eJournals Internationales Verkehrswesen 68/1

Internationales Verkehrswesen
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0020-9511
expert verlag Tübingen
10.24053/IV-2016-0021
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2016
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Vernetzte Mobilität der Zukunft erfahrbar machen

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Frank Hunsicker
Simon Schäfer-Stradowsky
Udo Onnen-Weber,
Automatisiertes Fahren besteht nicht nur aus dem Ansatz der Autoindustrie, nach und nach weitere Annehmlichkeiten bei Fahrerassistenzsystemen zu erreichen. Eine Forschungsstrategie sollte sich zudem nicht nur darauf konzentrieren, Autobahnabschnitte für hochautomatisierte Fahrzeuge testweise freizugeben. Vielmehr müssen die Chancen des automatisierten Fahrens auch zur Lösung virulenter Probleme genutzt werden, wie bspw. die Stauproblematik in den Ballungszentren oder der brachliegende öffentliche Nahverkehr in immer mehr ländlichen Regionen. Hochautomatisierte Fahrzeuge können hier schnell zu Lösungen beitragen, indem sie – zunächst versuchsweise – Bestandteil einer vernetzten Mobilitätskette werden. Die Vision ist, dass vollautomatisierte, fahrerlose und selbstverständlich elektrisch angetriebene People Mover in den Städten Taxi und Carsharing ergänzen bzw. ersetzen und auch dem ländlichen Raum neue Mobilitätsoptionen ermöglichen. Die Technik gibt es schon, sie muss nur auf geeigneten Testfeldern erprobt werden. Die Partner im Kompetenznetz Intermodale Automatisierte Mobilität (KIAM) setzen auf Reallabore, die den vernetzten Mobilitätsalltag der Zukunft hervorragend simulieren und schon früh ‚niedrigschwellig‘ für Nutzer und Stakeholder erfahrbar machen sowie Nutzen und Anwendbarkeit in den Vordergrund stellen.
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Internationales Verkehrswesen (68) 1 | 2016 59 Automatisiertes Fahren MOBILITÄT Vernetzte Mobilität der Zukunft erfahrbar machen Die Rolle von Reallaboren für einen etwas anderen Ansatz des automatisierten Fahrens Intermodalität, Automatisierte Mobilität, Digitalisierung, Reallabor Automatisiertes Fahren besteht nicht nur aus dem Ansatz der Autoindustrie, nach und nach weitere Annehmlichkeiten bei Fahrerassistenzsystemen zu erreichen. Eine Forschungsstrategie sollte sich zudem nicht nur darauf konzentrieren, Autobahnabschnitte für hochautomatisierte Fahrzeuge testweise freizugeben. Vielmehr müssen die Chancen des automatisierten Fahrens auch zur Lösung virulenter Probleme genutzt werden, wie bspw. die Stauproblematik in den Ballungszentren oder der brachliegende öffentliche Nahverkehr in immer mehr ländlichen Regionen. Hochautomatisierte Fahrzeuge können hier schnell zu Lösungen beitragen, indem sie - zunächst versuchsweise - Bestandteil einer vernetzten Mobilitätskette werden. Die Vision ist, dass vollautomatisierte, fahrerlose und selbstverständlich elektrisch angetriebene People Mover in den Städten Taxi und Carsharing ergänzen bzw. ersetzen und auch dem ländlichen Raum neue Mobilitätsoptionen ermöglichen. Die Technik gibt es schon, sie muss nur auf geeigneten Testfeldern erprobt werden. Die Partner im Kompetenznetz Intermodale Automatisierte Mobilität (KIAM) setzen auf Reallabore, die den vernetzten Mobilitätsalltag der Zukunft hervorragend simulieren und schon früh ‚niedrigschwellig‘ für Nutzer und Stakeholder erfahrbar machen sowie Nutzen und Anwendbarkeit in den Vordergrund stellen. Autoren: Frank Hunsicker, Simon Schäfer-Stradowsky, Udo Onnen-Weber L eise und wie von Geisterhand gesteuert nähert sich das kleinbusartige Fahrzeug und durchquert die Fußgängerzone am alten Hafen von La Rochelle, verfolgt von den staunenden Augen der flanierenden Touristen. Für die Einheimischen war es hingegen bereits nach wenigen Tagen ein gewohnter Anblick und für manche von ihnen wurde es vorübergehend zum täglichen Transportmittel. Eine kleine Flotte fahrerloser Shuttles verband zwischen Dezember 2014 und April 2015 mehrere Punkte der Innenstadt als quasi-öffentlicher Verkehr miteinander und beförderte dabei fast 15 000 Fahrgäste 1 . Auf dem Weg zum automatisierten Fahren: Was heute schon möglich ist Das Spannende an diesem Modellversuch ist zweierlei: Zum einen handelte es sich bei dem Fahrzeug weder um einen Prototypen eines großen Autoherstellers auf der Grundlage einer vorhandenen und in Serie produzierten Karosserie, noch um das vielzitierte Google Car, das für ganz andere Ziele entwickelt wird. Zum anderen fand die Demonstration nicht auf einem hermetisch abgeriegelten Versuchsgelände statt, sondern im öffentlichen Raum und unter Interaktion mit anderen Verkehrseilnehmern (ein sog. Operator, der notfalls eingreifen konnte, war dabei immer an Bord). La Rochelle war der Auftakt zu weiteren, ebenfalls zeitlich begrenzten Versuchsanleitungen in ausdrücklich urbaner Umgebung, die im Rahmen des von der EU geförderten Projektes „CityMobil2“ 2 im Jahr 2015 umgesetzt werden konnten (Bild 1). Weitere Gastgeberstädte waren Lausanne, Vantaa Bild 1: Teststrecke in La Rochelle Foto: Hunsicker Bild 2: Teststrecke in Vantaa (Finnland) Foto: City of Vantaa/ CityMobil2 Internationales Verkehrswesen (68) 1 | 2016 60 MOBILITÄT Automatisiertes Fahren (Finnland, Bild 2) und Trikala (Griechenland). Sicher sind wir heute noch weit davon entfernt, den öffentlichen Verkehr im Straßenraum mit seinen hochkomplexen Verkehrssituationen bereits in den nächsten Jahren vollautomatisierten Fahrzeugen zu überlassen. Kein Busfahrer wird vorerst Gefahr laufen, arbeitslos zu werden. Dennoch ist es wichtig, auch in einem vergleichsweise frühen Stadium der technologischen Entwicklung konkrete Anwendungsfälle zu schaffen und sie einer größeren Öffentlichkeit vorzuführen. Nur dann können die technischen Herausforderungen mit Fahrzeug und Infrastruktur erkannt und gemeistert, aber auch administrative oder rechtliche Folgen besser abgeschätzt werden. Mit diesem Praxisansatz bei gleichzeitiger wissenschaftlicher Begleitung konnten und können wichtige Forschungsfragen schneller und zielgenauer beantwortet werden. die Vision des automatisierten Fahrens: Intermodal und für alle erlebbar Zu Recht fragen sich die Leser, warum solche Erfahrungen nicht auch in ihrer Umgebung gemacht werden können. Leider finden offizielle Modellversuche bislang nur im europäischen Ausland, in Nordamerika und Südostasien statt und es sind fast ausschließlich Partner und Hersteller aus dem Ausland involviert. Dabei gäbe es auch hierzulande eine Vielzahl interessanter Use- Cases für hochautomatisierte Fahrzeuge als Bestandteil des öffentlichen Verkehrs und Teil einer vernetzten Mobilität. Die Entwicklung dorthin steht nicht erst am Anfang; es besteht die Gefahr, ohne eigene Testfelder den Anschluss zu verpassen. Genau hier setzt das neu gegründete Kompetenznetz Intermodale Automatisierte Mobilität - kurz KIAM 3 - an. Schon seit geraumer Zeit arbeiten das InnoZ 4 , das Institut für Verkehrssystemtechnik am DLR 5 , das IKEM 6 und das Kompetenzzentrum ländliche Mobilität 7 gemeinsam und mit weiteren Partnern an Zukunftsfragen der Mobilität. Ein immer wiederkehrendes Thema ist der in Deutschland vorherrschende Trend, Mobilität vorrangig entlang der Interessen der Automobilindustrie weiter zu entwickeln. Die Partner bei KIAM fordern einen Paradigmenwandel, bei dem nicht mehr das Fahrzeug, sondern das Mobilitätssystem im Vordergrund steht. Nachdem dieser Paradigmenwandel beim Thema Elektromobilität zu kurz gekommen ist, hat es sich KIAM zur Aufgabe gemacht, bei der Entwicklung des automatisierten Fahrens neue Ziele zu setzen, neue Wege zu finden und neue Partnerstrukturen zu fördern, damit die Mobilität der Zukunft nicht nur vom „schneller, weiter, flächenintensiver“ geprägt sein wird, sondern vielmehr intelligente, vernetzte und an den jeweiligen Zweck angepasste Konzepte in den Vordergrund rücken. Das Netzwerk KIAM setzt dabei im Wesentlichen auf die Automatisierung des Fahrens als Teil einer vernetzten Mobilität. Die Initiatoren sind davon überzeugt, dass das automatisierte Fahren langfristig die Städte lebenswerter machen wird und den ländlichen Raum mit bezahlbarer öffentlicher Mobilität versorgen kann. Sie glauben aber auch, dass dazu ganz neue Systemlösungen gebraucht werden und jedes Thema vorbehaltlos diskutiert werden sollte. Diese Diskussionen sollen zeitgleich mit der Umsetzung im Rahmen von Reallaboren öffentlich und praxisorientiert geführt werden. Die Reallabore sollten jedermann zugänglich sein und die Einsatzfelder Stadt, Stadtumland sowie den ländlichen Raum widerspiegeln. Umsetzung in Reallaboren: Stadt und Land im Mobilitätsfluss Langfristig gesehen haben vollautomatisierte Fahrzeuge das Potenzial, das, was heute „vernetzte Mobilität“ genannt wird und was erst in ersten Ansätzen funktioniert, zu einem konkurrenzfähigen und effizienten Gesamtsystem abzurunden, das breite Kreise der Bevölkerung ansprechen kann. Je nach räumlicher Lage und Bevölkerungsdichte ergeben sich dabei - wie in der klassischen Verkehrsplanung - unterschiedliche Anforderungen. Im städtischen Kontext ist vollautomatisiertes Fahren die logische Weiterentwicklung moderner Ideen zur intelligenten städtischen Mobilität: Voll elektrisch, CO 2 -frei, induktiv geladen, leise, sicher, platzsparend und als Teil einer integrierten Mobilitätskette auf Abruf disponibel. In der längerfristigen Vision verteilt sich eine große Menge vollautomatisierter Carsharing-Fahrzeuge (‚Peoplemover‘ oder ‚Robotaxis‘) nachfrageorientiert in der Stadt und bewegt sich bei Bedarf selbständig zum Kunden hin. Somit wird ein stets verfügbarer flexibler Dienst gewährleistet, der sich als Teil des öffentlichen Mobilitätsangebotes versteht. Darüber hinaus fungieren die Fahrzeuge, wenn sie per induktiver Übertragung mit dem Stromnetz verbunden sind, als bidirektionaler Energiespeicher. Da nur so viele Fahrzeuge wie benötigt ins System eingespeist werden und sie dazu sehr viel platzsparender an den dazu geeigneten Orten (z.B. Parkdecks oder Depots an der Peripherie) während der Ruhe- und Ladezeiten abgestellt sind, entstehen völlig neue Optionen für die Gestaltung des öffentlichen Raumes. Auf dem Weg dahin wird es bei Bedarf Carsharing-PKW geben, die mit niedriger Geschwindigkeit autonom zu einem Kunden rollen, den er als Fahrer konventionell weiterbewegt, bevor sich das Fahrzeug am Ziel der Fahrt wieder selbständig entfernt. Oder es wird vollautomatisierte barrierefreie Kleinbusse geben, die der Fei- HiNTERgRuND Die Chance zur aktiven beteiligung: KiAM Das Kompetenznetz Intermodale Automatisierte Mobilität (KIAM) versteht sich als offenes Netzwerk. Offen für engagierte Institutionen und für Ideen. Nicht zuletzt ergibt sich auch für Industriepartner die Chance, an einer Entwicklung teilzuhaben und sie mitzugestalten, die im Zuge der Digitalisierung unserer Lebenswelten auch den Mobilitätssektor umfassend verändern wird. • KIAM ist kein Forschungscluster, sondern eine Kommunikationsplattform, die neue Partnerstrukturen fördert. Mitwirkende sind sicher diejenigen, die Fragestellungen beantworten: Ingenieure oder Psychologen oder Designer usw., vor allem aber auch diejenigen, die die Fragestellungen erst einmal formulieren: die Menschen vor Ort, die Bürgermeister und Landkreisabgeordneten, Sozialwissenschaftler und Regionalentwickler usw. • KIAM sieht Interdisziplinarität dabei vor allem als den Austausch zwischen Praktikern und Wissenschaftlern und nicht nur unter Wissenschaftlern. • KIAM unterstützt bei der Formulierung von Forschungsfragen, die vom gesellschaftlichen Bedarf ausgehen statt von den technologischen Möglichkeiten. Weil dabei immer der Mensch im Fokus steht, ist technologisches Downsizing durchaus eine der Optionen. • Bei KIAM steht das Arbeiten in Reallaboren im Vordergrund. Dabei werden Forschungsfragen an konkreten Orten mit konkreten Nutzern, im realen Leben dieser Menschen und in hoher Verantwortlichkeit erprobt und evaluiert. Dadurch erhalten sie einen hohen Nutzen und sind sofort wirksam. Weitere Informationen: www.kiam-net.de Internationales Verkehrswesen (68) 1 | 2016 61 Automatisiertes Fahren MOBILITÄT nerschließung zwischen größeren Achsen von U- oder S-Bahn dienen, für die sich der Einsatz von Großgefäßen nicht lohnt. Letzteres bietet sich auch für suburbane Bereiche als sinnvoller Anwendungsbezug an. Im ländlichen Kontext besteht die Vision in nichts weniger als einer Revolution der Erreichbarkeit: Langfristig werden selbst sehr periphere Ortslagen rund um die Uhr auch ohne eigenen PKW mit einer Art öffentlicher Verkehr erreichbar - anders als heute, da sich der ÖPNV oftmals auf den notwendigen Schülerverkehr mit Bussen beschränkt. Auch hier geht es letztendlich um vernetzte Mobilität, da weitere Strecken aus den Zentren schneller und effizienter im Schienen- oder im Busschnellverkehr überbrückt werden können. Die „letzten Meilen“ erledigen dann fahrerlose Shuttles. Auch hier wird es Übergangsformen geben müssen, wie etwa fahrerlose Kleinbusse, die auf klar definierten Abschnitten und unter Einhaltung aller Sicherheitsmaßnahmen Bahnhöfe und Haltestellen im ländlichen Raum auf exklusiv genutzten Wegen mit kleineren Ortsteilen in der Umgebung verbinden. Für alle potenziellen Use-Cases in städtischen, stadtumlandbezogenen oder ländlichen Räumen ergibt sich eine Reihe von Herausforderungen, die auch für die spezifischen nationalen wie regionalen Rahmenbedingungen in Deutschland frühzeitig getestet werden sollten. Gerade die rechtliche Situation ist zudem von internationalen Straßenverkehrsabkommen vorbestimmt. Konkret bedeutet das: Fahrerloses Fahren ist im Anwendungsgebiet der internationalen Verträge derzeit nicht erlaubt. Doch auch der Rechtsrahmen ist in Bewegung und es mehren sich die Anzeichen einer langsamen Öffnung hin zum automatisierten Fahren. Bis zur Schaffung allgemein gültiger Regelungen setzen die Reallabore auf schon heute bestehende Ermessenspielräume in Ausnahmegenehmigungsvorschriften und Experimentierklauseln. Dass mit deren Hilfe einiges möglich ist, zeigen die eingangs beschriebenen Beispiele, die in Staaten umgesetzt wurden, die ebenfalls den internationalen Verträgen unterliegen. Ein typisch deutsches Problem ist dagegen die Integration des automatisierten Fahrens in die ÖPNV- Finanzierung und in die Vorgaben des Personenbeförderungsgesetzes (PBefG). Die Hürden, die hier bestehen, können nach Überzeugung der Autoren am besten durch das Erfahrbarmachen der Vorteile in den Reallaboren überwunden werden. ■ 1 http: / / www.citymobil2.eu/ en/ upload/ Dissemination_materials/ citymobil2%20newsletter%205_v03.pdf 2 http: / / www.citymobil2.eu 3 www.kiam-net.de 4 Innovationszentrum für Mobilität und gesellschaftlichen Wandel (InnoZ) GmbH, Berlin 5 Deutsches Zentrum für Luft- und Raumfahrt e.V. (DLR) 6 Institut für Klimaschutz, Energie und Mobilität - Recht, Ökonomie und Politik e.V. 7 KOMOB, Kompetenzzentrum ländliche Mobilität, Hochschule Wismar Simon Schäfer-Stradowsky Geschäftsführer, Institut für Klimaschutz, Energie und Mobilität - Recht, Ökonomie und Politik e.V. (IKEM), Greifswald/ Berlin simon.schaefer-stradowsky@ikem.de Udo Onnen-Weber, Prof. Leiter Kompetenzzentrum ländliche Mobilität, Hochschule Wismar udo@onnen-weber.de Frank Hunsicker Fachgebietsleiter, Innovationszentrum für Mobilität und gesellschaftlichen Wandel (InnoZ) GmbH, Berlin frank.hunsicker@innoz.de PTV Group the world in motion is our home. vision-traffic.ptvgroup.com/ oev Mit PTV Visum planen Sie Ihr ÖV-System nachfrage- und serviceorientiert, denn wenn Reisende das Unterwegssein genießen, stimmt die Qualität des Angebots. Als Weltmarktführer bietet Ihnen unsere Software effiziente Planungsverfahren sowie verständliche umfassende Darstellungs- und Analysemöglichkeiten. Dank Schnittstellen zu allen relevanten Systemen integriert sich PTV Visum optimal in Ihre Unternehmensprozesse. Die Besucher der IT Trans sind herzlich zum PTV Pre-Event eingeladen. Im Rahmen Ihres Messebesuchs heißen wir Sie am 29.02.2016 ab 17: 30 Uhr im PTV Haus willkommen. Seien Sie unser Gast! 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