eJournals Internationales Verkehrswesen 67/2

Internationales Verkehrswesen
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0020-9511
expert verlag Tübingen
10.24053/IV-2015-0049
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2015
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Mobilität wird flexibler, spontaner und situativer

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Kerstin Zapp
Peter Phleps
Demograische, wirtschaftliche, technologische, verkehrs- und energiepolitische Veränderungen beeinlussen unser Mobilitätsverhalten ebenso wie unsere persönlichen Einstellungen. Wie die Menschen sich 2035 in Deutschland bewegen werden, ist allerdings nicht mit Bestimmtheit vorherzusagen. Um mit diesen Unsicherheiten besser umgehen zu können, hat das Institut für Mobilitätsforschung (ifmo) seine Szenariostudie zur Zukunft der Mobilität in Deutschland ein drittes Mal fortgeschrieben. Neuer Zeithorizont ist das Jahr 2035.
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Internationales Verkehrswesen (67) 2 | 2015 58 MOBILITÄT Szenarien 2035 Mobilität wird lexibler, spontaner und situativer Mobilität, Verkehrsleistung, Demograischer Wandel, Ökologische Verantwortung Demograische, wirtschaftliche, technologische, verkehrs- und energiepolitische Veränderungen beeinlussen unser Mobilitätsverhalten ebenso wie unsere persönlichen Einstellungen. Wie die Menschen sich 2035 in Deutschland bewegen werden, ist allerdings nicht mit Bestimmtheit vorherzusagen. Um mit diesen Unsicherheiten besser umgehen zu können, hat das Institut für Mobilitätsforschung (ifmo) seine Szenariostudie zur Zukunft der Mobilität in Deutschland ein drittes Mal fortgeschrieben. Neuer Zeithorizont ist das Jahr 2035. Die Autoren: Kerstin Zapp, Peter Phleps O b Lifestyle, Kosten oder praktische Gründe: Die beiden in der ifmo-Studie „Zukunft der Mobilität - Szenarien für Deutschland in 2035“ entwickelten Szenarien „Musterschüler“ und „Mut zur Lücke“ zeichnen zwei unterschiedliche Bilder, wie das Leben in Deutschland im Jahr 2035 aussehen könnte - und speziell, wie die Menschen mobil sein könnten (Bild 1). „Musterschüler“ beschreibt Deutschland als Land, in dem eine innovationsfreudige und konkurrenzfähige Wirtschaft, höhere Infrastrukturinvestitionen sowie ein ökologischeres Verhalten als Teil des Lifestyles die Mobilität nachhaltig beeinlussen. Die Menschen führen ein arbeitsreiches, aber inanziell abgesichertes Leben. In „Mut zur Lücke“ mindert eine gesättigte Zufriedenheit die Anstrengungen, adverse Rahmenbedingungen wie den demograischen Wandel auszugleichen. Rationalisierung und Funktionalisierung prägen hier das Mobilitätsgeschehen. Die nicht ganz so Fleißigen kommen mit weniger Einkommen aus und wissen ihr Mehr an Freizeit sehr zu schätzen. Die Lebensqualität ist zwar jeweils hoch, doch die Szenarien weichen in vielerlei Hinsicht stark voneinander ab. Sie sind unter anderem durch die diferierende Lebenseinstellung und die unterschiedliche Bedeutung von Kosten geprägt. Die Bilder gehen klar im Wanderungssaldo, der Arbeitslosenquote und der Erwerbsquote Älterer auseinander. Diese Entwicklungen haben gemeinsam großen Einluss auf die Ausprägung des demograischen Wandels. Das wirkt sich deutlich auf die jeweilige Personenverkehrsleistung aus. Diese ist zwar in beiden Fällen seit 2015 gesunken, doch ist der Rückgang im Szenario „Musterschüler“ nur leicht, in „Mut zur Lücke“ dagegen erheblich. Darüber hinaus ist beispielsweise die Verbreitung der Elektromobilität sehr unterschiedlich. Szenario Musterschüler Im Szenario „Musterschüler“ hat die E-Mobilität Einzug in den motorisierten Individualverkehr gehalten. Allerdings ist dies nicht getrieben von einem hohen Ölpreis geschehen, sondern durch technisch verbesserte Batterien sowie zunächst die verstärkte Integration von Elektrofahrzeugen in Car-Sharing-Angebote und Firmenlotten. Die Bewohner Deutschlands stehen neuen Technologien ebenso aufgeschlossen gegenüber wie der Nutzung verschiedener Verkehrsmittel. Treiber der wachsenden multimodalen Orientierung sind gesellschaftliche Gründe wie die steigende ökologische Verantwortung und der Erwartungsdruck im sozialen Umfeld. Ökologisches Verhalten ist ein Lifestyle-Trend, unterstützt durch einen technologischen Schub in der Industrie. Ebenso hip ist die Bereitschaft zu nutzen, statt zu besitzen. Dies wirkt sich unter anderem positiv für Car- Sharing-Unternehmen aus. Szenario Mut zur Lücke Zeit zu haben, ist im Szenario „Mut zur Lücke“ ein Lifestyle-Element. Der Trend, zu nutzen statt zu besitzen, gehört auch in diesem Szenario zum Lifestyle, ist aber aus Kostengründen angesagt. Kosten und Eizienz bestimmen ebenfalls die Verkehrsmittelwahl. Die ökologische Verantwortung Bild 1: Die in der ifmo-Studie „Zukunft der Mobilität - Szenarien für Deutschland in 2035“ entwickelten Szenarien zeichnen unterschiedliche Bilder vom Leben in Deutschland im Jahr-2035. Alle Darstellungen: ifmo Internationales Verkehrswesen (67) 2 | 2015 59 Szenarien 2035 MOBILITÄT stagniert auf hohem Niveau, die deutsche Bevölkerung sieht ihren Wohlstand nicht gefährdet und übergibt die Verantwortung, ökologisch handeln zu müssen, an Wirtschaft und Politik, die dieser auch nachkommen. Doch selbst gepaart mit einem hohen Ölpreis und dem gesellschaftlichen Anspruch, sich ökologisch sinnvoll zu verhalten, hat die politisch getriebene Elektromobilität den Durchbruch noch nicht vollständig geschaft. Die Batterietechnologie hinkt hinterher und die Absatzzahlen für E-Fahrzeuge senken den Preis noch nicht entscheidend über die Menge. Mobilitätskosten steigen, Verkehrsleistung sinkt Gleich ist, dass in beiden Szenarien öfentlicher Verkehr, Fahrradverkehr und die Fortbewegung zu Fuß Anteile am Modal Split gewonnen haben. Eine gleichbleibend niedrige Geburtenrate, eine leicht sinkende Haushaltsgröße, geringere inländische Wanderungsbewegungen, eine wachsende Frauenerwerbsquote und der zunehmende Online-Handel gehören ebenfalls zu den Entwicklungen, die sich in beiden Fällen stark ähneln. Ebenso ist in beiden Szenarien der CO 2 -Ausstoß deutlich zurückgegangen, der Infrastrukturverfall ist gestoppt, das Verkehrsmanagement ist ausgebaut und die Mobilitätsangebote sind erweitert sowie digital und physisch miteinander vernetzt worden. Diese Errungenschaften waren jedoch teuer, die Mobilitätskosten sind sowohl für PKW-Besitzer und -Nutzer als auch für Kunden des öfentlichen Verkehrs verglichen mit der Entwicklung des Verbraucherpreisindexes überproportional gestiegen. Der nicht aufzuhaltende Bevölkerungsrückgang (Musterschüler: Im Jahr 2035 leben 700 000 Menschen weniger als heute in Deutschland; Mut zur Lücke: 3 Mio. Menschen weniger) und der demograische Wandel hin zu einer alternden Einwohnerschaft haben in beiden Szenarien die rückläuige Verkehrsleistung getrieben (Bild 2). Hinzu kommt eine Konzentration der Menschen in städtischen Regionen. Diese Entwicklungen haben die Verkehrssteigerungen im „Musterschüler“-Szenario durch mehr erwerbstätige Frauen, Fernpendlerströme, Dienstreisen, mobilere Ältere und eine stärkere Flexibilisierung des Arbeitslebens überkompensiert (Bild 3). Im Szenario „Mut zur Lücke“ dagegen wurde der durch die demograische Entwicklung und die Konzentration der Menschen in den Städten hervorgerufene Efekt der sinkenden Verkehrsleistung noch verstärkt, unter anderem durch gestiegenes Kostenbewusstsein (Bild 4). Das ifmo geht aufgrund der Untersuchungsergebnisse davon aus, dass auch nach 2035 weiterhin regelmäßig gelogen und mit der Bahn im Fernverkehr gefahren wird. Fernbusse sind jedoch längst die dritte Säule des öfentlichen Fernverkehrs. Im Nahverkehr wird der ÖPNV, ergänzt durch zu Fuß gehen und die Nutzung von Fahrrädern als gesunde, hippe und kostengünstige Alternativen, weiter an Bedeutung gewinnen. Bedeutung des PKW Das Auto wird im Jahr 2035 nach wie vor eine zentrale Rolle im Mobilitätsgeschehen spielen. Allerdings ist die Bevölkerung in beiden Fällen insgesamt multimodaler geworden. Dies ist nicht nur eine Einstellungs-, sondern zumindest in „Mut zur Lücke“ auch eine Kostenfrage. Darüber hinaus hat sich die Einstellung zur Nutzung und zum Besitz von PKW ebenfalls gewandelt. Dies gilt besonders in urbanen Räumen. Hier ist das Angebot an aufeinander abgestimmten Mobilitätsalternativen im Jahr 2035 bedeutend besser als vor zwanzig Jah- 94,8 98,7 91,8 89,0 80 85 90 95 100 105 110 1995 2000 2005 2010 2015 2020 2025 2030 2035 Index (2014=100) Musterschüler: Demogra e ekt Musterschüler: alle Ein üsse Mut zur Lücke: Demogra ee ekt Mut zur Lücke: alle Ein üsse Bild 2: Entwicklung der Personenverkehrsleistung über alle Altersgruppen und Verkehrsträger; Werte für 1995 bis 2014: gemittelte Daten aus dem Deutschen Mobilitätspanel 2013 Bild 3: Personenverkehrsleistung für unterschiedliche Verkehrsträger und Altersgruppen im Szenario „Musterschüler“. Werte für 2014: eigene Hochrechnung, basierend auf dem Deutschen Mobilitätspanel 2013 Bild 4: Personenverkehrsleistung für unterschiedliche Verkehrsträger und Altersgruppen im Szenario „Mut zur Lücke“. Werte für 2014: eigene Hochrechnung, basierend auf dem Deutschen Mobilitätspanel 2013 Internationales Verkehrswesen (67) 2 | 2015 60 MOBILITÄT Szenarien 2035 ren. Dies gilt nicht nur für die verschiedenen ÖPNV-Spielarten, sondern auch für Car- und Bike-Sharing sowie Car-Pooling. Über die Angebote und bestmögliche Reiseverbindungen klären beispielsweise Mobilitäts-Apps auf. Diese Voraussetzungen sorgen dafür, dass Mobilität - inklusive der Nutzung von PKW - anders konsumiert wird als noch zwei Dekaden zuvor: lexibler, spontaner und situativer. Einzig in wirtschaftlich schwachen Regionen wie manchen ländlichen Gebieten ist es zunehmend schwieriger, ohne PKW mobil zu sein. Dies wirkt sich stärker auf die PKW-Nutzung als auf den PKW-Besitz aus: Das eigene Auto wird zwar häuiger aus Lifestyle-, Kosten- und praktischen Gründen stehen gelassen, aber nur selten abgeschaft. Der eigene PKW steht in der Zukunft im täglichen Wettbewerb mit anderen Verkehrsträgern. Beim PKW-Kauf wird mittlerweile auch im privaten Bereich immer häuiger ein elektrischer Antrieb ernsthaft in Erwägung gezogen. Der PKW hat und wird auch über 2035 hinaus seine Rolle als besonders individuelles, in manchen Situationen kaum verzichtbares und Privatsphäre bietendes Verkehrsmittel behalten. Durch die verschiedenen Schritte des automatisierten Fahrens hin zum autonomen Fahren wird der motorisierte Individualverkehr sogar längerfristig wieder an Bedeutung gewinnen. Die Vorteile, die sich durch die Handlungsfreiheit für den Fahrer, eine geringere Umwelt- und Stressbelastung, rückläuige Unfallzahlen sowie einen kontinuierlich ließenden Verkehr ergeben, werden genutzt werden. Allerdings werden zunächst eher „Roboter-Taxis“ von Car-Sharing-Diensten und autonome Dienstwagenlotten von Unternehmen als private autonome Fahrzeuge den MIV bestimmen. ■ Die Studie „Zukunft der Mobilität - Szenarien für Deutschland in 2035“ kann unter www.ifmo.de kostenfrei heruntergeladen werden. Kerstin Zapp Freie Fachjournalistin Logistik - Mobilität - Energie, Hamburg kerstin.zapp@zappemedia.de Peter Phleps, Dr. Wissenschaftlicher Referent, Institut für Mobilitätsforschung (ifmo), München peter.phleps@ifmo.de 24 th International Symposium on Dynamics of Vehicles on Roads and Tracks August 17-21, 2015, Graz / Austria The leading international conference in the field of ground vehicle dynamics www.IAVSD2015.org REGISTRATION NOW OPEN! Find all conference details and regular updates on the program at: