eJournals Internationales Verkehrswesen 67/2

Internationales Verkehrswesen
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0020-9511
expert verlag Tübingen
10.24053/IV-2015-0033
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Chancen für Veränderung sind vorhanden

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Eberhard Buhl
Karlheinz Schmidt
Wie kaum ein anderer Geschäftsbereich ist die Transportbranche vom marktwirtschaftlichen Befinden abhängig. Doch wie geht es der Branche aktuell? Wo liegen die Herausforderungen, wo eröfnen sich Chancen? Eberhard Buhl sprach mit Karlheinz Schmidt, Geschäftsführendes Präsidialmitglied des Bundesverbandes Güterkraftverkehr Logistik und Entsorgung (BGL).
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POLITIK Interview Karlheinz Schmidt Internationales Verkehrswesen (67) 2 | 2015 12 Chancen für Veränderung sind-vorhanden Wie kaum ein anderer Geschäftsbereich ist die Transportbranche vom marktwirtschaftlichen Beinden abhängig. Doch wie geht es der Branche aktuell? Wo liegen die Herausforderungen, wo eröfnen sich Chancen? Eberhard Buhl sprach mit Karlheinz Schmidt, Geschäftsführendes Präsidialmitglied des Bundesverbandes Güterkraftverkehr Logistik und Entsorgung (BGL). Herr Prof. Schmidt, die deutsche Exportwirtschaft boomt, aber beim Transportgewerbe scheint weniger davon anzukommen. Wo sehen Sie die größten Herausforderungen für die Branche? Die größte Herausforderung ist der Missbrauch der Dienstleistungsfreiheit. Das Problem kennen wir schon seit dem Beitritt der östlichen EU-Länder im Jahr 2005, sehen aber seit 2009 eine rapide Zunahme. Noch vor zehn Jahren hatten einheimische Fahrzeuge in Deutschland rund 70 % Anteil bei den mautplichtigen Kilometern, heute sind wir unter 60 %, haben also Jahr für Jahr einen Prozentpunkt verloren. Jeder Prozentpunkt entspricht 270 Millionen Kilometer, die nicht mehr von deutschen LKW gefahren werden. Hochgerechnet sind also schon 30 000 bis 40 000 Nutzfahrzeuge nicht mehr in Deutschland zugelassen, weil eine Marktverdrängung stattgefunden hat vornehmlich durch Fahrzeuge aus den sogenannten MOE-Beitrittsländern. Im Klartext, unsere LKW werden ersetzt durch MOE-Flotten. Ist das ein rein deutsches Phänomen? Keineswegs, das Gleiche passiert auch Transporteuren aus Frankreich, Italien, Spanien. Die haben eine Null vor dem Komma, wenn es um Marktanteile beim mautplichtigen Verkehr in Deutschland geht. Das ist eine gigantische Verdrängung: Ost gegen West, Niedriglohn gegen angemessenen Lohn. Das Ganze passiert auch nicht mehr im Rahmen der Dienstleistungsfreiheit, wie ich meine. Im Grunde haben viele MOE-Unternehmen gewissermaßen illegale, virtuelle Niederlassungen in Deutschland eröfnet: Weder die Fahrzeuge noch die Fahrer gehen kaum noch zurück in ihre Heimatländer. Die LKW sind dennoch in deutschen und anderen westeuropäischen Hafenstandorten und Güterverkehrszentren auf Dauer konzentriert, von dort aus werden auch die Einsätze disponiert. Die Fahrer übernachten dort, verbringen dort ihre Wochenenden und fahren nur ab und zu mal mit dem Fernbus nach Hause. Und in anderen westeuropäischen Ländern herrscht solcher Missbrauch ebenfalls? Wir wissen, dass die Franzosen genau dieses Phänomen ebenfalls entdeckt haben. Weil es derzeit kein wirksames Kontrollsystem gibt, gibt es administrative Überlegungen bei uns, es Frankreich gleich zu tun. Dort ist wie in Belgien das Verbringen der Wochenruhezeit im Fahrzeug mit hohen Geld- und Gefängnisstrafen bedroht. Es besteht die Annahme, dass sich dadurch das Stationieren der Fuhrparks in Westeuropa nicht mehr lohnen könnte. Allerdings wird bei Ausdehnung dieser Praxis verkannt, dass die Fahrer vermutlich zum Wochenende in irgendwelchen Wohncontainern untergebracht werden. Damit ist nichts gewonnen, weil Fahrzeuge und Fahrer fest in westeuropäischen Ländern bleiben und weiterhin von hier disponiert werden. Das ist also ein Versäumnis oder eine Lücke in der europäischen Politik? Das ist eine Lücke in der Kontrolle der Dienstleistungsfreiheit nach Artikel 91 des Vertrags von Lissabon. Artikel 91 regelt die Dienstleistungsfreiheit im Verkehr. Aber, die Umsetzung ist nicht sonderlich wirksam. Bisher kann man in der geschilderten Weise massenhaft die Niederlassungsbedingungen der ansässigen Unternehmen unterbieten, ohne sich selber niederzulassen. Nach dem deutschen Steuer- und Sozialrecht müsste so manche Firma, die hier tätig ist, niedergelassen sein. Ist vorrangig die Bundespolitik in der Pflicht, um diese Missstände abzustellen? Also in der Plicht ist aus unserer Sicht die EU, die die Umsetzung des Artikels 91 neu aufgreifen muss. Und sie muss dies schon deshalb, weil die Sozialbedingungen, die dieses Fahrpersonal mittlerweile vorindet, für mitteleuropäische Verhältnisse skandalös sind. Die EU hat hier also nicht nur ein ökonomisches, sondern vor allen Dingen auch ein soziales Feld zu bearbeiten. Unseren gesetzlichen Regularien wie etwa den Lenk- und Ruhezeiten unterliegen die osteuropäischen Fahrer ja auch. Das schon, aber die kommen gar nicht mehr nach Hause. Sie leben zwei oder drei Monate im Fahrerhaus und essen aus der Dose, weil der Niedriglohn nicht reicht für richtige warme Mahlzeiten. Am Wochenende, wenn der Trailer leer ist, hängen die Menschen dort ihre gewaschene Wäsche auf und stellen einen Campingstuhl rein. Das ist mittlerweile leider Realität in Europa! Die Alternative ist für die meisten Fahrer vermutlich, überhaupt keinen Job zu haben. Nein, die Alternative ist, einen richtigen Job in Deutschland und Westeuropa zu bekommen. Sie würden ja weiterhin ihre Arbeit haben, aber sie müssten sich in Deutschland oder in Frankreich niederlassen, wo die Verkehre ihren Ursprung nehmen. Die Leute haben ja Freizügigkeit, wenn sie denn einen Job wollen, und das nutzen auch einige deutsche Unternehmen. Über Mangel an qualifizierten Fahrern klagt die Branche schon länger … Wir haben jedes Jahr nur 12 000 bis 14 000 neue Fahrer, brauchen aber eigentlich 30 000. Die Lücke wird heute im Grunde mit Personal aufgefüllt, das im Rahmen der Arbeitnehmerfreizügigkeit ganz regulär nach Deutschland kommt und hier einen Job aufnimmt - und auch nach deutschem Arbeits- und Sozialrecht beschäftigt ist. Dienstleistungsfreiheit wäre demnach und dem Sinn der europäischen Regelung entsprechend auf die Organisation von Fahrzeugumläufen vom jeweiligen Haupteinsatzort aus zu begrenzen. Alles andere ist plakativ formuliert „Sozial-Dumping“. Internationales Verkehrswesen (67) 2 | 2015 13 Interview Karlheinz Schmidt POLITIK Findet man diese Nomaden-Jobs wirklich nur bei Unternehmen aus Osteuropa? Sicher gibt es auch hiesige Unternehmen, die ihre Fahrzeuge mit einem billigen osteuropäischen Nummernschild „umlaggen“ und Fahrer nach osteuropäischen Sozialstandards einsetzen. Wie gesagt, kann das aber nicht die Lösung sein - fairer Wettbewerb soll die Märkte steuern, aber keine unfairen Dumpingpraktiken zulasten des Personals. Extrem ist beispielsweise ein Fall aus Lettland: Die Fahrzeuge stehen im Hafen Lübeck, und philippinische Fahrer mit lettischer Arbeitserlaubnis machen in Deutschland den Job deutscher Fahrer. Das Geschäftsmodell hat viele Nachahmer, aber wir müssen das leider immer noch so hinnehmen … Die Frage ist nur, was Sie als Verband dagegen tun wollen - und können? Als Verband fordern wir in Brüssel ein, dass die Dienstleistungsfreiheit hier zielgenauer geregelt wird. Den Bestimmungen in Artikel-91 folgend gibt es die Möglichkeit festzustellen, wo der Fahrer und das Fahrzeug die ganze Zeit über waren - man kann das anhand der Digitalaufzeichnungen sehr genau klären. Wenn sich Unternehmen, die mit ihrem Heimatland kaum noch Transporte abwickeln, in dem Hauptland ihrer Betätigung niederlassen müssten, könnte dieser unfaire Wettbewerb mit Billiglaggen im eigenen Haus gestoppt werden. Dann also noch mal zum Fahrermangel bei uns: Der Straßengüterverkehr nimmt weiter zu - wo bekommen Sie qualiizierte Fahrer her? Eigentlich sollte überall in der EU die Verabredung gelten, dass zunächst einmal die Arbeitslosen aus dem Binnenmarkt vorrangig zu bedienen sind. Solange in Ländern wie etwa Spanien 40 Prozent der Jugendlichen und mehr arbeitslos sind, ist es doch absurd, dass hier Fahrer aus der Dritten Welt beschäftigt werden, weil sie noch billiger sind. Vielmehr sollten EU-weit jugendliche Arbeitslose so weit qualiiziert werden, dass sie LKW fahren können und einen sicheren Arbeitsplatz inden. Um bei dem Beispiel zu bleiben: Bekommen wir denn Fahrer aus Spanien - ist das eine Perspektive? Ja sicher, wir haben das als Pilotprogramm schon sehr erfolgreich gemacht. Junge Leute aus Spanien bekommen einen Sprachkurs, lassen sich dann auch hier nieder und werden nach deutschen Lohn- und Arbeitsbedingungen beschäftigt. Ja, natürlich ist das eine Perspektive. Gerade bei Jugendlichen müsste uns Ansporn sein, diese in ordentliche Jobs zu bringen, statt sie auf der Straße stehen zu lassen. … und was würden Sie anders machen? Also, man müsste ganz gezielt jene Unternehmen in Europa fördern, die jugendlichen Arbeitslosen einen Ausbildungsplatz oder auch eine Stelle anbieten. Ich könnte mir auch weitere Integrationsprogramme der Bundesagentur für Arbeit vorstellen. Dass man - das geschieht leider zu selten - gemeinsam mit der Arbeitsagentur etwa in Spanien Werbung für die Berufskraftfahrer- Qualiizierung in Deutschland macht. Bekämen die Jugendlichen eine geförderte sprachliche und beruliche Bildung, wäre das in jedem Fall eine bessere Lösung, als Menschen aus fernen Ländern wie Nomaden im Fahrerhaus leben zu lassen. Wenn wir mal beim Thema Entlohnung bleiben: Wenn Sie nach deutschem Recht entlohnen und versichern wollen, schlägt sich das ganz schnell auf die Transportpreise nieder … … und wo ist das Problem? Es ist ja nicht so, dass die deutsche Industrie am Stock geht, wenn jetzt plötzlich der Fahrer im Fahrerhaus einen anständigen Lohn bekommt. Vom gesamten Logistikumsatz hier in Deutschland, rund 250 Milliarden Euro, hängt höchstens ein Viertel mit dem Transport zusammen, die eigentliche Marge bleibt den großen Transportorganisatoren und Auftraggebern, die sehr gute Gewinne verbuchen können. Daran sieht man, dass hier ein deutliches Marktgefälle herrscht und dass von „Übergewinnen“ auf der einen Seite auch ein vernünftiger Fahrerlohn auf der anderen Seite inanziert werden könnte, würde man den Wettbewerb etwas fairer gestalten. Aber dazu müssten die Märkte anders geregelt sein als heute. Sehen Sie denn Chancen für eine Veränderung? Chancen für Veränderung sind da. Im nächsten Jahr will Verkehrskommissarin Violeta Bulc den Landverkehr in den Fokus nehmen, und das Dossier „Road Package“ ist weit fortgeschritten. Für uns ist z. B. Kabotage im Grunde kein Thema, sofern sie zur Komplettierung von Rundläufen dient. Wenn aber die Kabotageregeln und grenzüberschreitende Verkehre im Marktzugang so weit gelockert werden, dass demnächst noch mehr Fahrzeuge mit fremden Nummernschildern durch Deutschland fahren und gar nicht mehr ihre Heimatländer bedienen, dann wird das bestehende Probleme weiter verschärfen. Ich betone es noch mal: Kabotagefahrten und grenzüberschreitende Verkehre, die eine ständige Präsenz von Fahrzeugen und Personal vor Ort erfordern, sollten zukünftig eine Niederlassung voraussetzen - und zwar nach den jeweiligen Sozial- und Fiskalbedingungen des überwiegend bedienten Mitgliedsstaats. Und Sie haben die Hofnung, gehört zu werden? Das Thema wird in jedem Fall in diesem Jahr angestoßen. Die Abgeordneten sind vielfach auch hellhörig geworden, was eine gewisse - ich sage das mal so drastisch - Sklavenhalter-Praxis betrift. Und ich bin davon überzeugt, dass die Verkehrs- und die Sozialpolitiker in Europa das Thema nicht länger beiseite schieben können. ■ Prof. Dr. Karlheinz Schmidt ist seit 1995 Hauptgeschäftsführer und seit 2012 zugleich Geschäftsführendes Präsidialmitglied des Bundesverbandes Güterkraftverkehr Logistik und Entsorgung (BGL). Seit fast vier Jahrzehnten engagiert sich der Transportlogistik-Experte für den BGL beziehungsweise die Vorläuferorganisation Bundesverband des Deutschen Güterfernverkehrs (BDF). Seit dem Jahr 2000 lehrt er als Honorarprofessor zudem an der Hochschule Heilbronn. ZUR PERSON