eJournals Internationales Verkehrswesen 68/1

Internationales Verkehrswesen
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0020-9511
expert verlag Tübingen
10.24053/IV-2016-0009
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2016
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Aus der Geschichte lernen - jetzt

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Werner Balsen
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Internationales Verkehrswesen (68) 1 | 2016 23 U nmittelbar vor Ausbruch des Ersten Weltkrieges ging in Wien alles seinen gewohnten Gang. Die Titel der Zeitungen beherrschte die Frage, wer zum Begräbnis des ermordeten Thronfolgers und seiner Frau geladen war. Auf den folgenden Seiten ging es um die hochsommerlich schläfrige Börse und die Ferienziele der Prominenz. Alles schien weiter zu gehen wie immer - und doch war kurz darauf alles vorbei. Der niederländische Schriftsteller Geert Mak, der die Stimmung in der österreichischen Hauptstadt im August 1914 beschreibt, fragt sich, ob „uns nicht im Moment dasselbe widerfährt“. Wir nehmen vielleicht wahr, dass sich die Europäische Union in einer extrem schlechten Verfassung befindet - aber wir nehmen es sicher nicht ernst. Alles geht weiter - aber nie war die Gefahr so groß, dass schon bald alles vorbei ist. War das grenzenlose Miteinander-wollen Jahrzehnte lang Ideal und Grundlage für Prosperität in Europa, gilt es plötzlich als Bedrohung. Politische Kräfte, die für die nationale Abschottung eintreten, erhalten Zulauf, der vor einigen Jahren noch unvorstellbar gewesen wäre. Parteien, die offen gegen Grundfesten der westlichen Demokratie eintreten, übernehmen Regierungen - wie in Ungarn und Polen. Die Staaten der Visegrád- Gruppe - Polen, Ungarn, Tschechien und Slowakei - verweigern sich der innereuropäischen Solidarität und lehnen es, anders als vereinbart, ab, Flüchtlinge aufzunehmen. Grenzzäune und -kontrollen, deren Verschwinden jahrelang der sichtbarste und „publikumswirksamste“ Ausdruck der europäischen Einheit war, tauchen mehr und mehr auch zwischen den Schengen-Staaten wieder auf. Jahrelang stritt man in der EU über Details: den „schwerfälligen Bürokratismus“ der Institutionen, die Regeln für Schwefel im Schiffskraftstoff oder über Belastungen, die Betroffene als überzogen, unnötig und einseitig befanden. Heute geht es ums Ganze - der Sinn des zusammenwachsenden Europas wird in Frage gestellt, der Nationalstaatsgedanke offen propagiert. Und wir zucken mit den Achseln. Dabei gibt es kaum einen Sektor, der die Wiederkehr der Nationalstaaten, Grenzen und Schlagbäume so fürchten muss wie die Transport- und Logistikbranche. Sie hat vom Wegfall der Grenzen profitiert und sollte sich nur mal kurz in Erinnerung rufen, wie kompliziert noch Ende der 1960er Jahre ein LKW-Transport von Duisburg ins gerade mal 100 km entfernte Eindhoven war. Wie lang die Schlangen an den Grenzübergängen an normalen Tagen waren. Und bis wo die Lastwagen standen, wenn die Zöllner in Belgien oder anderswo gerade mal wieder Dienst nach Vorschrift machten oder gar streikten, um ihr Gehalt aufzubessern. Schön und gut, wird der eine oder andere vielleicht sagen: Aber davon sind wir doch noch weit entfernt. Irrtum: Der flämische Transport- und Logistikverband (TLV) registrierte Zeitverluste seiner Mitglieder von einer bis drei Stunden an der Grenze, als die französischen Behörden nach den Anschlägen von Paris - legalerweise - die Grenzkontrollen wieder einführten. Der Verband spricht von Millionenverlusten. Der Abgrund ist also gerade für die Transport- und Logistikbranche schon erkennbar. Grund genug also gerade für die Unternehmer dieses Sektors nicht nur mit den Achseln zu zucken, sondern aktiv und engagiert für eine funktionierende EU einzutreten. Das ist gar nicht so mühsam. Unternehmer und Verbände könnten aktiver als sie es jetzt machen - wenn sie es denn überhaupt tun - all jenen entgegen treten, die auch in Deutschland mit nationalistischen und anti-europäischen Parolen zu punkten versuchen. Sie könnten immer wieder klar machen, was das für ihre Geschäfte und damit auch für die Arbeitsplätze im Land bedeutet. Denkbar wäre weiterhin, Kontakte zu den Bundes- und Landtagsabgeordneten zu suchen. Sie könnten ihnen aufzeigen, was es für den drittgrößten Sektor in der deutschen Volkswirtschaft bedeutet, wenn Europa scheitert. Und schließlich: Die Älteren unter Ihnen könnten den Jungen in den Unternehmen dringende Nachhilfe in Sachen EU geben. Viele Beschäftigte in den Firmen haben nie etwas anderes erlebt als das grenzenlose Europa. Sie nehmen es als gegeben hin, weil ihnen die alten Zeiten fremd sind, die keineswegs gut waren. Erinnern Sie daran, machen Sie den jungen Leuten klar, dass die EU - bei allem gelegentlichen Ärger über die da oben in Brüssel - etwas ist, was es zu erhalten gilt. Lassen Sie - anders als in Wien vor gut 100 Jahren - nicht alles einfach weitergehen. So verhindern Sie am ehesten, dass schon bald alles vorbei ist. ■ Werner Balsen EU-Korrespondent der DVZ Deutsche Verkehrs-Zeitung B E R I C H T A U S B R Ü S S E L VON WERNER BALSEN Aus der Geschichte lernen - jetzt