eJournals Internationales Verkehrswesen 68/2

Internationales Verkehrswesen
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0020-9511
expert verlag Tübingen
10.24053/IV-2016-0039
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2016
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Herausforderung Demographie - Wandel für Logistiker

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Susanne Koch
Die Sicherung der Lebensqualität im Alter ist eine wichtige gesellschaftliche Aufgabe. Die Heterogenität der Pflegeleistungen sowie die Vielzahl der involvierten Akteure ergibt ein komplexes Netzwerk. Dies reicht von Pflegebedürftigen und deren Angehörigen über Erbringer von Pflegedienstleitungen bis zu Herstellern von Pflegehilfsmitteln, außerdem Krankenkassen und Sozialdienste sowie Transport- und Lieferdienste. Eine Verbesserung der Informationsflüsse zwischen den Netzwerkteilnehmern führt zur Entlastung der Pflegekräfte und zu neuen Tätigkeitsfeldern für Logistikdienstleister.
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Internationales Verkehrswesen (68) 2 | 2016 40 Herausforderung Demographie - Wandel-für Logistiker Effiziente logistische Versorgung zur Sicherstellung autonomen Handelns im Alter Logistik, Demographischer Wandel, Logistikdienstleister, Pflegedienstleister Die Sicherung der Lebensqualität im Alter ist eine wichtige gesellschaftliche Aufgabe. Die Heterogenität der Pflegeleistungen sowie die Vielzahl der involvierten Akteure ergibt ein komplexes Netzwerk. Dies reicht von Pflegebedürftigen und deren Angehörigen über Erbringer von Pflegedienstleitungen bis zu Herstellern von Pflegehilfsmitteln, außerdem Krankenkassen und Sozialdienste sowie Transport- und Lieferdienste. Eine Verbesserung der Informationsflüsse zwischen den Netzwerkteilnehmern führt zur Entlastung der Pflegekräfte und zu neuen Tätigkeitsfeldern für Logistikdienstleister. Autorin: Susanne Koch D er Demographische Wandel gehört zweifelsfrei zu den wichtigsten Megatrends und hat weitreichende Folgen nicht nur für die Wirtschaft, sondern auch für die gesamte Gesellschaft. Während zahlreiche Untersuchungen zu den Ursachen und den damit verbundenen Herausforderungen für die Gesellschaft aus vielen Forschungsdisziplinen vorliegen [1, 2, 3], sind die Auswirkungen auf den Logistikbereich des Pflegesektors bislang nur unzureichend untersucht. Zahlreiche Studien weisen auf die Zunahme pflegebedürftiger Menschen hin [4, 5], allerdings liefern sehr wenige Untersuchungen Lösungsansätze dafür, wie die Bereitstellung der für die Pflege notwendigen Ver- Foto: Pixabay LOGISTIK Wissenschaft Internationales Verkehrswesen (68) 2 | 2016 41 Wissenschaft LOGISTIK brauchs- und Gebrauchsmittel vor dem Hintergrund des Demographischen Wandels sichergestellt werden kann. Untersuchungsgegenstand Die Sicherung der Lebenssituation von hilfe- und pflegebedürftigen Menschen bildet nach wie vor eine wichtige sozial- und gesundheitspolitische Aufgabenstellung. Derzeit sind rund 2,4 Mio. Menschen in Deutschland auf Pflege im Sinne des Pflegeversicherungsgesetzes (SGB XI) angewiesen [6]. Laut Aussage des statistischen Bundesamtes soll die Anzahl pflegebedürftiger Menschen bis zum Jahr 2030 auf 3,4 Mio. ansteigen [7]. Neben betriebswirtschaftlichen Herausforderungen, wie z. B. die Erhaltung der Produktivität von zunehmend älteren Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern, die Sicherstellung eines autonomen Handelns im hohen Alter oder die Umsetzung familienfreundlicher Unternehmenskonzepte im Hinblick auf die Pflege älterer Angehöriger, müssen auch die zunehmenden Anforderungen des personenbezogenen Dienstleistungssektors berücksichtigt werden. Hier ist insbesondere die Vernetzung in den Sozial-, Pflege- und Gesundheitsbereichen sicherzustellen. Vergegenwärtigt man sich die Heterogenität der Pflegeleistungen und individueller Hilfsdienste sowie die Vielzahl der in die Pflege involvierten Akteure, so erhält man ein komplexes Netzwerk, das von dem einzelnen Pflegebedürftigen und dessen Angehörigen über die einzelnen Erbringer von Pflegeleistungen bis zu den Herstellern von Pflegehilfsmitteln reicht. Ebenso dürfen hierbei administrative Institutionen wie Krankenkassen und Sozialdienste sowie Transport- und Lieferdienste nicht vernachlässigt werden. Die optimale Versorgung Pflegebedürftiger hängt damit in einem hohen Maße von einem permanenten Informationsaustausch zwischen den Netzwerkpartnern ab. In diesem Netzwerk spielen Logistikdienstleister eine immer größere Rolle bei der kostengünstigen und effizienten Bereitstellung der Pflegehilfsmittel. Methodik Mithilfe der Forschungspartner, der deutschen Gesellschaft des international tätigen Logistikunternehmens Kühne + Nagel und der „Allgemeine Pflegedienste und Wohnungsbetreuung Obertshausen gGmbH“ der Arbeiterwohlfahrt Obertshausen wurde das Logistik-Netzwerk auf einer ersten Abstraktionsebene dargestellt. Zu diesem Zweck wurden mit ausgewählten Vertreterinnen und Vertretern der Forschungspartner, sowie weiteren Akteuren des Logistik-Netzwerkes Experteninterviews durchgeführt und ausgewertet. Erste Ergebnisse Zunahme an Pflegehilfsmitteln und individuellen Pflegeleistungen Problembeschreibung: Die steigende Zahl von Pflegebedürftigen wird zu einer verstärkten Nachfrage nach Pflegehilfsmitteln und Pflegedienstleistungen führen. Zu den für die Pflege notwendigen Gebrauchsgütern gehören z. B. Pflegehilfsmittel zur Erleichterung der Pflege, wie Pflegebetten, Bettgalgen, Aufrichthilfen, Seitengitter und Toilettenstühle, Pflegehilfsmittel zur Körperpflege wie Bettpfannen, Urinflaschen und Duschwagen, Pflegehilfsmittel zur selbständigen Lebensführung wie Hausnotrufsysteme, Rollstühle, Gehwagen und Gehgestelle sowie Pflegehilfsmittel zur Linderung von Beschwerden, wie Lagerungshilfen. Zum Verbrauch bestimmte Pflegehilfsmittel sind z. B. Inkontinenzmaterial und Schutzbekleidung, sowie Hände- und Flächendesinfektionsmittel [8]. Darüber hinaus werden Pflegedienstleistungen und Produkte immer individueller und wandeln sich im Laufe der Erkrankung und des Alters. Der Wunsch der meisten Pflegebedürftigen nach einer Pflege in der häuslichen Umgebung führt zu einer Zunahme von Sendungen verbunden mit einer Vielzahl kleinerer Ablieferstellen und damit zu einer zusätzliche Belastung der Verkehrsinfrastruktur, insbesondere in den Städten. Diese Entwicklungen müssen von allen Beteiligten entlang der Supply Chain berücksichtigt werden und stehen in engem Zusammenhang mit der zunehmenden Urbanisierung [9]. Da die Pflegehilfsmittel bezüglich ihrer logistischen Eigenschaften, wie Abmessungen und Gewichte, aber auch Erklärungsbedürftigkeit sehr heterogen sind, werden an den logistischen Prozess hohe Anforderungen hinsichtlich Flexibilität gestellt. Hinzu kommen, insbesondere bei der häuslichen Pflege, Herausforderungen wie genauer Zustelltermin, Abhängigkeit der Zustellung von der Verfügbarkeit des Pflegedienstes, kleine Einzelbedarfsmengen aufgrund der Lagerung in der häuslichen Umgebung der zu Pflegenden. Mögliche Lösungsansätze: Die Herausforderungen bezüglich der Gestaltung des Logistischen Netzwerkes und eines effizienten Materialflusses macht eine Überprüfung der bestehenden logistischen Infrastruktur in den Städten erforderlich. Wesentliche Aspekte dieser City Logistik sind Mobilität, Nachhaltigkeit und Lebensqualität [10]. Zur Sicherstellung der Versorgung Pflegebedürftiger mit Pflegemitteln, Gütern des täglichen Bedarfs und der pflegerischen Unterstützung ist eine Restrukturierung innerstädtischer Verkehrswege zwingend erforderlich. Nicht zu vernachlässigen ist hierbei die Bereitstellung von Parkflächen für Pflegedienste und Logistikdienstleister. Die Aspekte Nachhaltigkeit und Lebensqualität werden durch den zunehmenden Verkehr beeinflusst. Eine Möglichkeit zur Reduzierung der Schadstoffbelastung kann der Einsatz von Elektrofahrzeugen insbesondere für Pflegedienste sein. Einige Experten halten auch den Einsatz von E-Bikes für möglich, hier muss jedoch im Einzelfall ein Abwägen zwischen den Sicherheitsanforderungen für die Mitarbeiter insbesondere bei schlechtem Wetter und den Vorteilen einer schnellen Erreichbarkeit der Pflegebedürftigen stattfinden. Neben diesen langfristigen Maßnahmen können mittelfristig organisatorische Schritte zur Optimierung und Vereinfachung der Supply Chain führen. Dazu gehören u.a. die Konsolidierung von Sendungen zur Reduzierung von Einzeltransporten, eine Verbesserung der Rückwärtslogistik der Gebrauchsgüter zur Aufarbeitung, eine Reduzierung der Bestände im gesamten Logistischen System durch eine zentralisierte Lagerhaltung z.B. in speziellen Distributionszentren zusammen mit den Pflegediensten. Internationales Verkehrswesen (68) 2 | 2016 42 LOGISTIK Wissenschaft Kein durchgehender Informationsfluss zwischen den Beteiligten der Supply Chain Problembeschreibung: Ein effizienter Materialfluss in der Supply Chain kann nur dann gewährleistet werden, wenn die erforderlichen Informationen den jeweiligen Akteuren innerhalb des Netzwerks zur Verfügung stehen. Für den hier untersuchten Bereitstellungsprozess von Pflegeprodukten herrschte Einigkeit bei den befragten Experten, dass dies nicht über die gesamte Supply Chain sichergestellt werden kann. Erschwerend kommt hinzu, dass einzelne Teilprozesse sehr unterschiedlich verlaufen, so z. B. in Abhängigkeit des bereitzustellenden Pflegeproduktes für den Gebrauch oder Verbrauch, der jeweils beteiligten Krankenkasse, der rechtlichen Rahmenbedingungen des jeweiligen Bundeslandes oder der verschiedenen Pflegedienste. Hierdurch kommt es u. a. zu einem hohen bürokratischen Aufwand, zu Redundanzen bei der Abwicklung von Teilprozessen, Verzögerungen bei der Lieferung, hohen Materialbeständen innerhalb der Supply Chain und damit Beeinträchtigungen bei der Erbringung der Pflegeleistung. Mögliche Lösungsansätze: Der von den Experten als ineffizient charakterisierte Informationsfluss muss entlang der gesamten Supply Chain koordiniert und verbessert werden. Die informationstechnischen Möglichkeiten stehen zur Verfügung und müssen auf die besonderen Belange des Pflegemittelnetzwerkes angepasst werden. Ein zusätzlicher Ansatz ist die weitere Etablierung von sog. Pflegestützpunkten, die die Bedarfe und damit die Informationsflüsse koordinieren. Eine Optimierung besteht in der Entwicklung von Standardprozessen für bestimmte Gruppen von Pflegehilfsmitteln, so dass deren Abwicklung vereinfacht werden kann. Eingesparte Ressourcen in Form von Zeit und Geld könnten einer qualitativ verbesserten Pflege direkt zugutekommen. Darüber hinaus könnten die an der Bereitstellung von Pflegeprodukten beteiligten Prozessteilnehmer, wie z. B. Pflegemittelproduzenten und -händler aufgrund optimierter logistischer Prozessabläufe ihre Lagerhaltung und Warenanlieferung effizienter gestalten. Lieferdienste könnten ihre Touren besser planen, ihren CO 2 -Ausstoß verringern und eine kundenfreundlichere Warenanlieferung ermöglichen, so werden durch die Harmonisierung von Informationsflüssen u.a. Doppelfahrten vermieden. Zusammenfassung und weitere Forschungsaktivitäten Die Auswirkungen des Demographischen Wandels auf die Logistik sind bislang nur unzureichend untersucht. Im Rahmen dieses ersten Forschungsprojektes konnten die beiden Thesen „Zunahme und Individualisierung der Pflegehilfsmittel und Pflegeleistungen“ und „kein ausreichender Informationsfluss zwischen den Beteiligten“ herausgearbeitet werden. Auch konnten erste Lösungsansätze vorgestellt werden. Diese ersten Ergebnisse bilden die Basis für ein weiteres Forschungsprojekt. Das oben in einem ersten Überblick beschriebene komplexe Netzwerk steht im Fokus eines sich anschließenden Forschungsunterfangens. Es soll ganzheitlich mit sämtlichen in den Pflegeversorgungsprozess involvierten Akteuren analysiert und in Form einer netzplanorientierten Ablaufdarstellung visualisiert werden. Hierdurch sollen zunächst alle Personen und Institutionen aufgezeigt werden, die in die lange Kette der Pflegelogistik eingegliedert sind und jene maßgeblich beeinflussen. Es soll dargestellt werden, welcher Akteur zu welchem Zeitpunkt über welche Information verfügt und wie die einzelnen Akteure informationsbezogen miteinander in Kontakt stehen. Dies soll zunächst dazu dienen, den gesamten logistischen Informations- und Warenfluss beginnend beim Pflegemittelproduzenten bis hin zum Endkunden - der pflegebedürftigen Person- transparent zu gestalten. Eine Berücksichtigung moderner Informations- und Kommunikationsmittel (Clouds, mobile Endgeräte etc.) bei der Optimierung des bestehenden Netzwerkes findet statt. Ist diese Transparenz geschaffen, soll in einem weiteren Schritt eine umfassende Analyse der Kommunikations- und Informationsstruktur erfolgen. Das Ziel dieser Analyse liegt darin, Schwachstellen und Problemfelder innerhalb des Kommunikationsnetzwerkes zu eruieren und adäquate Optionen zur Verbesserung der Kommunikationsstruktur aufzuzeigen. Dies beinhaltet ebenso eine Untersuchung fehlender und unvollständiger respektive redundanter Informationswege. ■ LITERATuR [1] Bloom, D. E., Canning, D. (2004): Global demographic change (Dimensions and economic significance) [2] IHK - Deutscher Industrie- und Handelskammertag (2011): Demografischer Wandel und Gesundheitswirtschaft - Herausforderungen und Chancen [3] Linz, K., Stula, S. (2010): Demographic change in Europe - An overview; Institute for Social Work and Social Education (ISS) [4] Bräuninger, M. et.al: Gesundheitsentwicklung in Deutschland bis 2037 - Eine volkswirtschaftliche Kostensimulation, Hamburgisches WeltWirtschaftsInstitut (HWWI) | 2007, S.9 [5] Statistische Ämter des Bundes und der Länder (2010): Demographischer Wandel in Deutschland (Auswirkungen auf Krankenhausbehandlungen und Pflegebedürftige im Bund und in den Ländern), Statistisches Bundesamt (Wiesbaden) [6] Statistisches Bundesamt (2015): Pressemitteilung Nr. 094, https: / / www.destatis.de/ DE/ PresseService/ Presse/ Pressemitteilungen/ 2015/ 03/ PD15_094_224.html (12.03.2015) [7] Statista (2015): Entwicklung der Anzahl von Pflegebedürftigen in Deutschland nach Geschlecht in den Jahren von 2005 bis 2030 (in Mio.), http: / / de.statista.com/ statistik/ daten/ studie/ 157217/ umfrage/ prognose-zur-anzahl-der-pflegebeduerftigen-in-deutschlandbis-2030/ [8] Pflege-ABC: http: / / www.pflege-abc.info/ pflege-abc/ artikel/ pflegehilfsmittel.html (10.02.2016) [9] McKinsey (2012): Urban world; Cities and the rise of the consuming class [10] Deutsche Post AG (Hrsg.): delivering tomorrow, Zukunftstrend Nachhaltige Logistik, Bonn 2010 Susanne Koch, Prof. Dr. Studiendekanin, Frankfurt University of Applied Sciences Fachbereich 3: Wirtschaft und Recht, Frankfurt am Main sukoch@dek3.fh-frankfurt.de