eJournals Internationales Verkehrswesen 67/2

Internationales Verkehrswesen
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0020-9511
expert verlag Tübingen
10.24053/IV-2015-0040
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2015
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Urbane Logistik im Fokus

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2015
Jürgen  Schultheis
KEP-Dienstleister, Unternehmen, Kommunalpolitik und Wissenschaft arbeiten in Frankfurt am Main gemeinsam an einem Pilotprojekt für eine eiziente und weniger umweltwirksame Stadtlogistik. Die Beteiligten nutzen die neutrale Plattform des House of Logistics and Mobility (HOLM) für das Projekt, das von IHK Frankfurt am Main und HOLM gesteuert wird.
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Internationales Verkehrswesen (67) 2 | 2015 32 LOGISTIK Stadtlogistik Urbane Logistik im Fokus IHK Frankfurt und House of Logistics and Mobility kooperieren bei Stadtlogistik-Projekt Wirtschaftsverkehr, Letzte Meile, Emissionsschutz, Mikro-Depot-Konzept KEP-Dienstleister, Unternehmen, Kommunalpolitik und Wissenschaft arbeiten in Frankfurt am Main gemeinsam an einem Pilotprojekt für eine eiziente und weniger umweltwirksame Stadtlogistik. Die-Beteiligten nutzen die neutrale Plattform des House of Logistics and Mobility (HOLM) für das Projekt, das-von IHK Frankfurt am Main und HOLM gesteuert wird. Der Autor: Jürgen Schultheis D er wachsende Markt des Online- und Versandhandels und das veränderte Konsumentenverhalten haben den Wirtschaftsverkehr in der Stadt verändert: Vor allem in Großbritannien, Deutschland Frankreich, wo fast drei Viertel des gesamten E-Commerce-Umsatzes in Europa erwirtschaftet wird [1], wächst durch Same-Day-Delivery- und Prime-Angebote und die damit induzierten Verkehre die Konkurrenz um den knappen Straßen- und Parkraum in der Stadt. Die Folgen: Die Stadt wird lauter, die Luft schlechter und die Staus länger, die Lebensqualität nimmt ab und Innenstädte verlieren an Attraktivität. Eine besondere Bedeutung kommt unter den veränderten Bedingungen den Kurier-, Express- und Paketdienstleistern zu. Zwischen 2000 und 2012 wuchs die Branche als Folge des boomenden Online-Geschäfts bei- den Zustellungen um 51 % und beim Umsatz um 55 % . Im vergangenen Jahr betrug allein in Deutschland der Umsatz mit Waren im Online- und Versandhandel 49,1-Mrd.-EUR, wobei der E-Commerce mit 41,9 Mrd. EUR den Löwenanteil (85 %) zum Gesamtumsatz beiträgt [2]. Für 2015 prognostiziert der Bundesverband E-Commerce und Versandhandel Deutschland (bevh) ein Wachstum von 5 %. Neben den Privatkunden beeinlusst die veränderte Nachfrage von Geschäftskunden im B2B-Sektor das Management städtischer Ökonomien und deren Logistik. Das hat Folgen für Auftraggeber und Auftragnehmer: „Decreased size of inventories (zero stock), growing demand for express and urgent deliveries, fragmentation of shipments (a few parcels received each day instead of a consolidated load once a week), fast increase of home deliveries following the rapid growth of online shopping“ [3]. Die wachsende Zahl der Fahrzeuge in der Stadt, die unter den Wirtschaftsverkehr fallen, belastet aber auch zunehmend die Umwelt. Die OECD geht davon aus, dass in London 43 % des Schwefeldioxids und 61 % des Feinstaubes aus den Auspufrohren von Kleintransportern und Zustellfahrzeugen kommen. Bei Stickoxiden liegt der Anteil zwischen 28 % (London), 50 % (Prag) und 77 % (Tokyo) [4]. Experten haben ermittelt, dass in europäischen Städten der Wirtschaftsverkehr zwischen 16 % und 50 % der gesamten Luftschadstofe [5] emittiert. Die Autoren einer aktuellen Studie präzisieren die vorliegenden Zahlen und gehen davon aus, dass der Wirtschaftsverkehr 25 % des Kohlendioxidausstoßes und 30 bis 50 % der Feinstaub- und Stickstofemissionen in Städten verursacht [6]. Neben Luftschadstofen beeinträchtigt der Verkehrslärm, insbesondere der Straßenverkehrslärm, den Alltag der Bewohner in Ballungsräumen. Nach Angaben des Umweltbundesamtes sind „1,8 Mio. Menschen in Deutschland ganztags Pegeln von mehr als 65 dB(A) ausgesetzt. Nachts leiden 2,1- Mio. Menschen unter Pegeln von mehr als 55 dB(A) [7]. Vor allem Städte wie Frankfurt am Main, Nürnberg, Bonn und Köln sind durch Lärm stark belastet. „Die Gesamtläche mit einem Lärmpegel höher als 55 dB(A) erreicht in den betrachteten Städten Werte zwischen 17 und 70 % der Stadtläche, der Mittelwert liegt bei 43 %“, heißt es in der Studie von Fraunhofer IBP im Auftrag der Geers-Stiftung [8]. Wirtschaftsverkehre sind notwendige Voraussetzung für die Funktionsfähigkeit der Städte. Die Aufgabe liegt heute darin, die Wettbewerbsfähigkeit der Unternehmen in der Stadt unter veränderten Nachfragebedingungen sicherzustellen und zu erhöhen, zugleich aber die Lebensqualität gerade angesichts einer zunehmend umweltsensitiven Einwohnerschaft zu gewährleisten und zu verbessern. „It has been argued that the coniguration of freight distribution systems in urban areas is reaching unsustainable levels in terms of economic eiciency and the impact on quality of life” [9]. Diese Herausforderung ist umso größer, als mit dem Weißbuch Verkehr (2011) der EU das - noch nicht verbindliche, aber anzustrebende - Ziel ausgegeben worden ist, den Wirtschaftsverkehr in den Zentren großer Ballungsräume bis 2030 abgasfrei rollen zu lassen. Vor diesem Hintergrund hatte die Industrie- und Handelskammer Frankfurt am Main im Sommer 2012 zu einer Zukunftsklausur eingeladen. Mehr als 40 Expertinnen und Experten diskutierten am 22. August einen Tag lang über die Zukunft des Wirtschaftsverkehrs in einer Stadt, die innerhalb der Wallanlage kleinräumig geprägt ist und in Teilen ihre mittelalterliche Struktur erhalten konnte. Nutzungskonkurrenzen sind in Frankfurt deshalb besonders groß. Um die Zielkonlikte zu benennen, die aus dieser Nutzungskonkurrenz entstehen, hatten die Teilnehmerinnen und Teilnehmer die Aufgabe, neuralgische Punkte im örtlichen Wirtschaftsverkehr zu identiizieren, Verbesserungen vorzuschlagen und Visionen zu entwickeln. Am Ende des Tages formulierte die Gruppe vier Kernforderungen, die von der IHK Frankfurt am Main im Dezember 2012 in einer Broschüre veröffentlicht worden sind [10]. Zwei Kernforderungen lauten, eine ständige Arbeitsgruppe „Frankfurter Wirtschaftsverkehre“ einzurichten und die Datenbasis der Wirtschaftsverkehre zu verbessern. Die IHK Frankfurt am Main ist in Kooperation mit dem House of Logistics and Mobility (HOLM) dieser Forderung vor Internationales Verkehrswesen (67) 2 | 2015 33 Stadtlogistik LOGISTIK zwei Jahren im März 2013 nachgekommen. Gemeinsam haben beide Häuser den Arbeitskreis „Frankfurter Wirtschaftsverkehre“ einberufen. Seither ist die Gruppe zu mehreren Sitzungen zusammengekommen und hat Projektideen entwickelt, die langfristig realisiert werden sollen: Dazu zählen etwa die Einrichtung von Güterverteilzentren/ Logistikknotenpunkten und eine Task Force für Anlieferungszonen. Ferner hat der Arbeitskreis entschieden, angesichts der unterschiedlichen Schwerpunkte beim Thema „Wirtschaftsverkehre“ mehrere Fachgruppen einzuberufen. Die Fachgruppe „Status Quo: Datengrundlage und Modellierung“ arbeitet daran, die Struktur- und Verkehrsdaten der Metropolregion FrankfurtRheinMain zu optimieren. Die Gruppe hat vor einem Jahr ein Pilotgebiet in der Frankfurter Innenstadt abgesteckt, in dem Wirtschaftsverkehre untersucht werden sollen. Ein Team unter Leitung von Prof. Dr. Petra Schäfer, Frankfurt University of Applied Sciences, hat mit Studierenden inzwischen Verkehrsdaten in diesem Pilotgebiet erhoben und Ende März die Ergebnisse in der Studie „Frankfurter Wirtschaftsverkehr - Optimierung des Wirtschaftsverkehrs in der Innenstadt“ vorgelegt. Die Fachgruppe „Bauverkehre“ analysiert Themen rund um die Baulogistik: Die Mitglieder der Gruppe wollen ihre Expertise nutzen, um eizientere Prozesse für eine nachhaltige Baulogistik zu entwickeln. Die Ergebnisse sollen Unternehmen und Stadt zur Verfügung gestellt werden. Die Fachgruppe „Last Mile Logistics“ beschäftigt sich mit der Eizienz des Zulieferverkehrs in der Innenstadt. Ziel ist es, Kooperationsmodelle für die Letzte Meile zu entwickeln. Erste Zahlen zur Logistik der letzen Meile in Frankfurt haben neben der Frankfurt University auch Prof. Dr.-Ing. Ralf Bogdanski und sein Team von der Technischen Hochschule Nürnberg in einer Studie für den Bundesverband Paket & Express Logistik (BIEK) vorgelegt. Darin sind unter anderem Mengengerüst und Umweltwirkungen von KEP-Touren in Nürnberg und Frankfurt am Main erfasst und analysiert [11] worden. Mitte Dezember vergangenen Jahres ist darüber hinaus die erste „Last Mile Logistics Conference“ im HOLM veranstaltet worden. Im Verlauf der Konferenz hat die Gruppe nach einer Auforderung von Frankfurts Verkehrsdezernent Stefan Majer entschieden, das Mikro-Depot-Konzept zu prüfen, das UPS in Kooperation mit der Stadt Hamburg erprobt und das an diesem Tag auf der Konferenz vorgestellt worden war. Mit dem Mikro-Depot soll die Innenstadt verkehrlich entlastet, die Umwelt weniger belastet und die Einwohner vor Lärm geschützt werden. In einer ersten Testphase hat UPS von Dezember 2012 bis Mai 2013 einen verschließbaren Lagercontainer (24-Fuß- Wechselkofer) am Neuen Wall aufgestellt. Der Container enthält ein Regalsystem für Pakete und Päckchen. Montags bis samstags wird der Container in der UPS-Niederlassung Hamburg-Ost beladen und an der Straße „Bei der Stadtwassermühle“ im Neuen Wall aufgestellt. Mit zwei Lastenfahrrädern, einem elektrisch angetriebenen Cargo-Bike und einer Sackkarre beliefern Mitarbeiter von UPS Privat- und Geschäftskunden auf der „letzten Meile“. Anfang des Jahres hat der Generalbevollmächtigte von UPS Deutschland, Frank Sportolari, eine positive Bilanz des Testlaufs gezogen: „Wir haben mit dem ersten Versuch mit einem Container als mobilem Depot für Pakete erreicht, dass Lieferverkehre nicht nur am Neuen Wall, sondern auch in der Umgebung reduziert werden konnten.“ [12]. Das Mikro-Depot ermöglicht es UPS, bis zu sechs Dieselfahrzeuge weniger im Wirtschaftsverkehr einzusetzen. Zugleich wird die Anzahl der Stopps von Zustellfahrzeugen um 500 pro Tag reduziert [13]. In Frankfurt denken die Partner im Arbeitskreis „Frankfurter Wirtschaftsverkehre“ darüber nach, das Mikro-Depot für die gemeinsame Nutzung mehrere KEP- Dienstleister zu öfnen und die Konsolidierungsefekte damit zu erhöhen. Darüber hinaus soll neben der funktionalen auch die ästhetische Dimension des Mikro-Depots berücksichtigt werden, um die Akzeptanz für das Projekt zu erhöhen. Dieses Vorhaben prüft die Ofenbacher Hochschule für Gestaltung (HfG), die eine Repräsentanz im HOLM unterhält und ihren Beitrag leistet, um Anwendungen in der Logistik besser zu vermitteln und für die Endkunden zu optimieren. Beteiligt am Projekt sind neben der IHK Frankfurt am Main auch die Wirtschaftsförderung Frankfurt und das Fraunhofer IML. Wirtschaft, Wissenschaft und Politik sind beim Thema auf der neutralen Plattform des HOLM von Anfang an im Gespräch. Die Partner sind sich einig, dass die Frankfurter Wirtschaftsverkehre optimiert werden müssen, ohne die Akteure zu gängeln oder durch Restriktionen die Wettbewerbsfähigkeit der Geschäfte und Läden in der Innenstadt zu gefährden. Dieses gemeinsame Ziel haben Kommunalpolitiker, Wirtschaftsvertreter und Wissenschaftler bekräftigt und dabei betont, dass die Lösungen auf die Anforderungen der Stadt Frankfurt zugeschnitten sein müssen. Frankfurt würde am Ende den Fehler vermeiden, der in anderen europäischen Kommunen häuiger gemacht worden ist, nämlich unabhängig von der Größe und der Besonderheit der Städte und ohne genauere Analyse auf gleiche Regularien wie etwa Zugangsbeschränkungen zu setzen. ■ Ansprechpartnerin für das Projekt im HOLM ist Bianca Martin [bianca.martin@frankfurt-holm.de] LITERATUR  [1] Morganti, E.: The impact of e-commerce on inal deliveries; Vortrag auf der International Scientiic Conference on Mobility and Transport [mobil.TUM], München, 19. und 20. Mai 2014  [2] Bundesverband E-Commerce und Versandhandel Deutschland [bevh]: „Bewegtes Jahr 2014 für Online- und Versandhandel“, Pressemitteilung vom 3. März 2015  [3] Dablanc, L. / Diziain, D. / Levifve H.: Urban freight consultations in the Paris region, in: European Transport Research Review, June 2011, Volume 3, Issue 1, pp 47-57  [4] Crainic, T. G.: City Logistics, CIRRELT-2008-25, Centre interuniversitaire de recherché sur les réseaux d´entreprise, la logistique et le transport, Montreal 2008  [5] Dablanc, L.: Goods Transport in large European Cities: Diicult to organize, diicult to modernize; in: Transportation Research, Part A 41, 2007, pp 280-285  [6] ALICE / ERTRAC: Urban mobility, Urban Freight Research Roadmap November 2014, http: / / www.ertrac.org/ index.php? page=ertracroadmap  [7] Umweltbundesamt: Geräuschbelastung im Straßenverkehr, http: / / www.umweltbundesamt.de/ themen/ verkehr-laerm/ verkehrslaerm/ strassenverkehrslaerm  [8] Geers Stiftung / Fraunhofer IBP: Städtelärmranking 2011 - Ein Impuls zum Nachdenken über Hörkultur und urbane Gestaltung, Pressemitteilung vom 30. September 2011  [9] Arvidsson, N / Browne, M.: A review oft the success and failure of tram systems to carry urban freight, European Transport, 2013, Issue 54 , Paper No 5. p 2 [10] Industrie- und Handelskammer Frankfurt am Main [Hrsg], Zukunft des Wirtschaftsverkehrs in Frankfurt am Main, Dokumentation einer IHK-Zukunftsklausur am 22. August 2012, Frankfurt 2012 [11] Bogdanski, R.: Nachhaltige Stadtlogistik durch Kurier- Express Paketdienste, Studie über die Möglichkeiten und notwendigen Rahmenbedingungen am Beispiel der Städte Nürnberg und Frankfurt am Main. Download unter http: / / www.biek.de/ index.php/ studien. html [12] Stadt Hamburg: „Hamburg und UPS schließen Partnerschaft für City-Logistik Modellprojekt: Nachhaltiges Lieferkonzept für die Innenstadt wird ausgeweitet“, Pressemitteilung, 28. Januar 2015. http: / / www.hamburg.de/ pre s s e arc hiv-fhh/ 4442626/ 201 5- 01-28-bwvi-lieferkonzept/ [13] „Frankfurt erwägt Testlauf mit Mikrokonsolidierungszentren - 1. Last Mile Logistics Conference im HOLM , Bericht auf der HOLM- Website: http: / / www.frankfurt-holm.de/ de/ mikrokonsolidierungszentren-fuer-die-letzte-meile-frankfurt-erwaegt-testlauf-der-innenstadt-last Jürgen Schultheis Senior Manager und Sprecher des House of Logistics and Mobility (HOLM), Frankfurt am Main juergen.schultheis@frankfurt-holm.de