eJournals Internationales Verkehrswesen 68/1

Internationales Verkehrswesen
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0020-9511
expert verlag Tübingen
10.24053/IV-2016-0004
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Streiks und die Zuverlässigkeit der Verkehrsbedienung

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Bereits 2008 befasste sich der Wissenschaftliche Beirat beim (damaligen) BMVBS in einer Stellungnahme mit dem Thema Zuverlässigkeit im Verkehrswesen. Damals wurden verschiedene wichtige Einflussfaktoren identifiziert, jedoch wurden mögliche Auswirkungen von Arbeitskämpfen auf die Zuverlässigkeit der Verkehrsbedienung einschließlich der damit verbundenen temporären Unterbrechungen nationaler wie internationaler Logistik- und Wertschöpfungsketten sowie die daraus resultierenden hohen gesamtwirtschaftlichen Folgekosten im In- und Ausland ausgeklammert.
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Internationales Verkehrswesen (68) 1 | 2016 12 Streiks und die Zuverlässigkeit der Verkehrsbedienung Gutachten des Wissenschaftlichen Beirats beim Bundesminister für Verkehr und digitale Infrastruktur in Kurzfassung Arbeitskampf, Gewerkschaft, gesamtwirtschaftliche Folgekosten Bereits 2008 befasste sich der Wissenschaftliche Beirat beim (damaligen) BMVBS in einer Stellungnahme mit dem Thema Zuverlässigkeit im Verkehrswesen. Damals wurden verschiedene wichtige Einflussfaktoren identifiziert, jedoch wurden mögliche Auswirkungen von Arbeitskämpfen auf die Zuverlässigkeit der Verkehrsbedienung einschließlich der damit verbundenen temporären Unterbrechungen nationaler wie internationaler Logistik- und Wertschöpfungsketten sowie die daraus resultierenden hohen gesamtwirtschaftlichen Folgekosten im In- und Ausland ausgeklammert. S eit 2007 ist die Anzahl von Arbeitskämpfen im Verkehrswesen, insbesondere durch die gestiegene Streikbereitschaft kurzfristig nicht ersetzbarer Spezialisten, erheblich angestiegen. Seit ihrem dreitägigen Ausstand im April 2014 legten die Piloten des Lufthansa- Konzerns bis September 2015 insgesamt dreizehn Mal die Arbeit nieder, was zum Ausfall von insgesamt 8500 Flügen führte, auf die ca. eine Million Passagiere gebucht waren. Beim einwöchigen Streik der Lufthansa-Kabinenbesatzungen Mitte November 2015 musste das Unternehmen 4700 Flüge streichen; von dieser längsten Arbeitsniederlegung in der Geschichte der Lufthansa waren etwa 550 000 Passagiere betroffen. Schließlich traten auch die in der Gewerkschaft Deutscher Lokomotivführer (GDL) organisierten Zugführer 2014 sechsmal in großflächige Warnstreiks. Auch in anderen Teilbereichen des Verkehrsmarktes nimmt die Streikhäufigkeit seit geraumer Zeit deutlich zu; das belegt die nachstehende Übersicht für Deutschland, die keinen Anspruch auf Vollständigkeit erhebt: • Lokomotivführer (2007, 2011, 2013, 2014) • Schleusenwärter (Juli und August 2013) • Fluglotsen (EU-weit im Januar und Februar 2014; kurzfristige Absage des für Deutschland geplanten Ausstandes) • Fluggastkontrollen (2012, 2013, 2014 und 2015 in Hamburg, Düsseldorf, Frankfurt/ Hahn, Frankfurt/ Main sowie zuletzt Foto: Pixabay POLITIK Streikfolgen Internationales Verkehrswesen (68) 1 | 2016 13 Streikfolgen POLITIK Stuttgart, Köln und erneut Hamburg und Düsseldorf ) • Flughafen-Vorfeldaufsicht (Februar 2012 in Frankfurt) • Flughafen-Bodenverkehrsdienste (April 2012 in Frankfurt) • Flugbegleiter (LH, August und September 2012, November 2015); sowie • Luftfahrzeugführer (LH: 1996, 2001, 2010 sowie 2014; Augsburg Airways: Mai 2013) Auch wenn die Anzahl der Streiktage in Deutschland im internationalen Vergleich absolut gesehen noch immer sehr gering ausfällt - allerdings bei einer deutlichen Zuwachsrate im Dienstleistungsbereich in den vergangenen Jahren -, ist damit zu rechnen, dass insbesondere im Verkehrsbereich die Anzahl von Arbeitskämpfen zunehmen wird. Außerdem werden diese Streiks - auch wenn sie nur wenige Stunden dauern - mit substantiellen gesamtwirtschaftlichen Kosten durch Schädigung einer bedeutenden Zahl unbeteiligter Dritter und mit großen Gefahren für die öffentliche Sicherheit und Ordnung einhergehen. Eine wesentliche Ursache der zunehmenden Streikhäufigkeit ist die wachsende Anzahl von Spartengewerkschaften, die durch einen besonders hohen Organisationsgrad von für die Leistungserbringung unverzichtbaren Spezialisten gekennzeichnet sind. Neben den beiden bereits erwähnten Spartengewerkschaften zählen dazu im Verkehrsbereich unter anderem die Gewerkschaft der Flugsicherung (GdF), die Technik Gewerkschaft Luftfahrt (TGL), die Arbeitnehmergewerkschaft im Luftverkehr (AGiL), die Deutsche Feuerwehr-Gewerkschaft (DFeuG) sowie die Unabhängige Flugbegleiter Organisation (UFO). Den Spartengewerkschaften gelingt es in der Regel, durch derartige Arbeitskampfmaßnahmen für ihre Mitglieder nachweislich deutlich bessere Tarifabschlüsse im Vergleich zu den üblichen Standards der Branche, also den Tarifabschlüssen der großen Arbeitnehmerorganisationen, durchzusetzen. Hierdurch steigt die Attraktivität dieser Organisationen für Mitarbeiter der betroffenen Unternehmen, was sich in einem kontinuierlichen Anstieg ihrer Mitgliederzahlen zu Lasten der etablierten Großgewerkschaften zeigt, die eine im Vergleich deutlich heterogenere und daher schwerer organisierbare Mitgliedschaft aufweisen. Der zunehmende zwischengewerkschaftliche Wettbewerb führt offenbar dazu, dass die Arbeitskampf- und Tarifstrategien der Spartengewerkschaften immer häufiger auch von den Großgewerkschaften nachgeahmt werden. Im Verkehrssektor trifft dies insbesondere auf ver.di zu, die wichtigste Gewerkschaft im öffentlichen Dienst Deutschlands. Ein Sonderproblem von Arbeitskampfmaßnahmen in Dienstleistungsbranchen im Vergleich zu Industrie und Gewerbe ergibt sich des Weiteren aus der Nichtlagerfähigkeit des Produkts. Werden konkret Beförderungsdienstleistungen bestreikt, resultieren daraus volkswirtschaftlich gesehen stets ganz besonders hohe negative Externalitäten, d. h. substantielle wirtschaftliche Schädigungen einer großen Anzahl unbeteiligter Dritter (unbeteiligt in dem Sinne, dass sie nicht an den Tarifverhandlungen beteiligt sind). Entscheidende Ursache hierfür ist aus Sicht der betroffenen Kunden das Fehlen akzeptabler, also kurzfristig verfügbarer sowie qualitativ, quantitativ und preislich vergleichbarer Substitute zu den bestreikten Verkehrsangeboten. So werden beispielsweise Passagiere von Fluggesellschaften oder Eisenbahnunternehmen, aber auch die verladende Wirtschaft, die bei einem Ausstand kurzfristig nicht auf alternative Verkehrsmittel ausweichen können, von den Tarifparteien quasi in „Geiselhaft“ genommen. Angesichts der starken internationalen Vernetzung der nationalen Verkehrssysteme kommt es im Streikfall zudem regelmäßig zu negativen grenzüberschreitenden Externalitäten in erheblichem Ausmaß. Auch die deutsche Politik ist sich mittlerweile dieses Problems bewusst. Als Lösung favorisiert wurde die gesetzliche Wiederherstellung der sogenannten Tarifeinheit. Auf der Grundlage des Koalitionsvertrages der amtierenden Bundesregierung wurde im Mai 2015 vom deutschen Bundestag das sogenannte Tarifeinheitsgesetz verabschiedet. Es sieht vor, dass, soweit sich die Geltungsbereiche nicht inhaltsgleicher Tarifverträge verschiedener Gewerkschaften überschneiden, in einem Betrieb nur der Tarifvertrag derjenigen Gewerkschaft anwendbar ist, die im Betrieb die meisten Mitglieder hat. Der Wissenschaftliche Beirat stellt allerdings in Frage, ob eine derartige gesetzliche Verpflichtung zur Tarifeinheit ausreichend und wirksam ist, dem Problem der zunehmenden Streikhäufigkeit im Verkehrswesen wirksam zu begegnen. Dies gilt unabhängig von der hier nicht zu behandelnden Frage der Verfassungskonformität des Gesetzes. Zwar trifft zu, dass ohne die Entscheidung des Bundesarbeitsgerichts zur Aufhebung der Tarifeinheit von 2010 Spartengewerkschaften nicht den Einfluss besäßen, den sie seither zugunsten ihrer Mitglieder in Tarifauseinandersetzungen geltend machen können. Das Prinzip der Tarifeinheit selbst beinhaltet jedoch keine Regularien für das Führen von Arbeitskämpfen. Insbesondere enthält es keine Einschränkungen der Art, dass Streiks unter konkreten Randbedingungen nicht zulässig wären oder anderen als den derzeit geltenden rechtlichen Rahmenbedingungen unterlägen. Die Wiedereinführung der Tarifeinheit stellt somit keine hinreichende Voraussetzung zur Lösung des Problems der Streiks im Verkehrswesen dar. Demgegenüber formuliert der Wissenschaftliche Beirat auf der Basis einer ökonomischen und juristischen Analyse der Problematik und dem Vergleich der arbeitskampf- und tarifvertragsrechtlichen Regelungen anderer Länder mit dem deutschen Status quo unter Beachtung der grundgesetzlich geschützten Koalitionsfreiheit folgende Empfehlungen: Foto: Pixabay POLITIK Streikfolgen Internationales Verkehrswesen (68) 1 | 2016 14 Dem unmittelbaren Verantwortungsbereich des Bundesministeriums für Verkehr und digitale Infrastruktur zuzurechnen und diesem empfohlen werden • Maßnahmen zur Verbesserung der Informationsqualität der Bevölkerung über das während eines Streiks verfügbare intra- und intermodale Beförderungsangebot, insbesondere zu alternativen intermodalen Reiseketten; sowie • weitere dauerhafte oder zumindest temporäre Marktöffnungen wie die 2013 vollzogene Liberalisierung des Fernbusmarktes. Denkbar wären beispielsweise - ab Ankündigung eines Streiks - die Aufhebung der Fahrplanpflicht im Fernlinienbusverkehr, des Sonntagsfahrverbots für Lkw sowie sämtlicher noch bestehender Kabotageverbote. Darüber hinaus empfiehlt der Wissenschaftliche Beirat der Bundesregierung unter gemeinsamer Federführung des BMVI und des BMAS, die aufgrund erheblicher negativer Externalitäten bedeutenden gesamtwirtschaftlichen und gesellschaftlichen Folgekosten von Arbeitskampfmaßnahmen im Verkehrswesen durch den Erlass spezieller Regularien für die Durchführung von Arbeitskämpfen zu vermindern: • Zunächst sollten Arbeitskampfmaßnahmen im Verkehrswesen künftig nur dann zulässig sein, wenn sie so rechtzeitig angekündigt werden, dass die Arbeitgeberseite genügend Zeit besitzt, einen Streikfahrplan zu veröffentlichen und die Kunden genügend Zeit besitzen, entsprechend zu reagieren. Die Ankündigungsfristen sollten nach Verkehrsträger und Entfernung differenziert werden, beispielsweise von zwei Tagen für den innerstädtischen ÖPNV bis zu zwei Wochen für den interkontinentalen Flugverkehr. Damit ist dem potenziellen Missbrauch gewerkschaftlicher Macht zu Lasten der am Verhandlungsprozess ausgeschlossenen unbeteiligten Dritten im öffentlichen Interesse wirksam entgegengewirkt. Gleichzeitig würde der Arbeitskampf das bestreikte Unternehmen wirtschaftlich mit unverminderter Härte treffen. Speziell auf dem Luftverkehrsmarkt setzt dies allerdings voraus, dass den vertraglich hier aufgrund oft besonders restriktiver Buchungs- und Tarifbedingungen ungewöhnlich stark an die bestreikte Fluggesellschaft gebundenen Passagieren unmittelbar nach Ankündigung der Arbeitskampfmaßnahme bis zu deren Ende von der Fluggesellschaft kostenfreie Stornierungen sowie Umbuchungen - auch auf konkurrierende, jedoch nicht bestreikte Anbieter - zu ermöglichen sind. Eine entsprechende Regelung von Ankündigungsfristen müsste der Gesetzgeber einführen. • Erforderlich sind daneben klare gesetzliche Vorgaben zur Gewährleistung einer angemessenen Mindestversorgung der Nachfrager, also der Kunden im Passagier- und Güterverkehr, im Streikfall. Dies darf nicht, wie derzeit üblich, nach ständiger Rechtsprechung des BAG ausschließlich den Tarifvertragsparteien überlassen bleiben; unterworfen sind sie in diesem Zusammenhang bislang lediglich dem in der bundesdeutschen Praxis kaum justiziablen Prinzip der Verhältnismäßigkeit, demzufolge die durch den Arbeitskampf betroffenen Bürger in ihren eigenen Grundrechten nicht über Gebühr eingeschränkt werden dürfen. Es handelt sich hierbei vielmehr um eine originäre hoheitliche Aufgabe des Gesetzgebers zur Sicherstellung der grundsätzlichen Funktionsfähigkeit des Gemeinwesens. Eine entsprechende gesetzliche Regelung wird angeregt. • Vor der Einleitung von Arbeitskampfmaßnahmen sollte der Gesetzgeber die Tarifparteien des Weiteren grundsätzlich zur Durchführung eines Schiedsverfahrens unter Leitung eines unabhängigen und dem Gemeinwohl verpflichteten Schlichters beim Scheitern der Tarifverhandlungen verpflichten. Bis zum Ende des Schlichtungsverfahrens sollte unbedingt Friedenspflicht herrschen. In der speziellen Variante der „Compulsory final offer arbitration“ - die im angelsächsischen Raum eine gewisse Verbreitung gefunden hat - müsste sich der Schlichter im Falle einer Nichteinigung der Tarifparteien für das letzte Angebot einer der beiden Seiten entscheiden. Dies könnte im Extremfall auch per Losentscheid erfolgen. Wegen des Zufallscharakters dieses Verfahrens dürfte sich der Druck auf beide Seiten, eine Einigung im Vorfeld zu erzielen, erhöhen (wohlgemerkt allerdings nur unter der Voraussetzung, dass die Arbeitgeberseite einer harten Budgetrestriktion unterliegt). Schließlich empfiehlt der Beirat der Bundesregierung, auf die Änderung die für den Flugverkehr geltende EU-Verordnung 261/ 2004 hinzuwirken: Die rechtliche Einordnung von Streiks als „höhere Gewalt“ ist für den Bereich der Beförderungsdienstleistungen unangemessen und verschiebt einen bedeutenden Teil der Streikkosten auf die Kunden. Streik ist jedoch keine höhere Gewalt, sondern die Entscheidung von Wirtschaftssubjekten im Arbeitskampf. Eine dem entsprechende Änderung der Verordnung, verbunden mit einer Ausweitung der Kundenrechte hinsichtlich von Schadensersatz, Stornierung und Umbuchung würde die Streikkosten bei den am Arbeitskampf nicht beteiligten Kunden reduzieren. Mit diesen Empfehlungen will der Wissenschaftliche Beirat ausdrücklich keine Beurteilung der Streikanlässe und der Arbeitsplatzsituation der Streikenden vornehmen. Vielmehr sollen konstruktive Vorschläge für eine ausgewogene, auch die Interessen der betroffenen Nutzer angemessen berücksichtigende Lösung von Tarifkonflikten zur Diskussion gestellt werden. ■ Mitglieder des Wissenschaftlichen Beirats beim Bundesministerium für Verkehr und digitale Infrastruktur Prof. Dr.-Ing. Manfred Boltze Darmstadt Prof. Dr. Alexander Eisenkopf Friedrichshafen Prof. Dr.-Ing. Hartmut Fricke Dresden Prof. Dr.-Ing. Markus Friedrich Stuttgart Prof. Dr. Hans-Dietrich Haasis Bremen Prof. Dr. Günter Knieps Freiburg Prof. Dr. Dr. h.c. Andreas Knorr Speyer Prof. Dr. Kay Mitusch Karlsruhe Prof. Dr. Stefan Oeter (Vorsitzender) Hamburg Prof. Dr. Dr. h.c. Franz Josef Radermacher Ulm Prof. Dr. Gernot Sieg Münster Prof. Dr.-Ing. Jürgen Siegmann Berlin Prof. Dr. Bernhard Schlag Dresden Prof. Dr. Wolfgang Stölzle St. Gallen Prof. Dr.-Ing. Dirk Vallée Aachen Prof. Dr. rer. nat. Hermann Winner Darmstadt