eJournals Internationales Verkehrswesen 67/3

Internationales Verkehrswesen
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0020-9511
expert verlag Tübingen
10.24053/IV-2015-0073
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In größeren Dimensionen

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Stefan  Grahl
Die Zunahme des Radverkehrs in Ländern mit bislang dominierender Pkw-Nutzung ist ein weltweites Phänomen. Der Bericht zeigt, wie diese Entwicklung in Australien und den USA an Schwung gewinnt und welche verkehrspolitischen und sozialen Ziele man verfolgt.
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Internationales Verkehrswesen (67) 3 | 2015 66 MOBILITÄT Radverkehr In größeren Dimensionen Radverkehrsstrategien in Australien und den USA Radverkehrsförderung, Verkehrssicherheit, Umweltschutz, Gesundheitsvorsorge, Modal Split Die Zunahme des Radverkehrs in Ländern mit bislang dominierender Pkw-Nutzung ist ein weltweites Phänomen. Der Bericht zeigt, wie diese Entwicklung in Australien und den USA an Schwung gewinnt und-welche verkehrspolitischen und sozialen Ziele man verfolgt. Der Autor: Stefan Grahl V on Melbourne nach Sydney sind es 1400 Kilometer auf dem Rad. Minneapolis erreicht man von New Orleans aus auf der Great Mississippi River Tour nach 2760 km. Das klingt anspruchsvoll. Doch manche Dimension ist noch größer als die sportliche Leistung: Australien und die USA haben sich zum Ziel gesetzt, Radfahren als gleichberechtigte Verkehrsart neben dem motorisierten Individualverkehr (MIV) zu entwickeln. Die Herausforderung liegt dabei nicht zuerst in den Weiten dieser Länder, sondern in den Ausgangs- und Rahmenbedingungen. Australien hat etwa 22 Mio. Einwohner, von denen 92 % in Städten leben. In den USA wohnen fast 80 % der 317 Mio. Einwohner in den 50 Metropolregionen. Hier konzentrieren sich die Probleme der Verkehrsüberlastung, der Umweltverschmutzung und des übermäßigen Ressourcenverbrauchs. Ein weiterer Fakt ist gravierend: Mehr als 60 % der Erwachsenen und ein Viertel der Kinder in Australien und den USA sind übergewichtig bzw. fettleibig. Bewegungsmangel ist einer der Gründe dafür. Die jährlichen Krankheitsstatistiken belegen die negativen humanen und ökonomischen Folgen [1, 2]. Radfahren ist ein Weg, der zur Lösung der Probleme beitragen kann. Dem steht die Tatsache gegenüber, dass in Australien gegenwärtig nur etwa 1,9 Mio. Menschen regelmäßig radeln, obwohl im Durchschnitt jeder zweite Haushalt ein Fahrrad hat [1]. Zudem fahren deutlich weniger Frauen und Kinder Rad als Männer. In den USA liegt das Verhältnis radfahrender Frauen zu Männern bei 1: 3, und das bei einem Anteil des Radverkehrs am Modal Split von ohnehin nur einem Prozent. Radverkehrsstrategien und ihre Umsetzung In Australien wurde 2010 die „Nationale Radverkehrsstrategie 2011 - 2016“ beschlossen [1]. Das Ziel besteht darin, die Zahl der regelmäßig Radfahrenden zu verdoppeln. Radfahren soll sich wandeln vom alleinigen Freizeitsport hin zur Alltagsnutzung, vor allem für Fahrten zu den Arbeitsorten, Schulen und Universitäten. Ebenfalls im Jahr 2010 hat die US-Regierung ihre Leitstrategie „Transportation for a New Generation” untersetzt mit einem „Policy Statement on Bicycle and Pedestrian Accommodation - Regulations and Recommendations“ [3, 4]. Zufußgehen und Radfahren werden darin als „Active Transport“ bezeichnet und sollen gleichberechtigt zum MIV entwickelt werden. Beide Länder haben vergleichbare Strategien festgelegt, um die nationalen Ziele für den Radverkehr zu realisieren. Dazu gehört, • die Radverkehrsplanung in die Gesamtverkehrsplanung zu implementieren, • die Radverkehrsförderung zu verknüpfen mit Programmen zur Erhöhung der Verkehrssicherheit, des Umweltschutzes, der Territorialentwicklung und der Gesundheitsvorsorge, • das „Verkehrssystem Fahrrad“ allen Nutzergruppen ofen zu halten (verschiedene Altersgruppen, Geschlechter, Fähigkeiten etc.), • „das Rad nicht neu zu erinden“, sondern- internationale Erfahrungen zu nutzen [5]. Das größte Potenzial der täglichen Radnutzung wird in Australien für Wege bis zu einer Entfernung von fünf Kilometern gesehen. Das betrift ca. 20 % des Verkehrsaufkommens [1]. Ähnlich ist die Begründung in den USA: Rund 40 % der Wege sind kürzer als zwei Meilen, 87 % der PKW-Fahrten liegen zwischen einer und zwei Meilen [2]. Bei der Umsetzung der Radverkehrsstrategien verbinden beide Länder den Top- Down- Ansatz mit Basisinitiativen. Auf gesamtstaatlicher Ebene werden Richtlinien erarbeitet und Finanzierungsinstrumente bereitgestellt. Ebenfalls zentral erfolgen das Monitoring der (Förder-)Programme und die überregionale Verbreitung von Best- Practice- Erfahrungen. Den Verwaltungen der Bundesstaaten, der Regionen und Kommunen obliegen die Verankerung des Radverkehrs in Gesetzen sowie die Planung von Infrastruktur, Dienstleistungen und Verkehrsmanagement sowie die Förderung des Radverkehrs durch Ausbildung und Kampagnen. Bild 1: Planungsebenen für den Radverkehr in Australien Internationales Verkehrswesen (67) 3 | 2015 67 Radverkehr Mobilität Einen Überblick zur Vorgehensweise in Australien zeigt Bild 1. Seit 1999 besteht das „Australian Bicycle Council (ABC)“, das auf Bundesebene alle Aktivitäten koordiniert. Ihm gehören Vertreter der zentralen, der bundesstaatlichen und kommunalen Verwaltungen, der Fahrradindustrie und der Fahrradverbände an. In den USA wurden bei der Federal Highway Administration (FHWA) und in den Verkehrsministerien der Bundesstaaten „Fahrradbeauftragte“ ernannt. Daneben spielen Non-Proit-Organisationen eine wichtige Rolle. Eine von ihnen ist die 1996 gegründete „Alliance for Biking&Walking“. In diesem Netzwerk mit über 200 Gruppen informiert man sich über lokale Initiativen, tauscht Best-Practice-Beispiele aus und drängt auf die Lösung konkreter Probleme vor Ort [6]. Bereits 1880 - also vor 135 Jahren - wurde „The League of American Bicyclists“ gegründet, die ebenfalls die Förderung des Radverkehrs zum Ziel hat [7]. Sowohl in den USA als auch in Australien fehlt bislang eine verlässliche Datenbasis zum Radverkehr. Das zu ändern ist ein Schwerpunkt bei der Strategieumsetzung: „What isn’t counted, doesn’t count.“ [2]. Complete Streets und low-Cost-interventions Der grundsätzliche (neue) Planungsansatz in den USA besteht darin, Straßeninfrastruktur im Sinne von „Complete streets“ zu gestalten oder umzugestalten. Straßen „mit allem was dazu gehört“ sollen die sichere und gleichberechtigte Nutzung durch Fußgänger, Radfahrer, öfentlichen und motorisierten Individualverkehr ermöglichen. Die in der Vergangenheit vergleichsweise geringe Entwicklung von Radverkehrssystemen in Australien und den USA bietet heute die Chance, zeitgemäße Lösungen vor Ort zu schafen (Bild 2). In beiden Ländern wurden hierfür Handbücher und Richtlinien erarbeitet. Sie betrefen vor allem die Gestaltung der Infrastruktur und die Verkehrsorganisation. Obwohl die Bundes- und Bundesstaatenregierungen den Radverkehr inanziell fördern, müssen die Kommunen selbst einen großen Beitrag leisten. „Low Cost Interventions“ spielen deshalb eine wichtige Rolle [8]. Das betrift z. B. die Einrichtung von Radfahrstreifen, das Anlegen von durchgängigen Radwegverbindungen in kleineren Netzen und die Schafung von Anlagen zum Fahrradparken. Die leute begeistern Die bisherigen Erfahrungen zeigen, dass Maßnahmen auf der Angebotsseite nur eine Seite der Medaille sind, um die Radverkehrsstrategien erfolgreich umzusetzen. Dazu gehört auch, Kindern das Radfahren zu lehren und mit wirksamen Kampagnen alle Bevölkerungsgruppen zu erreichen. In Australien werden vielfältige Initiativen ergrifen, so z. B. „Ride2School“ (Kinder), „Gear Up Girl“ (Frauen) und „Bikes for the Bush“ (Native) [9]. Ähnliche Kampagnen gibt es in den USA: „Share the road“ für den gegenseitigen Respekt aller Verkehrsteilnehmer, die jährlichen Events „Bike to Work Day“ oder „Walk and Bike to School Day“. Zudem organisieren die meisten Großstädte permanente Fahrradkurse für Erwachsene. Mehr Frauen für Radfahren zu begeistern, ist das Ziel weiterer Aktionen (Bild 3). Eine Zwischenbilanz Australien und die USA verfolgen kontinuierlich die Umsetzung ihrer Radverkehrsstrategien. Die spürbare Erhöhung des Anteils dieser Verkehrsart am Modal Split soll ein Beitrag leisten für lebenswerte Städte, gesündere Menschen und Umwelt sowie geringeren Ressourcenverbrauch. In Monitoringberichten werden Fortschritte deutlich [2, 8]. Diese sind jedoch sehr verschieden zwischen den einzelnen Regionen und Städten. Bei den ausgewiesenen hohen Steigerungsraten ist das niedrige Ausgangsniveau zu berücksichtigen. Vermutlich steht die längste Wegstrecke noch bevor. Es ist eine größere Dimension. ■ QUELLEN [1] The Australian National Cycling Strategy 2011-2016, September 2010, © Austroads Ltd 2010 [2] Bicycling and Walking in US., 2012 Benchmarking Report, Alliance for Biking & Walking [3] DOT Strategic Plan 2010-2015, 2010 [4] United States Department of Transportation - Policy Statement on Bicycle and Pedestrian Accommodation - Regulations and Recommendations, http: / / www.dot.gov/ afairs/ 2010/ bicycle-ped.html [5] Pedestrian and Bicyclist Safety and Mobility in Europe, Federal Highway Administration FHWA, 2010 [6] www.bikewalkalliance.org [7] www.bikeleague.org [8] Low Cost Interventions to Encourage Cycling: Selected Case Studies, Austroads Ltd. Technical Report AP-T281-14, 2014 [9] National Cycling Strategy 2011-16, Implementation Report 2013, Austroads Ltd. 2014 Bild 3: Zielgruppenkampagne Radverkehr für-Frauen Stefan Grahl, Dr.-Ing. Grahl Ingenieurbüro für Systeme des Schienen- und Straßenverkehrs, Dresden stefangrahl@t-online.de Bild 2: Bikesharing in Washington D.C.