eJournals Internationales Verkehrswesen 68/4

Internationales Verkehrswesen
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0020-9511
expert verlag Tübingen
10.24053/IV-2016-0078
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2016
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Chancen und Grenzen des Carsharings

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Andreas Kossak
Carsharing ist in jüngster Vergangenheit auch in der öffentlichen Berichterstattung zunehmend als wirkungsvolles Instrument der Reduzierung des PKW-Bestandes und damit auch des Parkraumbedarfs in den Städten in den Focus gerückt. Dadurch sollen Flächen frei gemacht werden, die dann für umweltverträgliche Mobilitätsformen und eine Verbesserung der Aufenthaltsqualität in urbanen Räumen nutzbar werden.
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POLITIK Shared Mobility Internationales Verkehrswesen (68) 4 | 2016 20 Chancen und Grenzen des-Carsharing Lenkungswirkung realistisch einordnen! Nahverkehr, Stadtverkehr, autonomes Fahren, Parkraum Carsharing ist in jüngster Vergangenheit auch in der öffentlichen Berichterstattung zunehmend als wirkungsvolles Instrument der Reduzierung des PKW-Bestandes und damit auch des Parkraumbedarfs in-den Städten in den Focus gerückt. Dadurch sollen Flächen frei gemacht werden, die dann für umweltverträgliche Mobilitätsformen und eine Verbesserung der Aufenthaltsqualität in urbanen Räumen nutzbar-werden. Autor: Andreas Kossak B efeuert wurde die Auseinandersetzung um Carsharing als Instrument zur Reduzierung des PKW-Bestandes aktuell durch den Start der Anhörungen am 25. August diesen Jahres zu einem Gesetzesvorhaben, mit dem das Bundesverkehrsministerium Carsharing-Anbieter durch die Zulassung von reservierten Parkplätzen und die Befreiung von Parkgebühren unterstützen will [1]. Tatsächlich klingen die von den Anbietern und Verfechtern genannten Erfolge und Potentiale beeindruckend: • „Jedes Carsharing-Fahrzeug ersetzt mindestens drei Privatautos“, sagt der Geschäftsführer von „Drive-Now“. „In München sind es durch Carsharing mindestens 1500 Autos weniger geworden. Das ist wissenschaftlich bewiesen. Damit wird Parkraum frei“ [2]. Tatsächlich ist der PKW-Bestand in München trotzdem allein im Jahr 2015 um rd. 12 300 PKW angewachsen [3]. Das bedeutet: Es ist nicht etwa Parkraum frei geworden, sondern der weiterhin starke Anstieg des Bestands ist lediglich geringfügig gemindert worden. • In Bremen „schafft ein Carsharing-Fahrzeug nach Kundenbefragungen zur Zeit durchschnittlich 15 private PKW ab. Durch noch mehr Kurzzeitmietautos will Verkehrsenator Joachim Lohse in der Hansestadt bis zum Jahr 2020 sechstausend private PKW von der Straße holen“ [1]. Allerdings sind sowohl PKW-Bestand, als auch Motorisierungsgrad in der Stadt Bremen in den vergangenen Jahren dennoch stetig angestiegen [4] (Bild 1). • Laut Bundesverband Carsharing sollen Untersuchungen in zwölf Großstädten ergeben haben, dass „ein Carsharing- Fahrzeug zwischen acht und 20 private PKW ersetzt …und so umgerechnet bis zu 99 Meter zugeparkte Straßenkante (freimacht) - viel Potential, um Städte lebenswerter zu gestalten“ [5]. PKW im Privatbesitz und ÖPNV schon bald Vergangenheit? „Zukunfts- und Mobilitätsforscher“ sowie Interessenvertreter propagieren die Überzeugung, dass der „PKW im Privat-Besitz“ schon bald Vergangenheit sein wird. Die Zukunft gehört danach dem Carsharing - zunächst auf der Basis konventioneller, schon in wenigen Jahren auf der Basis autonomer Autos; dadurch soll die Anzahl der PKW in den Städten auf 10 % (oder noch weniger) reduziert werden. Aus dem Lager der unabhängigen qualifizierten Fachleute wird die Vorstellung von einem maßgeblich den Foto: Pixabay POLITIK Shared Mobility Internationales Verkehrswesen (68) 4 | 2016 21 Shared Mobility POLITIK Stadtverkehr verändernden Carsharing überwiegend nicht geteilt [6]. Treiber und Hauptakteur des Carsharing sind Automobil-Hersteller. Sie benutzen es unter anderem zum Testen des Potentials telematischer Bord-Systeme und zur Präsentation ihrer Modelle [7]. Es widerspricht jeglicher Logik, dass sie sich durch Beteiligung an diesem Markt selbst das Wasser abgraben wollen. Nicht zuletzt aufgrund dessen ist ein „Hochrechnen“ der aktuellen Relationen von im Privatbesitz verbliebenen PKW zu Carsharing-Fahrzeugen aus den Befragungen von Carsharing-Teilnehmern nicht annähernd realistisch. Bei der überwiegenden Mehrheit der derzeitigen Teilnehmer handelt es sich um eine carsharing-affine Klientel. Zu den Unterstützern bzw. Treibern von Carsharing gehören in der Bundesrepublik die Deutsche Bahn und Nahverkehrsunternehmen in Großstädten. Der Hamburger Verkehrsverbund und die Hamburger Hochbahn AG gehören zu den Spitzenreitern. Im Rahmen ihres Projekts „Switchh“ werden in zunehmender Anzahl an Knotenpunkten des Stadtschnellbahnnetzes neben dem traditionellen Park+Ride und Bike+Ride auch Carsharing- und Bikesharing-Angebote installiert [8]. Allerdings äußerte der Vertreter der Hamburger Hochbahn AG im Rahmen der „Digitalkonferenz solutions.hamburg“ im September dieses Jahres bemerkenswerter Weise die Überzeugung, Carsharing sei „nur ein Übergangsmodell hin zum autonomen Fahren“; in diesem Zusammenhang müssten die ÖPNV-Unternehmen sich die Frage stellen, was zu tun sei, um künftig überhaupt noch relevant zu sein [9]. Carsharing und Autonomes Fahren Die Position des betreffenden HHA-Vertreters ist typisch für die derzeit weit verbreitete Unsicherheit in der deutschen Nahverkehrswirtschaft hinsichtlich der Konsequenzen aus der viel beschworenen Mobilitäts-Revolution durch die angeblich bereits kurzfristig zu erwartende Umstellung des Automobilverkehrs auf autonomes Fahren. Abgesehen davon ist die Formulierung, dass Carsharing lediglich ein „Übergangsmodell hin zum autonomen Fahren“ sein wird, vor allem insofern verwunderlich, als gerade das autonome Fahren von den Verfechtern als Haupttreiber einer Perspektive des mehr oder minder umfassenden Carsharing gesehen wird. Tatsächlich propagieren die Verfechter solcher Szenarien, dass schon in wenigen Jahren weder Fahrzeugbesitz noch Führerschein für die Nutzung der Autos notwendig sein wird, um jederzeit jeden Mobilitätswunsch überall sogar noch besser erfüllen zu können, als das heute der Fall ist. Öffentlicher Personennahverkehr kommt darin gar nicht mehr vor. Das steht allerdings im Widerspruch zu den Positionen praktisch aller qualifizierten unabhängigen (also nicht von Vermarktungsinteressen geleiteten) Fachleute und Fachinstitute - nicht zuletzt in den USA [6]. Danach wird autonomes Fahren in urbanen Räumen auf absehbare Zeit höchstens in Sonderzonen in Frage kommen. Der aktuelle Hype hinsichtlich des autonomen Fahrens von Autos auch in urbanen Räumen schon in naher Zukunft ist nicht vereinbar mit zahlreichen harten Fakten. Dazu gehören vor allem [7]: • die grundsätzlich nur partiell digital abzubildende Komplexität der Bedingungen der städtischen Verkehrswirklichkeit, • die Fehleranfälligkeit der involvierten Hochtechnologie, VERBINDUNGEN SCHAFFEN - MOBILITÄT SICHERN Verkehr Schiene Straße Flughafen Verkehrstechnik Bahntechnische Ausrüstung Ingenieurbauwerke Tunnel Hochbau Industriebauten Stadtraum und Flächen Wasser und Umwelt Ingenieurbüro Dipl.-Ing. H. Vössing GmbH 14 Standorte in Deutschland sowie Standorte in China, Katar, Österreich, Polen und Slowenien www.voessing.de INGENIEURBÜRO VÖSSING BERATUNG | PROJEKTMANAGEMENT | PLANUNG | BAUÜBERWACHUNG Unsere Kompetenz- und Geschäftsfelder: E ntwic klung des P kw-B es tandes -2,00 0,00 2,00 4,00 6,00 8,00 10,00 2009 2010 2011 2012 2013 2014 2015 J ahr V eränderung gegenüber J ahres ende 2009 Hamburg Bremen Berlin Bild 1: Entwicklung des PKW-Bestandes in ausgewählten Großstädten seit 2009 in Prozent Quelle Statistische Ämter, Kraftfahrt- Bundesamt; eigene Darstellung POLITIK Shared Mobility Internationales Verkehrswesen (68) 4 | 2016 22 • faktisch unlösbare ethische Probleme, • höchst komplizierte juristische und regulatorische Fragen, • vielfältige Erfordernisse der Normierung, Standardisierung und Interoperabilität auf nationaler und internationaler Ebene, • hohe Anfälligkeit gegen Hacking und Cyberkriminalität. In Deutschland fabulieren „Zukunftsforscher“ gleichwohl nach wie vor darüber, dass der klassische ÖPNV in der durch autonome Autos geprägten Zukunft tatsächlich keine Rolle mehr spielen wird oder könnte. International führende Fachleute haben auch diese Frage längst gegenteilig beantwortet. Sie stand unter anderem auf der Tagesordnung der Jahrestagung 2014 des „Transportation Research Board“ (TRB) der „Nationalen Akademien der Wissenschaften“ der USA in Washington D.C.; das ist die mit Abstand größte internationale Konferenz von Verkehrswissenschaftlern. Dabei haben sogar die Enthusiasten den autonomen Autos maximal eine Ergänzung des klassischen ÖPNV im Sinne komplementärer Angebote in Korridoren sowie in Gebieten und/ oder zu Zeiten mit geringer Nachfrage eingeräumt - als moderne Variante des „Paratransit“, der so genannten „flexiblen Betriebsformen“ [7]. Shared Mobility und die Wandlung des ÖPNV Prinzipiell ist Carsharing eine von mehreren Formen der „Shared Mobility“. Deren Keimzelle und Hauptträger ist der öffentliche Personenverkehr. Carsharing kann tatsächlich eine durchaus bedeutsame Komponente der viel beschworenen Mobilitätsrevolution sein - sowohl in der „klassischen“ Spielart als auch in Form der sich gegenwärtig dynamisch ausweitenden Mitfahrdienste wie Uber und Lyft (Ridesoucing). Shared Mobility wird ihr Verkehrslenkungs- und Stadtgestaltungs-Potential aber nur dann voll entfalten können, wenn die Auseinandersetzung damit und die Implementierung in Form einer integrierten Optimierung erfolgt. Die umfangreichste und fundierteste Behandlung dieses Ansatzes wird derzeit im Rahmen des „Kooperativen Nahverkehrsforschungsprogramms“ des TRB erarbeitet [10]. Die betreffende Forschung erfolgt unter Beteiligung der Metropolen Austin, Boston, Chicago, Los Angeles, San Francisco, Seattle und Washington D.C. Die bisher vorliegenden Ergebnisse und die Schlussfolgerungen daraus wurden im März 2016 von der „American Public Transit Association“ (APTA) unter dem Titel „Shared Mobility and the Transformation of Public Transit“ veröffentlicht. Die APTA ist das US-amerikanische Pendant zum „Verband Deutscher Verkehrsunternehmen“ (VDV). Trotz struktureller und mobilitätsspezifischer Unterschiede sind die Ergebnisse der Forschungen in vieler Hinsicht sehr wohl auf Europäische/ Deutsche Metropolen übertragbar. Das ist nicht zuletzt in der nach wie vor stärkeren Affinität der US- Amerikaner zum Automobil begründet; das dortige Maß der Offenheit für Shared Modes ist somit ein interessantes Signal. Es betrifft aber auch den Tatbestand der beträchtlichen „Europäisierung“ des ÖPNV in US-Metropolen während der letzten Jahrzehnte. Dazu kommt die bereits lange Geschichte des „Paratransit“ in den USA. Paratransit ist eine substantielle Komponente der Shared Mobility, die vor dem Hintergrund des demographischen Wandels und der fortschreitenden Urbanisierung auch in deutschen Metropolen künftig noch erheblich an Bedeutung gewinnen wird. Die Schlüssel-Zwischenergebnisse der Studie wurden in 4 Thesen zusammengefasst: These 1: Je mehr Menschen Shared Modes nutzen, desto größer ist die Wahrscheinlichkeit, dass sie auch den ÖPNV benutzen, weniger PKW besitzen und insgesamt weniger Geld für Mobilität ausgeben. „Supersharer“ - also Leute, die routinemäßig mehrere verschiedene Formen der Shared Modes nutzen, wie Bikesharing, Carsharing oder Ridesourcing - sparen das meiste Geld und besitzen durchschnittlich halb so viele PKW je Haushalt, wie diejenigen, die (außer dem eigenen PKW) nur den ÖPNV nutzen. These 2: Shared Modes ergänzen den ÖPNV und verbessern die städtische Mobilität. Ad-hoc Mitfahrgelegenheiten werden am häufigsten für Wege mit sozialen Zwecken genutzt, zu Zeiten, in denen der ÖPNV weniger häufig oder gar nicht verfügbar ist. Shared Modes ersetzen eher PKW-Fahrten als Fahrten mit dem ÖPNV. These 3: Shared Modes werden weiter signifikant zunehmen. ÖPNV- Unternehmen sollten deshalb alle Möglichkeiten prüfen, sich darin zu engagieren und auf diese Weise sicher zu stellen, dass die implizierten Nutzen umfassend und gerecht geteilt werden. ÖPNV-Unternehmen sollten durch Zusammenarbeit mit anderen Anbietern und im Rahmen von öffentlichprivaten Partnerschaften die urbane Mobilität für alle Nutzer verbessern, einschließlich einer besseren Integration der Angebote, der Informationen und der Zahlungsmethoden (e-Ticketing! ). These 4: Sowohl der öffentliche Sektor als auch die privaten Betreiber sind an einer Kooperation bei der Verbesserung der Paratransit- Dienste unter Nutzung neuer Ansätze und Technologien interessiert. Während eine Reihe regulatorischer und institutioneller Hürden Partnerschaften auf diesem Gebiet noch erschweren, können Technologien und Geschäftsmodelle der Shared Mobility-Industrie dazu beitragen, die Kosten zu senken, die Verfügbarkeit der Dienste und damit auch die Kundenzufriedenheit zu erhöhen. Schlussfolgerung Shared Mobility kann ein wirkungsvolles Instrument der künftigen Gestaltung der urbanen Mobilität und der urbanen Lebensräume sein. Der Komplex wird sein Potential allerdings nur dann voll zur Entfaltung bringen können, wenn er im Rahmen einer an klaren Zielen verankerten integrierten Stadt- und Verkehrsplanung sowie Komponenten-übergreifend (ÖPNV, Paratransit, Carsharing, Bikesharing, Carsourcing, Carpooling…) koordiniert gehandhabt wird. Das „Carsharing“ kann darin eine substantielle Rolle spielen - vorausgesetzt die Implementierung erfolgt unter realistischer Einordnung seiner Grenzen und nicht zuletzt auch der Perspektiven des autonomen Fahrens in Städten. ■ LITERATUR [1] Doll, N.: Verkehrsministerium greift Carsharing- Anbietern unter die Arme; Die Welt, 26.08.2016 [2] Wenzel, F.-T.: Durch Carsharing wird Parkraum frei; Frankfurter Rundschau, 29.05.2016 [3] Landeshauptstadt München: Amt für Statistik [4] Stadt Bremen: Amt für Statistik [5] Bundesverband Carsharing: bcs-Studie Mehr Platz zum Leben - wie Carsharing Städte entlastet; Pressemitteilung vom 21.06.2016 [6] Kossak, A.: Werden autonome Autos die städtischen Bahnsysteme überflüssig machen? ETR 5/ 2016 [7] Hamilton, J.: In search of the unicorn; Thinking Highways, August 2016 [8] Hamburger Verkehrsverbund HVV: Pilotprojekt „switchh“ verbindet Carsharing und ÖPNV; Mitteilung, Hamburg 17.04.2016 [9] O.V.: “Carsharing ist nur ein Übergangsmodell“; die Welt 8.09.2016 [10] APTA (Hrsg.): Shared Mobility and the Transformation of Public Transit; Research Analysis, März 2016 Andreas Kossak, Dr.-Ing. Kossak Forschung & Beratung, Hamburg drkossak@aol.com