eJournals Internationales Verkehrswesen 67/2

Internationales Verkehrswesen
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0020-9511
expert verlag Tübingen
10.24053/IV-2015-0046
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2015
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Luftverkehrsstandort Türkei

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2015
Richard Klophaus
Frank Fichert
Analysen zur Wettbewerbssituation des Luftverkehrsstandortes Deutschland betonen zumeist die Herausforderungen durch die stark expandierenden Fluggesellschaften aus den Golfstaaten. Dabei gerät die Türkei als mindestens ebenso ambitionierter und erfolgreicher Akteur leicht aus dem Blick. In diesem Beitrag steht daher der Luftverkehrsstandort Türkei im Mittelpunkt. Dabei gilt ein besonderes Augenmerk der Anbindung deutscher Flughäfen durch Turkish Airlines über das Luftverkehrsdrehkreuz Istanbul.
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Internationales Verkehrswesen (67) 2 | 2015 50 LOGISTIK Luftverkehr Luftverkehrsstandort Türkei Der dynamische Markt am Bosporus Luftverkehrsmarkt Türkei, Umsteigeverkehr, Turkish Airlines, Lufthansa Analysen zur Wettbewerbssituation des Luftverkehrsstandortes Deutschland betonen zumeist die Herausforderungen durch die stark expandierenden Fluggesellschaften aus den Golfstaaten. Dabei gerät die Türkei als mindestens ebenso ambitionierter und erfolgreicher Akteur leicht aus dem Blick. In diesem Beitrag steht daher der Luftverkehrsstandort Türkei im Mittelpunkt. Dabei gilt ein besonderes Augenmerk der Anbindung deutscher Flughäfen durch Turkish Airlines über das Luftverkehrsdrehkreuz Istanbul. Die Autoren: Richard Klophaus, Frank Fichert A ls Schwellenland mit bedeutendem Tourismussektor verfügt die Türkei über gute Voraussetzungen für eine dynamische Luftverkehrsentwicklung. Bei einer rund doppelt so großen Fläche wie Deutschland hat das Land heute eine um rund 5 Mio. geringere Einwohnerzahl, wobei sich der Abstand aufgrund der unterschiedlichen Geburtenraten in beiden Ländern verringert. Das Bruttoinlandsprodukt pro Kopf liegt bei rund einem Viertel des deutschen Wertes; die Wachstumsrate ist deutlich höher, Inlation und Arbeitslosenquote allerdings auch. Die türkische Bevölkerung ist regional stark konzentriert: rund 40 % der Einwohner leben in den zehn größten Städten (in Deutschland sind dies weniger als 14 %), fast 14 Mio. Menschen in der Metropole Istanbul. Luftverkehrsmarkt: Hohes Wachstum, starke Konzentration Mit 150 Mio. Passagieren auf den türkischen Flughäfen im Jahr 2013 beträgt das Luftverkehrsaukommen rund 75 % des deutschen Wertes. Angesichts der größeren Bedeutung des Inlandsverkehrs in der Türkei vergrößert sich der Abstand, wenn um die Doppelzählung der Inlandspassagiere bereinigt wird. Der türkische Luftverkehrsmarkt ist stark konzentriert. 80 % des Passagieraufkommens entfallen auf die fünf größten Flughäfen (in Deutschland rund 75 %). Der Istanbuler Flughafen Atatürk (IST) alleine hat einen Marktanteil von einem Drittel. Beeindruckend sind die hohen Wachstumsraten (siehe Bild 1). Die Passagierzahl hat sich in den vergangenen fünf Jahren mehr als verdoppelt. Die durchschnittlichen jährlichen Wachstumsraten auf den größten Flughäfen reichen von 7,5 % in Antalya bis zu 33 % auf dem zweiten Istanbuler Flughafen Sabiha Gökçen (SAW). Die staatliche Flughafenholding DHMI besitzt 44 der 49- zivilen Flughäfen [1], wobei auf zahlreichen Flughäfen unterschiedlich ausgestaltete PPP-Projekte zum Einsatz kommen. Privat betrieben werden unter anderem die beiden Istanbuler Flughäfen sowie der Flughafen Antalya, an dem auch Fraport beteiligt ist. Turkish Airlines und andere Fluggesellschaften Bedeutendster Anbieter auf dem türkischen Luftverkehrsmarkt ist Turkish Airlines [2]. Die 1933 gegründete Gesellschaft befand sich zwischen 1977 und 2004 in staatlichem Eigentum und war bis zur Deregulierung des Inlandsmarktes im Jahr 2003 auf innertürkischen Relationen vor Wettbewerb geschützt. Die Teilprivatisierung startete im Jahr 2004. Seit dem Jahr 2006 ist der Staat nur noch mit 49,12 % an der Gesellschaft beteiligt, verfügt aber durch eine „goldene Aktie“ über erweiterte Aktionärsrechte. Im Jahr 2004 begann auch das rasante Wachstum von damals rund 10 Mio. Passagieren auf rund 55 Mio. im Jahr 2014, von denen 58 % auf internationalen Strecken unterwegs sind. Tabelle 1 zeigt wesentliche Strukturdaten von Turkish Airlines im Vergleich zur Lufthansa. Derzeit betreibt Turkish Airlines 265 Flugzeuge, davon 56 Großraumlugzeuge (sog. Widebodies; Airbus 330/ 340 sowie Boeing 777), 200 Verkehrslugzeuge mit einem Gang (sog. Narrowbodies; sowohl Airbus 319/ 320/ 321 als auch Boeing 737) und neun- reine Frachtlugzeuge (sog. Freighters). Im Jahr 2010 lag die Flottengröße noch bei 153 Flugzeugen, d. h. allein in den letzten vier Jahren ist die Zahl der Flugzeuge um über 70% gewachsen (siehe Bild 2). Zusätzlich sind 212 Flugzeuge bestellt, sodass die Flotte bis zum Jahr 2021 auf 435 Maschinen anwachsen soll. Insgesamt sind in der Türkei 15 Fluggesellschaften (2012) auf dem Markt präsent, davon operieren fünf Gesellschaften mit mehr als 10 Flugzeugen. Neben den rein türkischen Airlines Turkish Airlines, Pegasus, Onur Air und Atlas Jet gehört hierzu auch SunExpress, ein Joint Venture von Lufthansa und Turkish Airlines. Turkish Airlines Lufthansa Passage (inkl. Germanwings und LH Regional) 2013 Änderung zum Vorjahr 2013 Änderung zum Vorjahr Passagiere in Mio. 48,3 + 23,6 % 76,3 + 1,4 % Passagierkilometer in Mrd. 92,0 + 23,2 % 153,3 + 2,3 % Sitzladefaktor (in %) 79,0 + 1,4 Punkte 79,1 + 1,0 Punkte Umsatz (Mio. USD) 9826 + 19,3 % 22 975 + 0,2 % Ergebnis (Mio. USD) 357 - 45,7 % 352 + 1.060 % Tabelle 1: Verkehrliche und inanzielle Kennzahlen von Turkish Airlines und Lufthansa (2013) Quelle: Turkish Airlines Annual Report 2013, Lufthansa Geschäftsbericht 2013. LH-Umsatz und Ergebnis mit jahresdurchschnittlichem Dollarkurs umgerechnet. Änderungsraten Lufthansa ohne Wechselkursefekt Internationales Verkehrswesen (67) 2 | 2015 51 Luftverkehr LOGISTIK Drehkreuz Istanbul Istanbul verfügt über hervorragende strukturelle Voraussetzungen für einen leistungsfähigen Umsteigelughafen. Neben dem großen O&D-Markt (Geschäftsreisende, Touristen, ethnische Verkehre) erweist sich die geograische Lage zwischen Europa und den wachsenden Märkten in Asien als Vorteil für diesen Standort. Der Verkehr ist derzeit auf zwei Flughäfen verteilt. Turkish Airlines nutzt den im europäischen Teil Istanbuls gelegenen Flughafen Atatürk (IST) als primären Umsteigelughafen und ist mit rund 75 % der angebotenen Sitzplatzkapazität dessen Hauptnutzer. Der im Jahr 2001 eröfnete Flughafen Sabiha Gökçen (SAW) im asiatischen Teil Istanbuls wurde zur Entlastung des kapazitätsbeschränkten Flughafens Atatürk errichtet und wird primär von Charter- und Low-Cost-Gesellschaften bedient. Allerdings bietet auch Turkish Airlines dort Inlandslüge sowie ausgewählte internationale Verbindungen an. Die meisten Flüge werden jedoch von Pegasus durchgeführt. Auf beiden Flughäfen gibt es keine Nachtlugrestriktionen. Die Zahl der von Turkish Airlines bedienten Destinationen hat in den vergangenen Jahren erheblich zugenommen und betrug 261 im Jahr 2014, davon 218 im Ausland. Folglich ist auch die Konnektivität des Flughafens Istanbul (IST) deutlich gestiegen. Konnektivität wird hierbei als Zahl wettbewerbsfähiger Umsteigeverbindungen bestimmt. Die Wettbewerbsfähigkeit einer konkreten Verbindung hängt dabei von der Anzahl und Qualität konkurrierender Verbindungen auf demselben Städtepaar ab [3]. Der türkische Hub-Flughafen lässt bei dieser Kennzifer nicht nur Dubai (DXB) weit hinter sich, sondern seine Konnektivität liegt inzwischen sogar über derjenigen von großen europäischen Luftverkehrsdrehkreuzen wie Amsterdam (AMS), Paris-Charles de Gaulle (CDG), London- Heathrow (LHR) oder München (MUC) (siehe Bild 3). Nur Frankfurt (FRA) verfügt noch über mehr wettbewerbsfähige Umsteigeverbindungen. Im Jahr 2014 weist Turkish Airlines rund 14 Mio. Transferpassagiere aus, die zwischen zwei internationalen Flügen umgestiegen sind. Anbindung an den deutschen Markt Insgesamt logen im Jahr 2013 rund 6,8 Mio. Passagiere von Deutschland in die Türkei. Bei rund 6,5 Mio. Passagieren mit letztbekanntem Ziel Türkei ergibt sich eine Zahl von rund 300 000 Umsteigern in Istanbul [4]. Im Vergleich zu den aufstrebenden Golf-Airlines verfügt Turkish Airlines über drei wesentliche Vorteile bei der Erschließung des deutschen Marktes, insbesondere für Umsteigepassagiere in Richtung Asien. Erstens haben türkische Fluggesellschaften in der EU einen grundsätzlich uneingeschränkten Marktzugang, sodass eine beliebige Zahl von Flughäfen bedient werden kann. Zweitens existiert eine relevante Nachfrage durch Quelle-Ziel-Passagiere, die für eine Grundauslastung der Flugzeuge sorgen. Die Zahl der Originäreinsteiger zwischen Deutschland und der Türkei betrug im Jahr 2013 rund 6,2 Mio., rund zehnmal so viel wie in die Vereinigten Arabischen Emirate. Drittens ist die Entfernung zwischen Deutschland und Istanbul deutlich kürzer als nach Dubai oder Abu Dhabi, sodass Narrowbodies eingesetzt werden können, die auch für kleinere Märkte geeignet sind. Turkish Airlines bindet derzeit 13 deutsche Flughäfen an ihr Netz an, einschließlich kleinerer Regionallughäfen (s. Tabelle- 2). Auf fünf deutschen Flughäfen bietet Turkish Airlines eine Sitzplatzkapazität an, die bei mehr als 30 % der von Lufthansa angebotenen Sitzplatzkapazität liegt. Wettbewerbsparameter auf Umsteigeverbindungen Die Attraktivität von Umsteigeverbindungen ergibt sich im Wesentlichen durch den Preis, die Gesamtreisezeit sowie die sonsti- 0 5 10 15 20 25 30 35 40 0 10 20 30 40 50 60 Durchschni t l. Wachstum 2008-2013 (in %) Passagiere 2013 (in Mio.) Passagiere durchschni t liches Wachstum p.a. 9 29 56 76 73 119 200 352 1 5 9 7 0 50 100 150 200 250 300 350 400 450 500 2005 2010 2014 2021 (Plan) Widebody Narrowbody Freighter Bild 1: Passagierzahl und -wachstum der zehn größten türkischen Flughäfen Quelle: DHMI, eigene Berechnungen Bild 2: Flottenentwicklung und -struktur von Turkish Airlines Quelle: Turkish Airlines Annual Reports und Fact Sheets Internationales Verkehrswesen (67) 2 | 2015 52 Logistik Luftverkehr gen Qualitätsparameter. Für viele Umsteigeverbindungen zwischen ausgewählten deutschen und asiatischen Flughäfen unterscheidet sich die Gesamtreisezeit bei einer Verbindung mit Lufthansa über Frankfurt kaum von derjenigen mit Turkish Airlines über Istanbul. Das allgemein hohe Qualitätsniveau von Turkish Airlines lässt sich unter anderem an den mehrfachen Auszeichnungen durch Skytrax erkennen. Angesichts der vergleichsweise günstigen Kostenstrukturen (die Kosten pro angebotenem Sitzplatzkilometer lagen im Jahr 2013 rund 50% unter denen der Lufthansa) ist auch die preisliche Wettbewerbsfähigkeit gegeben. Expansionspläne Sowohl die türkische Luftverkehrspolitik als auch die Unternehmensleitung von Turkish Airlines verfolgen eine ambitionierte Expansionsstrategie. Die Vision 2023 (in diesem Jahr wird der 100. Jahrestag der Republikgründung begangen) der türkischen Regierung sieht einen weiteren Ausbau der Flughafeninfrastruktur vor. Die türkische Flughafenbehörde DHMI prognostiziert für das Jahr 2023 eine Gesamtpassagierzahl von 350 Mio., dies entspricht einem durchschnittlichen jährlichen Wachstum von rund 11 %. Die Bauarbeiten für den neuen Istanbuler Flughafen, der die beiden derzeitigen Airports ab dem Jahr 2020 ersetzen soll, haben bereits begonnen. Geplant ist eine Kapazität von 150 Mio. Passagieren. strategische Herausforderungen für-deutsche Airlines Angesichts der dynamischen Entwicklung des Luftverkehrsstandortes Türkei stellt sich für deutsche Unternehmen die Frage nach einer geeigneten strategischen Antwort. Die traditionelle Kooperation zwischen Lufthansa und Turkish Airlines (Code-Sharing im Rahmen der Star Alliance, Joint Venture SunExpress) ist in der jüngsten Vergangenheit aufgrund des Expansionsdrangs des türkische Partners einigen Belastungen ausgesetzt gewesen, die auch zu teilweisen Einschränkungen geführt haben, etwa im Bereich der Zusammenarbeit bei den Vielliegerprogrammen. Durch die teilweise besseren strukturellen Wettbewerbsvoraussetzungen auf Umsteigemärkten, insbesondere in den Bereichen Originäraukommen und Verkehrsrechte, ist Turkish Airlines für Lufthansa ein perspektivisch mindestens ebenso starker Wettbewerber wie die Fluggesellschaften aus den Golfstaaten. Eine weitere Verschiebung der Gewichte zugunsten der expandierenden Gesellschaft vom Bosporus ist keineswegs unwahrscheinlich. ■ LITERATUR [1] Vgl. Turkish Civil Aviation Assembly Sector Report 2012. [2] Vgl. hierzu auch Dursun, M.E. et al. (2014): The transformation of a legacy carrier - A case study of Turkish Airlines, in: Journal of Air Transport Management, Vol. 40, S. 106-118. [3] Vgl. Grosche, T.; Klophaus, R. (2015): Hubs at Risk: Exposure of Europe’s Largest Hubs to Competition on Transfer City-Pairs, erscheint in: Transport Policy. [4] Quelle: Statistisches Bundesamt (2014), Luftverkehr auf Hauptverkehrsflughäfen, Fachserie 8, Reihe 6.1, Wiesbaden. Richard klophaus, Prof. Dr. Competence Center Aviation Management (CCAM), Hochschule Worms klophaus@hs-worms.de Frank Fichert, Prof. Dr. Competence Center Aviation Management (CCAM), Hochschule Worms fichert@hs-worms.de Flughafen sitzplatzkapazität tk sitzplatzkapazität LH Relation tk zu LH BRE 45 900 272 106 17 % CGN 90 696 251 782 36 % DRS - 250 936 0 % DUS 246 819 653 542 38 % FDH 26 040 55 080 47 % FMO 18 900 160 620 12 % FRA 270 880 16 546 779 2 % GWT - 12 810 0 % HAJ 94 886 412 226 23 % HAM 156 467 1 128 262 14 % LEJ 31 860 194 870 16 % MUC 201 935 9 612 309 2 % NUE 76 770 208 160 37 % PAD - 62 370 0 % RLG - 11 160 0 % STR 184 576 221 284 83 % TXL 216 738 1 102 694 20 % Tabelle 2: Sitzplatzkapazität von Turkish Airlines und Lufthansa auf ausgewählten deutschen Flughäfen (Sommerlugplan 2015) Quelle: Eigene Analyse auf der Basis von OAG-Daten 0 20.000 40.000 60.000 80.000 100.000 120.000 140.000 160.000 AMS CDG DXB FRA IST LHR MUC Anzahl Verbindungen 2009 2010 2011 2012 2013 2014 Bild 3: Hub-Konnektivität auf der Basis der Verbindungen in einer Beispielwoche Eigene Abbildung auf der Basis von OAG-Daten