eJournals Internationales Verkehrswesen 68/2

Internationales Verkehrswesen
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0020-9511
expert verlag Tübingen
10.24053/IV-2016-0040
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Zahlen, was man nutzt

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Knut Ringat
Als erster Verkehrsverbund Deutschlands testet der RMV ab April 2016 in einem großflächigen Pilotversuch über das gesamte RMV-Gebiet einen innovativen Relationstarif. 20 000 Testnutzer des neuen Tarifmodells RMVsmart zahlen dann nicht mehr den Tarif einer gesamten Flächenzone, sondern für die tatsächlich genutzte Verbindung. Verkauft wird das neue Tarifangebot beginnend über das Smartphone.
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Internationales Verkehrswesen (68) 2 | 2016 43 Zahlen, was man nutzt RMV pilotiert innovativen Relationstarif Rhein-Main-Verkehrsverbund, Tarifangebot, Mobilitätsverhalten, Smartphone Als erster Verkehrsverbund Deutschlands testet der RMV ab April 2016 in einem großflächigen Pilotversuch über das gesamte RMV-Gebiet einen innovativen Relationstarif. 20 000 Testnutzer des neuen Tarifmodells RMVsmart zahlen dann nicht mehr den Tarif einer gesamten Flächenzone, sondern für die tatsächlich genutzte Verbindung. Verkauft wird das neue Tarifangebot beginnend über das Smartphone. Autor: Knut Ringat I m vergangenen Sommer feierte der Rhein-Main-Verkehrsverbund (RMV) seinen zwanzigsten Geburtstag mit jährlich steigenden Fahrgastzahlen und Einnahmen. Der Gründungsgedanke „Ein Fahrplan, ein Fahrschein, ein Fahrpreis“ aus dem RMV-Start ist bis heute der Wesenskern des Verbundes, führt der RMV doch täglich 2,5 Mio. Fahrgäste in einer 14 000 km 2 großen Region zusammen, wie sie vielfältiger kaum sein könnte. So verbindet das Streckennetz des RMV die internationale Finanz-, Mobilitäts- und Logistikmetropole Frankfurt am Main mit den Landeshauptstädten Wiesbaden und Mainz sowie mit den polyzentrischen Mittelstädten wie Marburg, Gießen, Fulda oder Darmstadt und auch mit ländlichen Gegenden wie Odenwald, Vogelsberg oder Rhön. Um den unterschiedlichen Verkehrsbeziehungen gerecht zu werden, entschieden sich die Gründungsmitglieder des RMV im Jahr 1995 - in der Abbildung des vorhandenen Mobilitätsverhaltens richtig und wie damals bundesweit üblich - für großflächige Tarifzonen, die sich an den Stadt- und Kreisgrenzen orientieren. Seitdem hat sich das Mobilitätsverhalten der Menschen deutlich verändert. Der RMV ist Symbol und Synonym für die zusammengewachsene und prosperierende Metropolregion FrankfurtRheinMain. So nutzen die Fahrgäste den ÖPNV für längere Strecken und vielfältigere Mobilitätsbedürfnisse. Das veränderte Wegeverhalten korrespondiert mit der sich immer enger verzahnenden Region über die Stadt- und Kreisgrenzen hinweg. So sind Verbindungen zwischen unmittelbar benachbarten Städten und Stationen wie Offenbach Kaiserlei - Frankfurt-Mühlberg, Nieder- und Ober-Eschbach oder Unterliederbach und Liederbach Sinnbild für die Kritik an einem nicht mehr zeitgemäßen Tarifmodell mit Tarifsprüngen bei kurzen „grenzüberschreitenden“ Fahrten. Die Tarifsprünge offenbaren heute - nach 20jähriger Fortschreibung - Schwachpunkte der Flächenzonentarife - eine Herausforderung, vor der bundesweit nicht nur der RMV steht. Die Flächenzonen erlauben einerseits lange Fahrten innerhalb der großen Tarifzonen. Andererseits schlägt jedes Überqueren einer Tarifgrenze mit einem preislichen Sprung Foto: RMV/ Helmut Vogler Einzelfahrt Entfernung Status quo RMVsmart delta Frankfurt Hauptwache - Offenbach Marktplatz ca. 8 km 4,65 € 3,33 € -1,32 € Frankfurt Hauptwache - Frankfurt Enkheim ca. 9 km 2,80 € 3,65 € 0,85 € Frankfurt Hbf - Bf. Gießen ca. 60 km 15,25 € 10,52 € -4,73 € Darmstadt Hbf - Wiesbaden Hbf ca. 40 km 8,25 € 6,38 € -1,87 € Bf. Marburg - Bf. Gießen ca. 30 km 4,65 € 5,07 € 0,42 € Tabelle 1: Preisbeispiele Pilottest RMVsmart im Vergleich zum bisherigen RMV-Einzelkartenpreis 2016 Tarifstruktur MOBILITÄT Internationales Verkehrswesen (68) 2 | 2016 44 MOBILITÄT Tarifstruktur zu Buche. So kostet beispielsweise eine Einzelfahrt innerhalb Frankfurts 2,80 EUR und innerhalb Offenbachs 2,35 EUR. Bei Überschreiten der Tarifgrenze von Frankfurt am Main nach Offenbach fallen 4,65 EUR an. Erstens die Erwartung von Öffentlichkeit und Politik hinsichtlich einer Auflösung dieser Tarifsprünge sowie zweitens das sehr erfolgreiche RMV-HandyTicket führten zur Entwicklung der Idee (u. a. des Autoren) zum RMVsmart. Einen Vergleich der Preisgestaltung zwischen derzeitigem Flächenzonentarif und RMVsmart zeigt anhand von Relationsbeispielen Tabelle 1. Schritt für Schritt zur Tarifstrukturreform Um den RMV-Tarif weiterzuentwickeln, erfolgt seit fünf Jahren eine stufenweise Tarifstrukturreform. Die Weiterentwicklung des Tarifs wurde seit 2010 zunächst mit zielgruppenspezifischen Angeboten für Schüler, Auszubildende, Studierende und Senioren überarbeitet (Bild 1). Ab 2012 wurden die Preisstufen für unterschiedlich große Städte mit so genannten Stadtpreisstufen leistungsgerechter ausgestaltet. Nun geht es an die komplexeste Aufgabe: die Weiterentwicklung des Tarifs für den verbundweiten Gelegenheitsverkehr mit Einzel- und Tageskarten. Gleichzeitig werden bei einem stufenweisen Vorgehen die Risiken für die Fahrgeldeinnahmen beherrschbar gehalten und dadurch das Verkehrsangebot gesichert (Bild 2). Die Herausforderung dabei liegt nicht nur darin, dass selbst geringe prozentuale Veränderungen bei den Fahrkartenverkäufen sich sofort in einer nicht zu unterschätzenden Größenordnung auf die Einnahmen des Verbundes auswirken. Auch muss die mit der Größe des RMV einhergehende Vielzahl an Relationen von allen Verkaufsgeräten abgebildet werden können. Die Vertriebslandschaft im RMV ist äußerst heterogen: Neben modernen Fahrkartenautomaten und personenbedienten Vertriebsstellen werden gerade im ländlichen Raum Fahrkarten oft über Busdrucker verkauft - das Dilemma der Neuausrüstung einer Fahrzeugflotte mit adäquater Busdruckertechnik soll hier nicht weiter vertieft werden. Längst nicht alle Verkaufsgeräte sind in der Lage, den geplanten Regionaltarif abzubilden. Daher wird begonnen, das entwickelte Tarifmodell über das Smartphone zu erproben. Hier erlaubt die vorhandene Technik mit einem leistungsfähigen Hintergrundsystem, auch komplexe Strukturen zu hinterlegen und gleichzeitig den Kunden eine sehr einfache Bedienung zu gewährleisten. Leistungsgerechtes Tarifangebot Der RMV hat, zunächst begrenzt auf Einzelfahrkarten für Erwachsene, prototypisch einen entfernungsabhängigen Relationstarif entwickelt, der auf zurückgelegten Tarifkilometern und gewählten Verkehrsmitteln basiert - ein echter Paradigmenwechsel gegenüber dem Flächenzonentarif. Analog einer Fahrt mit dem Taxi oder beim Carsharing zahlt beim RMVsmart jeder Fahrgast nur das, was er tatsächlich nutzt. Die an der konkreten Entfernung gemessene Leistungsgerechtigkeit steigt. Das Tarifangebot setzt sich dabei aus wenigen, übersichtlichen Bausteinen zusam- Bild 1: Auf dem Weg zum neuen RMV-Tarif Bild 2: Umsetzungsstufen der Tarifstrukturreform in Orten 50.000 < 0,35 Euro/ Fahrt M in Städten 50.000 - 200.000 0,47 Euro/ Fahrt L in F / WI / MZ 0,67 Euro/ Fahrt XL Kernnetz InnErOrtS ÜbErland 0,218 Euro/ tarif-km regionalnetz 0,109 Euro/ tarif-km mit F / WI / MZ 2,35 Euro/ Fahrt ohne F / WI / MZ 1,13 Euro/ Fahrt XL+ M+ L+ Grundpreis 1,69 Euro/ Fahrt Bild 3: Statt Zielnummernverzeichnis, Zonenkarte und Preismatrix erklären sich die Preissegmente des RMVsmart übersichtlich in wenigen Bausteinen. Internationales Verkehrswesen (68) 2 | 2016 45 Tarifstruktur MOBILITÄT men (Bild 3). Für alle Bausteine gilt ein fester Grundpreis von 1,69 EUR pro Fahrt. Für Regionalzüge, S-Bahnen und U-Bahnen zahlen die Fahrgäste einen klar entfernungsabhängigen Preis: Im engmaschigen und dicht getakteten Kernnetz im Großraum Frankfurt 0,218 EUR je Kilometer, im übrigen RMV-Gebiet (Regionalnetz) 0,109 EUR je Kilometer. Für jede Relation, die Fahrgäste mit diesen Verkehrsmitteln zurücklegen, errechnet sich ein individueller Fahrpreis. Für Fahrten mit Bus oder Straßenbahn gibt es übersichtliche Pauschalpreise - je nach Größe der durchfahrenen Orte bzw. Städte. Die Frankfurter Innenstadtstationen zwischen Alter Oper und Ostendstraße, Hauptbahnhof und Südbahnhof sind tariflich gleichgestellt. Damit kostet eine Fahrt in die Innenstadt über verschiedene Wege gleich viel. Eine Fahrt innerhalb des Stadtzentrums kostet ähnlich viel wie das heutige Kurzstrecken-Ticket. Neue Preise, konstante Ergiebigkeit Die Ticketpreise des RMVsmart wurden sehr sorgfältig kalibriert: Sie bemessen sich an den bestehenden Fahrgeldeinnahmen, so dass die Fahrpreise im Vergleich zum bisherigen RMV-Tarif im Gelegenheitsverkehr durchschnittlich gleich bleiben; ebenso der Ertrag (Bild 4). Für den Fahrgast allerdings dienen Bausteine und Tarifräume als Hintergrundinformation. Bei Fahrscheinkauf und Verbindungswahl berechnet die dazugehörige Smartphone-App den jeweiligen individuellen Preis. Dafür wurde die erfolgreiche RMV-App, die bereits rund 1,5 Mio. Menschen herunter geladen haben und für täglich ca. 500 000 Auskünfte nutzen, weiterentwickelt (Bild 5). Smartphones eröffnen neue technische und tarifliche Perspektiven. Sie sind für Kunden ein komfortables Zugangsmedium und für Unternehmen ein inzwischen bewährter Vertriebskanal. Heute haben schon 63 % der Deutschen ein Smartphone (Bundesbürger ab 14 Jahren) - und jeder Dritte würde künftig gern Fahrkarten mit dem Handy zahlen, ermittelte 2015 der Branchenverband der Digitalindustrie Bitkom. Prototyp auf dem Prüfstand Um das neue Tarifangebot intensiv auf Akzeptanz, Funktionalität und Ergiebigkeit zu testen, wird RMVsmart über drei Jahre mit einer beschränkten Nutzerzahl erprobt. Dabei werden Veränderungen in Bezug auf das Fahrtverhalten und die damit verbundene Einnahmesituation beobachtet. Der RMV tut dies in diesem Umfang als erster Verkehrsverbund in Deutschland. Um die erforderlichen Testnutzer zu gewinnen, beginnt im Frühjahr 2016 eine Rekrutierungskampagne, in der 20 000 Fahrgäste- aus allen Teilen des RMV-Gebietes gesucht werden. So werden statistisch belastbare Aussagen für die Kreise und Städte und das Mobilitätsverhalten der Kunden möglich. Der Pilotversuch zu RMVsmart erlaubt es erstmals, innovative neue Rabatt- und Anreizsysteme im Verbundverkehr konkret durchzuspielen und deren Wirkung zu testen. Zum Start erhält jeder Nutzer ab 20- EUR Umsatz pro Kalendermonat 10 % Rabatt auf weitere Umsätze im betreffenden Monat. Diese Umsatzschwelle wurde aus den Erfahrungen des bisherigen Handy- Tickets abgeleitet. Für Vielfahrer sind zusätzliche Anreize geplant. Hier sind kilometrische, für eine mögliche Entwicklung vom Gelegenheitstarif hin zum Dauernutzer, denkbar. Damit eröffnet sich eine vollkommen neue „Tarifwelt“; vorausgesetzt die Fahrgäste nehmen das Angebot an. In diesem Zeitraum sollen weitere Rabatte und Anreize im Zuge des Feldversuchs erprobt und deren Wirkung getestet werden. Bei solch einer grundlegenden Innovation bindet der RMV diejenigen ein, für die der Tarif gemacht ist: Die Fahrgäste. Der Feldversuch wird von einem Innovationsdialog begleitet, bei dem Testnutzer, Experten, Verbands- und Politikvertreter den Prototarif auf den Prüfstand stellen - in Befragungen, Onlinedebatten und Diskussionsveranstaltungen. Schließlich bestehen unterschiedlichste tarifliche, politische, verkehrliche, unternehmerische und nutzungsbezogene Anforderungen an ein solches Tarifprodukt, die es auszutarieren gilt. So wird RMVsmart gemeinschaftlich zur Marktreife gebracht - und die Entscheidung über eine mögliche Einführung über weitere Vertriebswege vorbereitet. Versuch und Dialog liefern richtungsweisende Erkenntnisse für die Weiterentwicklung von Verbundtarifen. ■ Knut Ringat, Prof. Sprecher der Geschäftsführung und-Geschäftsführer der Rhein-Main-Verkehrsverbund GmbH, Hofheim/ Ts. k_ringat@rmv.de Bild 4: Arbeitspreise pro Kilometer im Vergleich Bild 5: Eine App berechnet den Fahrpreis entsprechend der eingegebenen Verbindung. Foto: RMV/ Jan Haas