eJournals Internationales Verkehrswesen 67/4

Internationales Verkehrswesen
iv
0020-9511
expert verlag Tübingen
10.24053/IV-2015-0105
111
2015
674

Simulationsgestützte Risikoanalyse des Luftverkehrs

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2015
Markus Vogel
Christoph Thiel
Hartmut Fricke
Ein zukunftsgerechter Luftverkehr erfordert in Durchsatz und Sicherheit verbesserte Verfahren, insbesondere im hoch frequentierten Flughafennahbereich. Bestehende Regularien enthalten implizite Sicherheitsmargen entsprechend technischer und menschlicher Leistungsmerkmale. Eine hoch automatisierte Sicherheitsbewertung basierend auf wissenschaftlich gesicherten Modellen dieser Merkmale ist der Zweck des vorgestellten Modells, welches mittels agentenbasierter Luftraumsimulation menschliche und verfahrensbedingte und mittels probabilistischer Kollisionsrisikoberechnung technische Parameter abbildet.
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Internationales Verkehrswesen (67) 4 | 2015 76 Simulationsgestützte Risikoanalyse des-Luftverkehrs Integriertes Sicherheitsbewertungsmodell für An- und Ablugverfahren im Kontext der Einführung lugleistungsbasierter Navigation Risikoanalyse, Air Traic Management, agentenbasierte Simulation, Kollisionsrisikomodell Ein zukunftsgerechter Luftverkehr erfordert in Durchsatz und Sicherheit verbesserte Verfahren, insbesondere im hoch frequentierten Flughafennahbereich. Bestehende Regularien enthalten implizite Sicherheitsmargen entsprechend technischer und menschlicher Leistungsmerkmale. Eine hoch automatisierte Sicherheitsbewertung basierend auf wissenschaftlich gesicherten Modellen dieser Merkmale ist der Zweck des vorgestellten Modells, welches mittels agentenbasierter Luftraumsimulation menschliche und verfahrensbedingte und mittels probabilistischer Kollisionsrisikoberechnung technische Parameter abbildet. Die Autoren: Markus Vogel, Christoph Thiel, Hartmut Fricke D as jährliche Verkehrsaukommen im Luftverkehr steigert sich bereits über einen längeren Zeitraum hinweg stetig. Globale Krisen sorgen allenfalls für zeitweilige Stagnationen. Eine im heutigen erfreulich geringen Maße gleichbleibende Unfallrate (pro Flugbewegung) ist deshalb nicht zukunftsgerecht, da einer medialen Berichterstattung steigender Unfallzahlen (pro Jahr) das Potential innewohnt, die öfentliche Wahrnehmung der Luftverkehrssicherheit empindlich zu verschieben. Im Rahmen der Neugestaltung des Europäischen Luftverkehrsmanagements (Single European Sky, SES) TECHNOLOGIE Wissenschaft Foto: Pixabay Internationales Verkehrswesen (67) 4 | 2015 77 Wissenschaft TECHNOLOGIE wird deshalb eine Senkung der Unfallrate um den Faktor zehn gefordert, um ein bis zu dreifaches Wachstum der Verkehrszahlen bis 2020 und ein weiteres Wachstum darüber hinaus gewährleisten zu können. Aus dieser dualen, und überaus ambitionierten, Zielsetzung folgt das Bestreben, die teilweise bereits bis in die 1960er Jahre zurückliegenden Verfahrensregularien des Luftverkehrs zu überarbeiten, mit dem Ziel die inhärenten Sicherheitsreserven für heute verwendete Technologien zu bemessen und die so in den letzten Jahrzehnten erarbeiteten Margen entweder dem künftig erwartetem Verkehrswachstum und einem Mehr an Sicherheit zuzuteilen. Hierbei liegt der Flughafennahbereich im Fokus, da dieser aufgrund der naturgemäß hohen Verkehrsdichte und stets einzuhaltenden Mindestabstände (Radar- und Wirbelschleppenstafelung) einen Kapazitätsengpass darstellt, welcher sich auch in den entsprechenden Unfallrisiken abzeichnet [1]. Auch die wesentliche Neuerung von SES, ein hoch automatisierter Betrieb mittels in Rechenzentren verarbeiteten 4D-Trajektorien (Beschreibung der Flugwege mittels 3D-Raumkoordinaten plus Zeit), welcher für das Jahr 2025 avisiert wird, ändert wenig an der grundsätzlichen Anforderung, Luftfahrzeuge für Start und Landung in eine Sequenz mit sicheren Abständen einzureihen, sodass letztlich nur der Ausbau von Flughafeninfrastrukturen verbliebe. Die Radarseparation, seit langer Zeit unverändert festgeschrieben im ICAO Dokument Nr. 4444 (PANS-ATM) [2], erscheint unter Betrachtung des (retrospektiv ermittelten) historischen Kontexts jedoch weit weniger unumstößlich als gemeinhin angenommen [3]: “In summary, the current three and five mile radar separation standards were apparently established based on radar accuracy, display target size, and controller and pilot confidence and represent a consensus of the users at the time radar was introduced. There appears to be no specific analysis leading to these standards. Other factors, such as human reaction time, seem to be implicitly included in these standards.” Mit der technischen Möglichkeit von hoch präzisen, satellitengestützten Navigationsverfahren (P RNAV) ist es heute im Gegensatz zu anderen Verkehrsträgern relativ einfach und mit kürzester Vorlaufzeit möglich, Routen neu zu deinieren. Luftfahrzeuge, welche mit entsprechend zertiizierten Navigationssystemen ausgerüstet sind, garantieren hierbei die Einhaltung des Flugwegs entlang einer Serie von GPS-Wegpunkten mit einer gewissen Genauigkeit. Hierdurch können die Mindestabstände entsprechend RNP-1 Standard, d.h. zugesichert in 95 % der Flugzeit innerhalb einer nautischen Meile genau, bereits heute mit 4 NM (4 x 1 NM) geringfügig unter die nominell geforderte Radarseparation von 5 NM reduziert werden. Heutige GPS-Empfangstechnik übertrift den RNP-1 Standard bereits um Größenordnungen. Die Einführung von EGNOS wird die Genauigkeit nochmals erhöhen. Der bereits veröfentlichte RNP-0.3 Standard würde eine Reduzierung des Mindestabstands auf 1,2 NM (4 x 0,3- NM) im Zwischenanlug ermöglichen. Bei Fluggeschwindigkeiten von bis zu 250 Knoten wirft dies, wie auch im obigen Zitat angemerkt, die implizite Fragestellung nach menschlich vertretbaren Reaktionszeiten sowohl an Bord (Piloten) als auch am Boden (Flugsicherung) auf. Heutige Risikoanalyseverfahren erweisen sich diesbezüglich als langfristig und kostenaufwendig sowie, aufgrund des hohen Stellenwerts von Expertenwissen in der standardisierten Methodik, auch nur eingeschränkt objektiv, da individuell bedingt immer eine Restmenge unbekannter bzw. unvorstellbarer Gefahren verbleibt. Bei hoch innovativen Systemen ist die Extrapolation der Gefahren bestehender Systeme zudem stark erschwert. Beispielhaft für die enorme Herausforderung sei der Flughafenneubau in Bejing-Daxing genannt, welcher mit sieben zivilen und einer militärisch genutzten Start-/ Landebahnen auf engstem Raum in bisher unerreichte Dimensionen vordringt. Die Konzeption von An- und Ablugverfahren ist in diesem Bereich Neuland, und, verglichen zur evolutionären Ausgestaltung westlicher Großlughäfen, in Aufwand und Ergebnisqualität kaum abschätzbar. Integriertes Sicherheitsbewertungsmodell Sogenannte Schnellzeitsimulationen des Luftverkehrs erlauben, basierend auf Modellen, die Vorhersage des Verkehrsverlaufs und werden bereits weitläuig, auch zur Risikoanalyse, eingesetzt. Für die objektive Sicherheitsbewertung spielen nach wie vor Ereignisbäume der klassischen Experten-basierten Verfahren, das heißt Serien von mit Wahrscheinlichkeiten belegten Verzweigungen zu alternativen, und verschieden sicheren Resultaten, eine dominante Rolle. In der modernen Sicherheitstheorie zeichnet sich nun ein Paradigmenwechsel in der Betrachtung des menschlichen Fehlers, weg vom Fehlerereignis hin zu einer ließenden Bandbreite zwischen idealen und suboptimalen Handlungsresultaten [4], ab. Diese Betrachtungsweise trift auf technische Toleranzen im Normalbetrieb ebenfalls zu und ist mit Ereignisbäumen inhaltlich kompatibel, da sich kontinuierliche Wertänderungen unter Nutzung von empirischen Verteilungsfunktionen mit beliebiger Präzision als diskrete Entscheidungen abbilden lassen. Dies führt jedoch zu einer großen Vielzahl durch Experten kaum zu unterscheidender Systemzustände, deren Sicherheitsbewertung auch aus praktischen Gesichtspunkten zwingend zu automatisieren ist. Alternativ kann, wenn das Systemverhalten hinreichend genau mathematischen Modellen folgt, die folgend als mikroskopisch bezeichnete Ereignisrechnung gänzlich durch zusammenfassende und deshalb als makroskopisch bezeichnete Wahrscheinlichkeitsberechnungen (Verteilungs- und Übergangsfunktionen) abgelöst werden, wodurch sich eine wesentliche Komplexitätsreduktion ergibt. Das Forschungsprojekt Makro- und mikroskopisch kombinierte Risikoanalyseverfahren im Luftverkehr auf Basis technischer, verfahrensbedingter und menschlicher Leistungsmerkmale mit minimiertem Parameterraum der Professur Technologie und Logistik des Luftverkehrs der TU Dresden widmet sich dieser Aufgabe. Als mittlerweile tragfähig nachgewiesener Lösungsansatz wurde das Konzept eines integrierten Sicherheitsbewertungsmodells (iSBM, Bild 1) aufgestellt, welches eine agentenbasierte Luftraumsimulation zur modellgetriebenen Vorhersage von idealisierten Solllugpfaden (mikroskopische Betrachtung eines selbstorganisierenden, evolutionär fortschreitenden Verkehrsgeschehens, Internationales Verkehrswesen (67) 4 | 2015 78 TECHNOLOGIE Wissenschaft Schritt 2) mit der probabilistischen Kollisionsrisikorechnung (makroskopische Betrachtung von aus aktuell erreichbaren Navigationsgenauigkeiten determinierten Kollisionsrisiken, Schritt 3) koppelt. Neben der automatisierten Sicherheitsbewertung besteht der wesentliche Vorteil in der überschaubaren Komplexität der Luftraumsimulation, welche die oft eigenstabilisierend und damit fehlertolerant wirkende, stringente Regulierung des Lufttransportsystems in den Agenten vom Typ Luftfahrzeug, Pilot und Lotse abbildet. Emergenz als Grundeigenschaft agentenbasierter Systeme gestattet es, bekannte und unbekannte Versagensmodi ohne eine vorherige (durch Experten vorgenommene) explizite Modellierung aus der Interaktion der Agenten vorherzusagen. Instabile und unsichere Parameter hingegen sind Teil der empirisch parametrierten Kollisionsrisikorechnung, welche quantitative Sicherheitsaussagen im extrem seltenen Bereich des zur Bewertung (Schritt 4) herangezogenen akzeptablen Restrisikos bereits auf Basis weniger Instanzen generierten Sollverhaltens erstellen kann. Grundlage der Berechnung ist die räumliche Lage potentieller Konliktpartner und deren verfahrens- und technologiebedingt tatsächlich erreichbare Navigationsgenauigkeit (Actual Navigation Performance, ANP), welche auf Basis von Radardatenauswertungen kalibriert wurde. Die hieraus resultierende Bewegungsunschärfe um die Sollposition lässt sich mittels numerischer Integration in das Kollisionsrisiko überführen. Entsprechend diverser Untersuchungsfragen ausgewählte oder gestaltete Nachfrage- und Systementwicklungs-Szenarien bilden den Eingangsdatenstrom (Schritt-1). Agentenbasierte Modellierung des Luftverkehrs Die Arbeitsabfolge der Fluglotsen ist stringent reguliert und lässt sich deshalb mittels vertiefender Tätigkeitsanalysen und Experteninterviews gut in ein regelbasiertes Modellwerk übersetzen. Als wesentliches Instrument für die Sequenzbildung wurde die verkehrslastabhängige Wegverlängerung/ -verkürzung erkannt, welche durch ergänzende Höhenstafelung gegen Schätzfehler, z. B. bezüglich Reaktionszeiten der Piloten und Windeinluss, abgesichert ist. Die Zuweisung von Fluggeschwindigkeiten und besagte Höhenstafelung bilden nachrangige Steuerungsgrößen. Das Modell wurde mittels gezielter Radardaten-Analysen (Zeit-Weg-Vorhersagen entlang deinierter Flugrouten) quantitativ kalibriert und computergestützt validiert. Zeitbedarf und Fehlerraten der Piloten bei der Umsetzung von Lotsenanweisungen wurden mittels sog. Part Task Human-In-The-Loop (HITL) Experiment am A320 Simulator der Professur ermittelt [5]. Die Messungen umfassten Sollwertvorgaben an den Autopilot (an der sog. Flight Control Unit, FCU) sowie Änderungen des Flugplans (an der sog. Multi-Purpose Control and Diplay Unit, MCDU). Bild 2 zeigt exemplarisch die Versuchsdurchführung und die beiden Eingabegeräte (FCU rechts oben, in Bedienung beindlich, MCDU rechts unten). Es konnte gezeigt werden, dass die bisher nicht beziferten Zeiten für Anweisungsreaktion und Greifbewegung einerseits (device acquision time) und die Eingabehandlung andererseits (device interaction time) der Theorie folgen (Approximation mit Weibull-Verteilungsfunktionen, Greibewegungen entsprechend Fitts Ge- Bild 2: Experimentelle Bestimmung von Bedien- und Reaktionszeiten im A320 Flugsimulator der Professur 1 Verkehrsszenario Flugbewegungen; Zeiten und Wege aus der Realität 2 Agentenbasierte Simulation Verhaltensmodelle von Lotsen, Piloten und Luftfahrzeugen; erzeugt Verkehrsbewegungen 3 Kollisionsrisikomodell Hochpräzises statistisches Modell aktuell erreichbarer Navigationsgenauigkeiten 4 Risikobewertung Klassifizierung von Sicherheitsereignissen nach Schwere und Häufigkeit Risk severity Risk probability Extremely improbable Catastrophic A Major C Minor D Negligible E Hazardous B B Frequent 5 Occasional 4 Remote 3 Improbable 2 1 B B Ǟ « FF ENR 1.10-16 LUFTFAHRTHANDBUCH DEUTSCHLAND 6 SEP 2001 AIP GERMANY AMDT 11 DFS Deutsche Flugsicherung GmbH Anlage / Attachment SPECIFIC IDENT OF ADDRESS(ES) AND/ OR ORIGINATOR BESONDERE ANSCHRIFT(EN) UND/ ODER AUFGEBER ADDRESS(ES) ANSCHRIFT(EN) PILOT-IN-COMMAND VERANTWORTLICHER LFZ.-FÜHRER ELT FLIGHT PLAN FLUGPLAN BUNDESREPUBLIK DEUTSCHLAND FILING TIME AUFGABEZEIT ORIGINATOR AUFGEBER Ǟ ( FF « FPL « « « « « « « « ( Ǟ Ǟ « Ǟ Ǟ Ǟ Ǟ Ǟ Ǟ « « ( AIRCRAFT IDENTIFICATION LFZ.-KENNUNG 7 FLIGHT RULES FLUGREGLEN 8 TYPE OF FLIGHT ART DES FLUGES NUMBER ANZAHL 9 TYPE OF AIRCRAFT MUSTER D. LFZ DEPARTURE AERODROME STARTFLUGPLATZ 13 TIME ZEIT WAKE TURBULENCE CATEGORY WIRBELSCHLEPPENKATEGORIE EQUIPMENT AUSRÜSTUNG 10 SPEED GESCHWINDIGKEIT 15 LEVEL REISEFLUGHÖHE ROUTE ROUTE DESTINATION AERODROME ZIELFLUGPLATZ 16 TOTAL EET VORAUSS. GESAMTFLUGDAUER OTHER INFORMATION ANDERE ANGABEN 18 HR MIN ALTERNATE AERODROME AUSWEICHFLUGPLATZ 2 ND ALTERNATE AERODROME 2. AUSWEICHFLUGPLATZ SUPPLEMENTARY INFORMATION . ERGÄNZENDE ANGABEN 19 ENDURANCE HÖCHSTFLUGDAUER HR MIN PERS. ON BOARD PERS. AN BORD EMERGENCY RADIO NOTFUNKFREQUENZ VHF UHF VHF UHF FLUORES LIGHT J ACKETS SCHWIMMWESTEN J UNGLE MARITIME DESERT POLAR SURVIVAL EQUIPMENT RETTUNGSAUSRÜSTUNG DINGHIES/ SCHLAUCHBOOTE NUMBER ANZAHL CAPACITY TRAGFÄHIGKEIT Ǟ COLOUR FARBE AIRCRAFT COLOUR AND MARKINGS FARBE UND MARKIERUNG D. LFZ. REMARKS BEMERKUNGEN COVER FILED BY NAME DES FLUGPLANAUFGEBERS SIGNATURE AIS UNTERSCHRIFT FB REMARKS NOT FOR TRANSMISSION BEMERKUNGEN NICHT ZU ÜBERMITTELN Bitte Beratung Request Briefing 3+ Erreichbarkeit bis EOBT-Tel.: .............................................................................................................................................. Available until EOBT -FAX: .............................................................................................................................................. Zusätzliche Angaben sofern erforderlich / Additional remarks if applicable Ǟ Ǟ E P A C R S D N P D M J J L F U V U V E C Ǟ - 200 - 100 0 100 200 10 - 5 10 - 4 0,001 0,01 0,1 y p H y L Bild 1: Integriertes Sicherheitsbewertungsmodell Internationales Verkehrswesen (67) 4 | 2015 79 Wissenschaft TECHNOLOGIE setz). Ein parametrisches Modell, welches die Arbeitsbelastung im Experiment übertragbar auf verschiedene Flugphasen mit einbezieht, speziiziert nun eine wesentliche Eigenschaft der Piloten. Das Verhalten der Luftfahrzeuge ist rein technisch bestimmt und konnte durch Umsetzung von Verfahrens- und Zertiizierungsanforderungen bereits hinreichend präzise nachgebildet werden. Gegenwärtig werden Flugleistungsmodelle in die Simulation integriert, um die Vorhersagegenauigkeit im Steiglug weiter zu steigern und den Kraftstofverbrauch als sekundäre Zielfunktion bemessen zu können. Stochastische Modellierung von Navigationsleistungen Die tatsächlich erreichbare Navigationsgenauigkeit (ANP) ist abhängig von der Art des Navigationsverfahrens und der verwendeten Technologie und somit hochvolatil entlang der Phasen eines einzelnen Fluges. Während die Berechnung der Kollisionsrisiken durch numerische Integration der ANP-Funktionen lediglich mathematisches Handwerk und hinreichend leistungsfähige Rechentechnik erfordert, ist die hochpräzise Bestimmung der ANP wissenschaftlich herausfordernd und deshalb Kernelement der durchgeführten Forschung [6]. Hierzu wurden zunächst Flugverlaufsdaten der Flugsicherung (sog. FANOMOS Daten) mehrerer Monate an verschiedenen deutschen Verkehrslughäfen beschaft und soweit möglich, hinsichtlich der genutzten Navigationsverfahren disaggregiert. Angelehnt an die Methoden des ICAO Collision Risk Model (CRM) [7] folgt die ANP- Modellierung aus den FANOMOS Daten dabei zunächst standardisierten statistischen Verfahren zur Bestimmung von Streuungsparametern vertikal und lateral zum Solllugpfad. Da jedoch im Rahmen von Kollisionsrisikoanalysen stets die seltenen, weit vom Erwartungswert entfernten Ereignisse bestimmend sind, wurden für die Randbereiche der Verteilung speziische, endlastige Verteilungsfunktionen entwickelt, welche es gestatten überproportionale Randbereiche hochpräzise abzubilden (sog. Tail Modelling). Über weitere statistische Verfahren wurden somit beschreibende Verteilungsfunktio- Bild 3: Modellierung der ANP, Überführung von empirischen Streumustern um die Sollposition (links) in endlastige Verteilungsfunktionen (rechts) Bild 4: Exmplarisches Ergebnis aus Luftraumsimulation und Kollisionsrisikoberechnung Internationales Verkehrswesen (67) 4 | 2015 80 TECHNOLOGIE Wissenschaft nen entwickelt, die im Kern einer Normalverteilung folgen und in den Randbereichen ein deutlich abgeschwächtes exponentielles Sinkverhalten aufweisen (vgl. Bild 3) und damit der Realität entsprechend FANOMOS Daten besser gerecht werden. Im Ergebnis zeigte sich, dass heute typische Navigationsleistungen die Mindestanforderungen gemäß ICAO wie erwartet deutlich übertrefen [8], was den technologischen Fortschritt seit Festlegung der Regelwerke anschaulich aufzeigt. Ergebnisse und Modellanwendungen Bild 4 zeigt exemplarisch für ein sicherheitskonformes Szenario die Darstellung der Ergebnisse aus Verkehrssimulation (hier: Realdaten) und Kollisionsrisikoberechnung, welche einerseits im logarithmisch skalierten Diagramm unten über den Zeitverlauf und andererseits in Form von farblich markierten Risikopotentialzonen ersichtlich ist. Die Visualisierungssoftware ermöglicht hierbei ein lexibles Vor- und Zurückfahren der Zeit, um die Evolution von Risikoereignissen zu analysieren. Bereits demonstrierte Modellanwendungen umfassen die Planungsregeln für parallel unabhängig betreibbare Start-/ Landebahnen [9], die Bemessung des Sicherheitsefekts menschlicher Reaktionszeiten [10] und durch Verkehrslast induzierte Arbeitsbelastung [11], sowie künftig reduzierter Separationswerte [8, 9]. Durch die hierbei vorgenommene Bemessung der oft implizit in den Verfahren hinterlegten Sicherheitsreserven in gegenwärtigen und künftigen Verfahren werden die Bestrebungen einer Erneuerung des Luftverkehrs-Managements (ATM) auf den heutigen Stand der Technologieentwicklung sowie die Konzeption neuartiger, zukunftsgerechter Verfahren unterstützt. Als nächster großer Schritt soll das iSBM nach dem Monte-Carlo-Schema auf Hochleistungsrechentechnik evaluiert werden, um mittels Parametervariation bisher unbekannte Sensitivitäten aufzudecken und die Sicherheitsleistung von Verfahren im Möglichkeitsraum des Normalbetriebs mit Bezug auf Gefahren zuverlässig und mit Bezug auf den extrem kleinen Bereich des akzeptablen Restrisikos hinreichend genau bewerten zu können. ■ LITERATUR [1] Boeing Commercial Airplane Group: “Statistical summary of commercial jet airplane accident, worldwide operations 1959 - 2014, Seattle, 2015 [2] ICAO: Procedures for Navigation Services - Air Traic Management (PANS ATM), ICAO Doc. 4444, 15th Edition, Montreal, 2007 [3] Thompson, Steven D.: Terminal Area Separation Standards: Historical Development, Current Standards, and Processes for Change. Massachusetts Inst. of Tech. Leximgton Lincoln Lab, 1997 [4] E. Hollnagel: Safety-I and Safety-II: The Past and Future of Safety Management, Ashgate Publishing, Ltd., 2014 [5] M. Vogel, C. Thiel, T. Kunze, H. Fricke: Ermittlung von Bedienreaktionszeiten bei der Umsetzung von Flugsicherungsanweisungen, Dresdner Transferbrief, 2015 [6] C. Thiel, H. Fricke: “Collision Risk on Final Approach - A Radar Data Based Evaluation Method to Assess Safety”, ICRAT Budapest, Hungary, 2010 [7] ICAO: Manual on the Use of the Collision Risk Model (CRM) for ILS Operations, DOC 9274- AN/ 904, 1st Edition, Montreal, 1980 [8] C. Thiel, C. Seiss, M. Vogel, H. Fricke: “Safety Monitoring of New Implemented Approach Procedures by Means of Radar Data Analysis”, ICRAT Berkeley, USA 2012 [9] M. Vogel, C. Thiel und H. Fricke (2010): A Quantitative Safety Assessment Tool Based on Aircraft Actual Navigation Performance, International Conference on Research in Airport Transportation (ICRAT), Budapest [10] Vogel, M., C. Thiel und H. Fricke (2012): Assessing the Air Traic Control Safety Impact of Airline Pilot induced Latencies, International Conference on Application and Theory of Automation in Command and Control Systems (ATACCS), London [11] Vogel, M., K. Schelbert, H. Fricke und T. Kistan (2013): Analysis of Airspace Complexity Factors Capability to Predict Workload and Safety Levels in the TMA, USA/ Europe Air Traic Management Research and Development Seminar (ATM Seminar), Chicago Christoph Thiel, Dipl.-Ing. Wissenschaftlicher Mitarbeiter, Institut für Luftfahrt und Logistik, Professur Technologie und Logistik des Luftverkehrs, TU Dresden thiel@ifl.tu-dresden.de Hartmut Fricke, Prof. Dr.-Ing. habil. Dekan der Fakultät Verkehrswissenschaften der TU-Dresden, Leiter des Instituts für Luftfahrt und Logistik, TU Dresden fricke@ifl.tu-dresden.de Markus Vogel, Dipl.-Ing. Wissenschaftlicher Mitarbeiter, Institut für Luftfahrt und Logistik, Professur Technologie und Logistik des Luftverkehrs, TU Dresden vogel@ifl.tu-dresden.de Eberhard Buhl, M.A. Redaktionsleitung Telefon (040) 23714-223 Telefax (089) 889518-75 eberhard.buhl@dvvmedia.com IHR KURZER DR AHT ZUR REDAKTION © freni/ pixelio.de