Internationales Verkehrswesen
iv
0020-9511
expert verlag Tübingen
10.24053/IV-2015-0050
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2015
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Modernes Echtzeitverkehrsmanagement verlangt Nachfragemodellierung
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2015
Johannes Schlaich
Thomas Otterstätter
Sonja Koesling
Die bestehende Verfügbarkeit von Echtzeitdaten steigert bei der Bevölkerung die Erwartungshaltung: „Echtzeit“ ist kein Buzz-Wort mehr, „Echtzeit“ ist zur Realität geworden, der sich auch ein modernes Verkehrsmanagement nicht mehr entziehen kann. Doch wie lassen sich die Datenmassen intelligent weiterverarbeiten, wo liegen die Grenzen von Big Data, und wie kann Nachfragemodellierung die klafende Lücke schließen?
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Internationales Verkehrswesen (67) 2 | 2015 61 Verkehrsmanagement MOBILITÄT Modernes Echtzeitverkehrsmangement verlangt Nachfragemodellierung Echtzeit, Real Time, Verkehrsmodellierung, Big Data, Nachfragemodellierung Die bestehende Verfügbarkeit von Echtzeitdaten steigert bei der Bevölkerung die Erwartungshaltung: „Echtzeit“ ist kein Buzz-Wort mehr, „Echtzeit“ ist zur Realität geworden, der sich auch ein modernes Verkehrsmanagement nicht mehr entziehen kann. Doch wie lassen sich die Datenmassen intelligent weiterverarbeiten, wo liegen die Grenzen von Big Data, und wie kann Nachfragemodellierung die klafende Lücke schließen? Die Autoren: Johannes Schlaich, Thomas Otterstätter, Sonja Koesling R und die Hälfte aller Deutschen besitzt ein Smartphone [1]. Davon greifen drei Viertel unterwegs auf Netzinhalte zu, jeder Zweite nutzt Apps für die verschiedenen Belange des täglichen Lebens - Tendenz steigend. Zu den Top 5 der am häuigsten genutzten Apps zählen Applikationen rund um den Verkehr [2]. Dies umfasst aktuelle Verkehrsinformationen, Navigations- und Routenplanungstools sowie Fahrplanauskünfte. Weltweit werden heute täglich 2,5 Exabyte elektronische Daten erzeugt - also 2,5-Mrd. Gigabyte. Und es ist kaum vorstellbar, aber wahr: 90 % aller elektronischen Daten wurden allein in den vergangenen zwei Jahren produziert (vgl. [3]). Diese Aussage wird auch zukünftig gelten, da die Zahl der Datenquellen und das Informationsvolumen, das sie hervorbringen, weiter exponentiell wachsen werden. Daten zum Mobilitätsverhalten bilden einen Teilbereich: Mit jeder Fahrplanauskunft, jeder Routenplanungsabfrage geben die Verkehrsteilnehmer Informationen über ihr Mobilitätsverhalten preis und tragen zur Steigerung des Datenvolumens bei. Verkehrsmanagern stehen diese Informationen heute allerdings häuig noch nicht zur Verfügung. Sie speisen ihre Echtzeitinformationen aus Daten von Detektoren, Floating Car Data (FCD), automatischen Kennzeichenerfassungen (ANPR), Unfall- und Baustellenmeldungen. Auf diese Weise erlangen sie einen Überblick über die aktuelle Verkehrslage des beobachteten Gebietes und können aufgrund ihrer langjährigen Erfahrung auf regelmäßige Störungen reagieren (siehe Bild 1). Statistisch versus modellbasiert Noch mehr Handlungsspielraum bei der Wahl der besten Maßnahme erhält der Verkehrsmanager auf Grundlage von Verkehrsprognosen. Bei der Verkehrsprognose unterscheidet man heute insbesondere zwischen zwei Ansätzen: dem statistischen und dem modellbasierten Ansatz [4] (siehe Foto: iStockphoto/ querbeet Verkehrsmanagement MOBILITÄT Internationales Verkehrswesen (67) 2 | 2015 62 MOBILITÄT Verkehrsmanagement Tabelle 1). Der statistische Ansatz basiert auf Interpolation, Interferenz, Datengewinnung, „künstlicher Intelligenz“ und mathematischen Modellen, um beobachtete Zeitverläufe mit historischen Mustern abzugleichen. Die Verkehrsluss- und Geschwindigkeitsvariablen werden analysiert und prognostiziert, ohne die zugrunde liegenden Phänomene, nämlich die Interaktion der Fahrzeuge und das Fahrerverhalten, zu erklären und zu reproduzieren. Statistische Techniken eignen sich daher für die Vorausberechnung von Verkehrsmaßnahmen mit geringer Volatilität oder wiederkehrenden Verkehrsmustern. Sie stoßen allerdings an ihre natürlichen Grenzen, wenn nicht ausreichend historische Daten aus hinreichend vergleichbaren Situationen vorliegen. Dies trift insbesondere auf ungewöhnliche Situationen zu, wenn beispielsweise sich Unfälle ereignen oder Baustellen eingerichtet werden. Wer auf diese Situationen in Echtzeit reagieren möchte, kann modellbasierte Ansätze für die Prognose verwenden. Im Gegensatz zu statistischen Verfahren stützt sich der modellbasierte Simulationsansatz auf eine physikalische Interpretation des Verkehrsnetzes und der Verkehrsbedingungen. Diese wird durch eine explizite Simulation des Zusammenspiels von Verkehrsnachfrage und Verkehrsnetz, dem Angebot, ergänzt. Modellgestützte Lösungen wie zum Beispiel PTV Optima, das dynamische Prognosen für einen Zeithorizont von bis zu 60-min ausgeben kann, kombinieren dafür bewährte Oline-Verkehrsmodellierung mit Echtzeitdaten und -algorithmen. Die Grundlage dafür bildet ein beispielsweise in der Verkehrsplanungssoftware PTV Visum erstelltes Verkehrsmodell, das den jeweiligen „typischen“ Tag (z. B. Werktage oder Wochenenden) im betrachteten Verkehrsraum darstellt. Verkehrsangebot und Nachfrage werden dabei in Form von Nachfragematrizen abgebildet. Dynamische Verkehrsumlegungen berechnen die zeitabhängigen Belastungen und Abbiegeanteile im Netz aus der Verkehrsnachfrage [5, 6, 7, 8] (siehe Bild-2). All diese Informationen gibt PTV Visum an PTV Optima weiter. Dort kommen dann die Online-Daten ins Spiel: Sie werden in Echtzeit verwendet, um Kapazitäten, Geschwindigkeiten oder Belastungen des Basismodells aus PTV Visum lokal an die aktuellen Gegebenheiten anzupassen. Da PTV Optima explizit die Netzstruktur, die Verkehrslussdynamik und das Routenwahlverhalten der Verkehrsteilnehmer berücksichtigt, erfasst es auch die Verkehrssituation für Strecken, an denen keine Detektoren installiert sind (räumliche Ausbreitung), kann darüber hinaus die Auswirkungen geplanter und unerwarteter Ereignisse vorhersagen (zeitliche Ausbreitung) und dabei verschiedene strategische Maßnahmen beurteilen und vergleichen. Prognosen nur über die Verkehrsnachfrage Verkehrsnachfrage wird in der Verkehrsplanung sehr oft durch ein klassisches Nachfragemodell erzeugt. Dieses deckt die Verkehrserzeugung („Wie viele Wege werden je Wegezweck gemacht? “), die Verkehrsverteilung („Welches Ziel wird gewählt? “) und Verkehrsmittelwahl („Mit welchem Verkehrsmittel wird das Ziel erreicht? “) ab. Durch eine solche Modellierung des Entscheidungsverhaltens kann eine Maßnahmensensitivität des Modells gegenüber den typischen verkehrsplanerischen Fragestel- Bild 1: Mittels der kartenbasierten Benutzeroberfläche lässt sich in PTV Optima Rückstau, der sich beispielsweise aufgrund eines Unfalls aufbaut, simulieren und visualisieren. Bild 2: Darstellung der Streckenbelastung im KFZ-Verkehr sowie im ÖV, modelliert mit PTV Visum Beobachtete Daten Statistischer Ansatz Modellbasierter Ansatz Verkehrsschätzung - „Was ist passiert“ Eventuell bei ausgiebigen Messungen Ja Ja Verkehrsprognose - „Was wird passieren“ Nein Auschließlich bei „normalen“ Bedinungen Ja Szenarien-Evaluierung & Entscheidungsunterstützung - „Was wird passieren, wenn …? “ „Was sollten wir tun? “ Nein Nein Ja Tabelle 1: Statistischer und modellbasierter Ansatz im direkten Vergleich Internationales Verkehrswesen (67) 2 | 2015 63 Verkehrsmanagement MOBILITÄT lungen erreicht werden [9, 10]. Für ein Verkehrsmanagement mit Fokus auf den Individualverkehr dagegen können auch rein empirisch, beispielsweise mit Mobilfunkdaten erhobene Matrizen verwendet werden [11]. Durch die kontinuierlich steigende Verfügbarkeit von Echtzeitdaten könnte die vorab berechnete Nachfragematrix langfristig durch eine Echtzeit-Nachfrage aus Datenquellen ersetzt werden, die eigentlich bei der Optimierung der Mobilität einzelner Personen angefallen sind (Apps, Navigationsdienste etc.). Auf diese Weise könnten Echtzeitdaten dann nicht nur die aktuelle Verkehrslage, sondern auch die aktuellen Ziele der Verkehrsteilnehmer detektieren, die eventuell vom „typischen Tag“ abweichen. Doch auch dann wird ein Modell für die Prognose noch unverzichtbar sein, um den Verkehrsluss mittels schneller Umlegungsverfahren vorherzusagen. Verfahren, wie sie heute schon im Echtzeit-Verkehrsmanagement genutzt werden. Strategisch denken, Szenarien entwickeln Zeichnen sich in der Prognose Störungen im Netz ab, gilt es zu reagieren und die Verkehrssituation zu verbessern. Hier setzen sich Städte und Regionen unterschiedliche Ziele. Transport for London (TfL) beispielsweise misst seinen Erfolg an der Zuverlässigkeit des Verkehrsnetzes [12]: PTV Optima geht lexibel mit Key Perfomance Indicators (KPI) um, die neben dem graischen Feedback aggregierte Informationen über den Gesamtzustand im Netz liefern und eine schnell zu bewertende Entscheidungsgrundlage darstellen (siehe Bild 3). Die verwendeten KPIs sind lexibel einstellbar, wodurch es gleichgültig ist, ob der Anwender sich die Vermeidung von Staus, die Minimierung von Reisezeiten oder die Reduzierung negativer Auswirkungen geplanter sowie unvorhersehbarer Ereignisse als Zielgröße gesetzt hat. Typische Werkzeuge, um darauf zu reagieren, sind u. a. Lichtsignalanlagen (LSA), Fahrstreifenfreigaben, Wechselwegweisungen sowie durch Radio und Internet verbreitete Verkehrsinformationen. Um Stausituationen aufzulösen, werden sie heute häuig direkt „am lebenden Objekt“ eingesetzt. Selbstverständlich können erfahrene Mitarbeiter der Verkehrsmanagementzentralen aufgrund ihrer Erfahrung bereits heute positiv wirkende Strategien wählen. Doch wird man auf diese Weise nie erfahren, ob nicht eine andere Strategie besser gewesen wäre. Ist es so gesehen nicht besser, sie und ihre Alternativen in einer virtuellen Welt zu testen? Oline etwa in PTV Visum erarbeitete Strategien können in die Online-Umgebung von PTV Optima gebracht, dort anhand der aktuellen Verkehrssituation beurteilt, verglichen und „gerankt“ werden, bevor sie „auf die Straße geschickt“ werden. PTV Optima ist dabei in der Lage, mehrere Kombinationen von Strategien gleichzeitig und auch für große Netze innerhalb einiger Minuten berechnen, sodass die Umsetzung der bestmöglichen Strategie so schnell wie möglich erfolgen kann. Durch dieses Vorgehen erweitert der Verkehrsmanager seinen Erfahrungsschatz mit unvorhergesehenen Ereignissen. Er gewinnt Vertrauen in die verschiedenen Szenarien und kann aus den empfohlenen Maßnahmen diejenige auswählen, mit der sich das Straßennetz möglichst rasch wieder in einen „normalen“ Verkehrszustand versetzen lässt. ■ QUELLEN [1] Statista (2015), Anzahl der Smartphone-Nutzer in Deutschland in den Jahren 2009 bis 2014, http: / / de.statista.com/ statistik/ daten/ studie/ 1 98959/ umfrage/ anzahl-der-smartphonenutzer-indeutschland-seit-2010/ , Deutschland. [2] ARD/ ZDF-Onlinestudie (2014), www.ard-zdf-onlinestudie.de, Deutschland. [3] vgl. Barnes, J., Hitscherich, K., Koesling, S. (2014), Wie lässt sich Big Data intelligent nutzen? Neue Datenquellen für die Verkehrsmodellierung, White Paper der PTV Group, Karlsruhe, Deutschland. [4] FGSV (2012), Hinweise zur Verkehrsprognose in verkehrstechnischen Anwendungen, FGSV-Nr. 382/ 1 (Hinweispapier W1), FGSV-Verlag, Köln, Deutschland. [5] weitere Informationen, siehe Bellei, G., Gentile, G., Papola, N. (2005), A within-day dynamic traic assignment model for urban road networks. Transportation Research B 39, S. 1-29., http: / / www. sciencedirect.com. [6] weitere Informationen, siehe Gentile G., Meschini L., Papola N., (2005), Macroscopic arc performance models with capacity constraints for within-day dynamic traic assignment, Transportation Research B 39, 319-338, ISSN: 0191-2615. [7] weitere Informationen, siehe Gentile G., Meschini L., Papola N., (2007), Spillback congestion in dynamic traic assignment: a macroscopic low model with time-varying bottlenecks, Transportation Research B 41, 1114-1138, ISSN: 0191-2615. [8] weitere Informationen, siehe PTV Group (2012), Grundlagenhandbuch PTV Visum 12.5. [9] vgl. Schlaich, J., Koesling, S. (2014), Staugefahr in der City, der gemeinderat, issue 12, pp. 68-69, pro Verlag und Service GmbH & Co. KG, Schwäbisch Hall, Deutschland. [10] vgl. Friedrich, M. (2011): Wie viele? Wohin? Womit? Was können uns Verkehrsnachfragemodelle wirklich sagen? , Tagungsbericht Heureka 11, FGSV Verlag, Köln. [11] vgl. Schlaich, J., Otterstätter, T., Friedrich, M. (2011), Mobilfunkdaten im Verkehrswesen: Teil II: Anwendungen von Mobilfunktrajektorien, Straßenverkehrstechnik, Ausgabe 3, S. 152-159, Kirschbaum Verlag, Cologne, Germany. [12] Transport for London (2012), Travel in London, Report 5, http: / / www. tl.gov.uk/ assets/ downloads/ corporate/ travel-in-london-report-5. pdf. Thomas Otterstätter, Dr.-Ing. Product Manager Vision Online, PTV Group, Karlsruhe thomas.otterstaetter@ptvgroup.com Sonja Koesling Manager PR & Marketing Traic Software, PTV Group, Karlsruhe sonja.koesling@ptvgroup.com Johannes Schlaich, Dr.-Ing. Director Traic Software Product Management & Services, PTV Group, Karlsruhe johannes.schlaich@ptvgroup.com Bild 3: Mit PTV Optima lassen sich verschiedene Szenarien parallel simulieren und in Echtzeit vergleichen. Dafür können Kenngrößen individuell deiniert werden.
