Internationales Verkehrswesen
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0020-9511
expert verlag Tübingen
10.24053/IV-2015-0081
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2015
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Bicar - neue Dimensionen für die urbane Shared Mobility
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Thomas Sauter-Servaes
Adrian Burrl
Salome Berger
Die Nutzung öfentlicher Fahrzeuglotten gewinnt immer mehr an Akzeptanz. Sollen die drängenden urbanen Verkehrsprobleme jedoch zielführend adressiert werden, bedarf es ergänzender Gestaltungsideen im Sharingmarkt. Mit dem Mobilitätskonzept „Bicar“ hat die Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften (ZHAW) nun einen innovativen Ansatz vorgestellt, der 2016 im Flottenbetrieb getestet werden soll.
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Internationales Verkehrswesen (67) 3 | 2015 89 Bicar - neue Dimensionen für die urbane Shared Mobility Carsharing, Bikesharing, Shared Mobility, Stadtverkehr, Nachhaltigkeit, Ressourceneizienz Die Nutzung öfentlicher Fahrzeuglotten gewinnt immer mehr an Akzeptanz. Sollen die drängenden urbanen Verkehrsprobleme jedoch zielführend adressiert werden, bedarf es ergänzender Gestaltungsideen im Sharingmarkt. Mit dem Mobilitätskonzept „Bicar“ hat die Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften (ZHAW) nun einen innovativen Ansatz vorgestellt, der 2016 im Flottenbetrieb getestet werden soll. Die Autoren: Thomas Sauter-Servaes, Adrian Burri, Salome Berger D ie umfassende Digitalisierung in vielen Lebensbereichen machte zunächst das Teilen digitaler Inhalte und inzwischen auch physischer Produkte immer einfacher. Internet und Smartphone sind die entscheidenden Katalysatoren für den Siegeszug von Sharingangeboten im Mobilitätsmarkt. Carsharing und Bikesharing verzeichneten in den letzten Jahren herausragende Wachstumszahlen. Allein in Deutschland waren Anfang 2015 über eine Million Carsharing-Nutzer registriert und damit knapp 40 % mehr als ein Jahr zuvor [1]. Noch ist ihr Anteil im Vergleich zur Grundgesamtheit der Autobesitzer marginal, doch ein Ende des dynamischen Wachstums ist vorerst nicht in Sicht. Bis 2020 geht das Beratungsunternehmen Roland Berger weltweit von einer jährlichen Steigerung der Marktgröße um 30 % aus [2]. Entsprechend investieren viele ursprünglich allein absatzfokussierte Automobilhersteller nun verstärkt in dienstleistungsorientierte Mobilitätskonzepte. Ähnlich positive Entwicklungstendenzen zeigt das Bikesharing. In über 850 Städten weltweit sind inzwischen Bikesharing-Systeme installiert, vor fünf Jahren waren es erst 220 [3]. Und auch bei den geteilten Fahrrädern wird in den kommenden Jahren ein Marktwachstum von 20 % pro Jahr prognostiziert [2]. Zusammenfassend leitet sich ofensichtlich aus dem anfänglichen Sharing-Hype tatsächlich mittelfristig ein relevanter Marktteilnehmer ab. Pragmatischere Verkehrsmittelnutzung Anscheinend wird die Einstellung zur Mobilität im Allgemeinen und zur Automobilität im Speziellen in der Bevölkerung zunehmend pragmatischer. Insbesondere der Besitz des eigenen PKW verliert an funktionaler und statusbehafteter Strahlkraft. Damit hat die Shareconomy das Potenzial, wesentlich zum Aubrechen der Jahrzehnte lang stabilen Mobilitätsroutinen und verkehrspolitischen Paradigmen beizutragen. Schon werden mutige neue Verkehrskonzepte diskutiert, nach denen ganze Stadtteile vollständig vom Privatauf das Prozentauto umgestellt werden können [4]. Soll diese Mobilitätswende jedoch gelingen, darf die Sharing-Kultur nicht nur einen neuen Pragmatismus bei der Entscheidung zwischen Nutzen und Besitzen befördern. Stattdessen muss dieser Pragmatismus in der nächsten Phase gleichfalls die eingesetzten Fahrzeuge umfassen. Auch ein im Carsharing betriebener Mini weist parkend einen Flächenfußabdruck von über 6 m 2 und eine zu bewegende Totlast von über 1 t pro Fahrzeuginsassen im Berufsverkehr auf. Angesichts der gegenwärtig im Berliner Freeloating-Carsharing gemessenen durchschnittlichen Reiseweite von rund 6-km [5] und eines Anteils von rund 50 % aller mit dem Auto in Schweizer Städten zurückgelegten Wege von unter 5 km [6] stellt sich die Frage, ob es nicht eines alternativen Sharing-Mobils bedarf, um den motorisierten Individualverkehr mit geteilten Fahrzeugen energie- und lächeneizienter zu gestalten. Die alle denkbaren Fahrtzwecke im Fern- und Nahverkehr abdeckende „Rennreiselimousine“ [7] statt im Privatbesitz nun unverändert als Flottenfahrzeug im Stadtverkehr einzusetzen, ist den zukünftigen Herausforderung der urbanen Mobilität sicherlich nicht angemessen. Bicar schließt Marktlücke Noch dominiert eine deutliche Polarisierung die urbane Shared Mobility. Auf der ei- Stadtverkehr TECHNOLOGIE Internationales Verkehrswesen (67) 3 | 2015 90 TECHNOLOGIE Stadtverkehr nen Seite das Carsharing, dessen nicht sharingspeziische Autos weitgehend dem traditionellen Leitbild des Universalfahrzeugs verhaftet bleiben, auf der anderen Seite das Bikesharing, bei dem schwere, robuste Spezialfahrräder zum Einsatz kommen. Das von diesen beiden prägenden Polen aufgespannte Feld der Sharingangebote füllt sich nur sehr langsam mit ergänzenden Angeboten. Mit dem Renault Twizy und Toyotas iRoad sind erste, aus der Autowelt abgeleitete Mikromobile mit kleinerem Footprint im Sharingbetrieb unterwegs. Oberhalb des konventionellen Bikesharings etablieren sich vermehrt Verleihsysteme mit speziellen Pedelecs und Serien-(E-)Scootern, die das platzsparende Zweiradsystem zur attraktiven Lösung auch für längere Distanzen und kürzere Reisezeiten werden lassen. Trotz dieser neuen Angebote zeigte die umfassende Markt- und Trendanalyse aber weiterhin eine unbesetzte Leerstelle: ein kostengünstiges, konstruktionstechnisch vom Fahrrad aus und speziell für das Teilen konzipiertes Citymobil, das die Flächen- und Ressourceneizienz des Fahrrads mit den bedeutendsten Komforteigenschaften eines Elektroautomobils kombiniert. Der Fragestellung dieser goldenen Mitte zwischen bike und car widmete sich ein interdisziplinäres Forschungsteam aus fünf Instituten und dem Studiengang Verkehrssysteme an der ZHAW School of Engineering. Nach nur 15 Monaten Entwicklungszeit wurde im Mai 2015 der Bicar-Prototyp präsentiert. Es ist die Abkehr von der „eierlegenden Wollmilchsau“ Automobil hin zum „urbanen Leitwolf“ Citymobil Bicar, ausgerichtet auf multimodales Verkehrsverhalten und die Smart City. „Reduce to the specs“ Lautete das Gestaltungsprinzip der ersten Generation von Daimlers revolutionärem Kleinstwagen smart noch „Reduce to the max“, stand die Bicar-Entwicklung stattdessen unter dem Motto „Reduce to the specs“: Ausgehend von den tatsächlichen Anforderungen („specs“) der Sharing-Betreiber und -Nutzer wurde das Bicar für den urbanen Kurzstreckeneinsatz konstruiert. Entsprechend standen die deutliche Absenkung der Investitions- und Wartungskosten im Vergleich zum Carsharing-Auto (mehr Fahrzeuge bei gleicher Investitionssumme), die komfortable Nutzung und intuitive Bedienung (Sharing-Ainität) sowie der geringe Flächenbedarf (Parkkosten, Stellplatzsuche) im Fokus des Forschungsvorhabens. Investition/ Wartung Das rein elektrisch angetriebene Bicar ist auf eine Höchstgeschwindigkeit von 30- km/ h und eine Reichweite von 25 km ausgelegt. Die auf die resultierenden Belastungen dimensionierte Bauweise ermöglicht ein Zielgewicht von nur 70 kg. Dieses nutzungskonforme Downsizing setzt sich auch in anderen Fahrzeugsegmenten konsequent fort. So wird beispielsweise nach der „Bring-yourown-device“-Philosophie auf ein Display verzichtet, stattdessen kann das eigene Smartphone angedockt werden. Um eine möglichst hohe Produktivität der Flotte zu erzielen, wurde von Beginn an ein hybrides Geschäftsmodell verfolgt. Dieses beinhaltet eine Produktdiferenzierung in Bicar Share und Bicar Care. Während Bicar Share die klassische Sharing-Nutzung im individuellen Leihbetrieb im stationenbasierten oder freeloating System beschreibt (Bild 1), steht Bicar Care für den Einsatz als „Traktor“ mit einem funktionsspeziischen Anhänger für Stadtbetriebe, Postzustellung oder Materialtransporte, wobei das Fahrzeug außerhalb der Betriebszeiten ohne Anhänger in den Share- Modus übergeben werden kann (Bild 2). Sharing-Ainität Vorgabe war die Realisierung eines Fahrzeugs, das von jedermann leicht zu bedienen ist, ein hohes Sicherheitsgefühl vermittelt und ausreichend Komfort für Fahrten über Distanzen von etwa 5 km bietet. Dank der dreirädrigen Konstruktion steht das Bicar zu jedem Zeitpunkt stabil. Im Gegensatz zu vielen anderen so genannten Trikes verfügt es über eine hohe Sitzposition, die eine gute Übersicht über das Verkehrsgeschehen ermöglicht und die eigene Sichtbarkeit gewährleistet. Die Haube schränkt dabei die Sicht des Fahrers nur unwesentlich ein, ihr Schutz vor Regen und Wind erhöht aber zugleich signiikant den Komfort gegenüber klassischen Sharing-Fahrrädern. Vor dem Hintergrund von beispielsweise jährlich über 100 Regentagen in der Region Zürich ein nicht unbedeutender Aspekt. Damit der Fahrspaß nicht zu kurz kommt, ist das Bicar mit einer Neigetechnik ausgestattet, die nicht nur eine hohe Wendigkeit zur Folge hat sondern zudem extrem sportliches Fahren ermöglicht. Fläche In innerstädtischen Gebieten wird der Verteilungskampf der verschiedenen Stakeholder um die kostbare Ressource Raum immer Bild 1: Bicar Share, klassische Sharing-Nutzung im individuellen Leihbetrieb Bild 2: Bicar Care mit funktionsspezifischem Anhänger Internationales Verkehrswesen (67) 3 | 2015 91 Stadtverkehr TECHNOLOGIE intensiver. Verdichtetes Wohnen, steigende Ansprüche an die Stadtraumgestaltung und eine wachsende Mobilitätsnachfrage heizen die Flächenkonkurrenz an. Schon heute werden 30 % des innerstädtischen Verkehrs in Metropolen allein dem Parksuchverkehr zugeschrieben [8]. Insofern ist die Bereitstellung und Finanzierbarkeit reservierter Stellplatzkapazitäten in attraktiven Lagen ein Schlüsselfaktor für den Erfolg von Shared-Mobility-Dienstleistungen. Dank seiner Grundläche von nur rund 1,2 m 2 und seines raumsparsamen Zugangskonzepts können auf einem regulären Autostellplatz 6 bis 8 Bicars zur Verfügung gestellt werden. Forschungsplattform Bicar Auf der Grundlage der Erfahrungen mit dem Prototypen entsteht derzeit das Konzept für die zweite Vorserien-Generation. Das Bicar 2 soll in einer Aulage von 20-Fahrzeugen gebaut werden und damit einen ersten Testlottenbetrieb ermöglichen. Das Vorhaben ist als ofene Forschungsplattform angelegt. Neben den Startpartnern sind weitere Fahrzeug- und Komponentenhersteller, Sharingbetreiber und Kommunen eingeladen, sich an Bicar zu beteiligen. Forschungsthemen wie eine Wetterschutzhülle aus biologisch abbaubaren Holzfasern, kosteneiziente Fertigungstechnologien, Mensch-Maschine-Kommunikation, Anhänger für größere Lasten oder neue Antriebtechnologien stehen bereits auf der Forschungsagenda. Das Bicar-Blog (http: / / blog.zhaw.ch/ bicar) berichtet kontinuierlich über die aktuellen Entwicklungen. ■ LITERATUR [1] bcs (2015): CarSharing wächst in der Fläche mehr als ein Viertel neuer CarSharing-Orte gegenüber dem Vorjahr. Berlin. (http: / / www.carsharing.de/ pressemitteilung-vom-16032015) [2] Freese, Christian; Schönberg, Tobias (2014): Shared Mobility.How new businesses are rewriting the rules of the private transportation game. München. (https: / / www.rolandberger.com/ media/ pdf/ Roland_Berger_TAB_Shared_Mobility_20140716.pdf) [3] Meddin, Russell (2015): The Bike Sharing World - 2014 -Year End Data, http: / / bike-sharing.blogspot. de/ 2015/ 01/ the-bike-sharing-world-2014-year-end.html [4] klimaretter.info (2015): Politische Angsthasen, sperrige Autos und netzaine Mobile. Interview mit Prof. Andreas Knie (http: / / www.klimaretter.info/ herausgeber/ prof-andreas-knie/ 19196-politischeangsthasen-sperrige-autos-und-netzaine-mobile) [5] civity (2014): Urbane Mobilität im Umbruch? matters No. 1. Berlin [6] Stadt Zürich (2012): Mobilität in Zahlen. Übersicht Kennzahlen. Im Fokus: Städtevergleich Mobilität. Zürich. (www.stadt-zuerich.ch/ content/ dam/ stzh/ ted/ Deutsch/ taz/ Mobilitaet/ Publikationen_und_ Broschueren/ Verkehrszahlen_und_Befragungen/ MiZ_Kennzahlen_2012_2-Web.pdf) [7] Canzler, Weert; Knie, Andreas (1994): Von der Automobilität zur Multimobilität. Die Krise des Automobils als Chance für eine neue Verkehrs- und Produktpolitik, in: Werner Fricke (Hrsg.): Jahrbuch Arbeit und Technik. Bonn, S. 171-182 [8] IBM (2011): IBM Global Parking Survey: Drivers Share Worldwide Parking Woes. Armonk. (https: / / www- 03.ibm.com/ press/ us/ en/ pressrelease/ 35515.wss) Adrian Burri, Dipl. Masch. Ing. ETH Leiter Zentrum für Produkt- und Prozessentwicklung, ZHAW School of Engineering, Winterthur adrian.burri@zhaw.ch Salome Berger, BA ZFH in Industriedesign Wissenschaftliche Assistentin, ZHAW School of Engineering, Winterthur salome.berger@zhaw.ch Thomas Sauter-Servaes, Dr.-Ing. Mobilitätsforscher & Studiengangleiter „Verkehrssysteme“, ZHAW School of Engineering, Winterthur thomas.sauter-servaes@zhaw.ch Gleich kostenfreie Eintrittskarte sichern! parken-messe.de/ eintrittskarten Themenschwerpunkte der Fachausstellung: • Schlüsselfertige Erstellung von Park- und Garagehäusern sowie Parkdecks • Parkhaussysteme • Parkhaussanierung • Beschilderung • Beleuchtung • Kassenautomaten • Leitsysteme • Zufahrts- und Abfahrtskontrollen Weitere Informationen unter +49 711 61946 251 oder parken@mesago.com
