kapazität des Chuo-Shinkansens von rund 1000 gegenüber 1323 Passagieren (Baureihe N700) ergibt sich aus seinem deutlich kleineren Lichtraumprofil. Die von Herrn Andersen genannte politische Vorgabe von 10 000 Fahrgästen pro Stunde und Richtung ist jedoch in der aktuellen Diskussion in Japan nicht mehr präsent. Während sehr detaillierte Pläne zum Strecken- und Bahnhofsbau veröffentlicht wurden, gibt es zum zukünftigen Betriebskonzept bisher nur eine kurze Pressemitteilung vom September 2013. Demnach sollen 2027 fünf Züge pro Stunde zwischen Tokyo und Nagoya fahren, davon vier nonstop und einer mit allen vier Zwischenhalten; dies macht eine Kapazität von 5000 Fahrgästen pro Stunde und Richtung. Ob später Verstärkerzüge hinzukommen werden, wird das Verkehrsaufkommen zeigen. Was die öffentliche Diskussion in Japan dagegen dominiert, ist die Fahrzeit-Verkürzung auf nur 40 Minuten zwischen Tokyo und Nagoya. Die von Herrn Andersen geäußerte Ansicht, dass die Strecke eher in Rad-Schiene- Technik gebaut werden sollte, können wir daher nicht teilen. Im technikfreundlichen Japan wird das Projekt, obwohl offiziell als Chuo-Shinkansen bezeichnet, stets nur „Maglev“ oder „Linear“ genannt, wodurch der Schwerpunkt auf die eingesetzte innovative Technik gelegt wird. Der Betrieb auf der Teststrecke läuft seit 1998 störungsfrei und zuverlässig, zudem wird die Möglichkeit zur Mitfahrt auf der Teststrecke intensiv beworben, so dass ein Abrücken von der Maglev-Technologie einen massiven Gesichtsverlust für JR Central bedeuten würde und daher zum heutigen Zeitpunkt nicht mehr realistisch scheint. Am Ende unseres Artikels haben wir die optimistische These aufgestellt, dass das Bahnsystem in Japan mit dem Maglev neue Rekorde aufstellen wird; eine Beurteilung des künftigen Betriebs oder eine Bewertung aus Fahrgastsicht sowie ein Abwägen der Vor- und Nachteile der verschiedenen Technologien war nicht unsere Absicht und sollte einem späteren Artikel vorbehalten sein. Ob der Maglev eine Erfolgsgeschichte wie der Shinkansen wird, wird man erst in einigen Jahrzehnten beurteilen können. Hätten die japanischen Ingenieure nicht so viel Mut gehabt, den Shinkansen gegen viele Widerstände zu bauen und 1964 in Betrieb zu nehmen, hätte sich die Entwicklung der Hochgeschwindigkeitsbahn weltweit um viele Jahrzehnte verzögert. ■ Wilfried Wunderlich, Oliver Mayer, Stefan Klug Mehr Autos, weniger Kilometer? Leserzuschrift zum Beitrag „PKW-Mobilität am Wendepunkt“, Internationales Verkehrswesen (66), 4/ 2014, S. 64 D er Artikel zeigt einen deutlichen Rückgang des altersbezogenen Motorisierungsgrads in den letzten zwei Jahrzenten vor allem bei Männern bis um die 40 und einen deutlichen Anstieg bei Frauen über 50 Jahre. Für die nächsten 25 Jahre treffen die Autoren von Prognos und Shell zwei erstaunliche Annahmen: a) Während die Jahrgänge der heute 70bis 79-jährigen Männer wie auch Frauen ihren Motorisierungsgrad von vor 20 Jahren weitgehend beibehalten haben, würden nach der Prognose viel mehr der heute 45bis 65-jährigen Autobesitzer/ innen die Autoschlüssel abgegeben haben, wenn sie zu dieser Altersgruppe gehören. b) Für die heutigen jungen Männer bis Anfang 40 wird unterstellt, dass die meisten Nichtautofahrer dieser Jahrgänge ihr Mobilitätsverhalten noch verändern, und diese Jahrgangs-Kohorten im Alter zwischen 45 und 64 annähernd genauso viele Autos besitzen werden wie die 20 Jahre ältere Männergeneration heute. Mein Versuch einer Trendfortschreibung mit der Annahme eines stetigeren Mobilitätsverhaltens der Jahrgangskohorten kommt zu anderen Ergebnissen: In 20 Jahren kann der Motorisierungsgrad in der nächsten Rentnerinnengeneration, also der heute noch 45bis 59-Jährigen, um die 50% betragen. Die Männer, die heute der Altersgruppe 45 und 64 angehören und heute rechnerisch etwas mehr ein Auto je Person besitzen, können in 20 Jahren, im Alter von 65 bis 84, eine Motorisierungsquote von 80-90 % aufweisen. Damit würden wesentlich mehr altengerechte PKW benötigt werden, insbesondere für betagte Damen geeignete Typen. Die heute 25bis 39-Jährigen haben fast 30 % weniger Autos als Gleichaltrige vor 20 Jahren. Für sie erscheint in 20 Jahren eine reduzierte Quote zwischen 70 % und 90 % plausibler, wenn sie 45 bis 59 sein werden. Der Absatzmarkt für Autoklassen, wie sie von berufstätigen Männern im mittleren Alter bevorzugt werden, geht somit etwas zurück. Schließlich haben Akademiker-Haushalte bei Ausklammerung des Einkommenseffekts weniger PKW (ifmo 2011), und immer mehr Schulabsolventen studieren. Die Summe dieser Effekte könnte zu einem etwas höheren PKW- Bestand als prognostiziert führen, bei allerdings niedrigeren Fahrleistungen, denn Rentnerinnen legen kürzere Strecken mit ihrem Auto zurück als Männer mittleren Alters. Künftig gibt es mehr Elektroautos, und deren begrenzte Reichweiten führen ebenfalls zu reduzierten Auto-Fahrleistungen bei vermehrter Nutzung öffentlicher Verkehrsmittel im Fernverkehr. Bei größeren Strukturbrüchen als Folge von Peak Oil, Rentenrückgang oder allgemeinen Wirtschaftskrisen können sich die Zahlen natürlich deutlicher verändern, auch bei Angeboten preiswerter und autonom fahrender Elektroautos sowie ernsthaften Klimaschutzmaßnahmen. Der Trend heute noch junger Menschen in die großen Städte kann die Entwicklung zu weniger Autoverkehr verstärken, dort leben zunehmend urbane, unterhaltungsorientierte Uni-Absolventen, die unabhängig von eigenen Autos mit dem Umweltverbund von U-Bahn bis Uber unterwegs sind (8U). Der Platz in den Großstädten ist begrenzt, Verdrängungsprozesse durch Gentrifizierung werden sich fortsetzen. Die Alten und die Armen, die sich die Immobilienpreise in den Städten nicht leisten können, bleiben als Autofahrer außerorts, dort steigt auch der Ausländerbzw. Migrantenanteil (5A). ■ Joachim Falkenhagen, Berlin